Tattoos, Narben, Implantate – und dann auch noch Pornos. Im «Psyland 25» im Hegau soll alles möglich sein, auch die Ablösung davon, was als normal gilt. Wie weit kann Körperkult gehen?
Und dann hängt da plötzlich ein Mensch an Fleischerhaken in der Luft und lacht. Die Haut an seinem Rücken dehnt sich da, wo die Haken fixiert sind, die Arme und Beine schwingen frei, während im Himmel der Parasailing-Fallschirm gefährlich flattert. Im Hintergrund glitzert die thailändische See in der Sonne.
Der Mensch an den Haken heisst Lily Lu, und Lily Lu sucht das Extreme, wo sie kann: Schmerz, Gefahr, Selbstzerstörung. Es gibt im Netz andere Videos, in denen sie sich die Augäpfel tätowiert, in denen sie jeden Tag einen Marathon rennt und dabei «den Verstand verliert», in denen sie neun Tage lang nichts isst oder sich ohne irgendwelchen Schutz selbst beerdigt. Es gibt Bilder, die zeigen, wie sie sich Teile ihrer Ringfinger amputiert, wie sie sich die Nippel abschneidet und Symbole in die Haut schnitzt. Und sie hat sich – zwölf Autominuten von Merishausen entfernt – ein Universum geschaffen, in dem sie mit Gleichgesinnten Kunst und Subkultur macht. «Psyland 25» heisst das Projekt, das ultimativen Körperkult und Grenzerfahrung verspricht.
Das wollen wir sehen. Und Antworten finden. Warum diese Abgrenzung von «der Gesellschaft»? Ist das politisch? Gibt es noch Grenzen und Tabus, wo liegen in alldem Humor und Selbstironie, und wieso in Teufels Namen tun sich Menschen solchen Schmerz an?
Das DIY-Paradies
Unter all den ehrwürdigen Häuschen in Tengen mit ihren gepflegten, eingezäunten Vorgärtchen, den Solarpanels und Parkplätzen hebt sich ein altes Bauernhaus ab. «Life is Love» steht darauf – Leben ist Liebe. Selbst das Haus von «Psyland 25» ist tätowiert.
Als die AZ das alternative Universum betritt, ist gerade Bauzeit. Lily Lu fräst mit einem Fadenmäher durch die Wildblumen hinter dem Bauernhaus. Über den Bach, der durch das Landstück hinter dem Haus fliesst, soll eine Brücke entstehen, erklärt sie. Eine Wand des Grabens hat sie mit umgekehrten Grabsteinen ausgeschmückt. «Damit würde ich gern noch mehr ausprobieren», erzählt Lily Lu, «aber Grabsteine findet man halt nicht überall».
Die Rituale haben ihre Spuren an Lily Lu hinterlassen. Ihr Körper ist komplett – wirklich komplett – tätowiert. Die vielen übereinanderliegenden Schichten schwärzen ihre Haut fast vollständig, ausser da, wo sie sich Symbole in die Haut geschnitten hat oder Piercings fixiert sind. Das Weiss ihrer Augäpfel ist schwarz tätowiert, die Zähne bestehen aus schwarzer Keramik, zwischen den schulterlangen, pinken Haarzöpfchen und Dread Locks schaut das hervor, was einmal ihre Ohren waren. Dass sie auf alldem auch eine silberne Brille trägt, fällt kaum noch auf.
Nebst Lily Lu wohnen im Psyland zwar noch sieben weitere Menschen. Aber der Grossteil dessen, was in der Bubble passiert, dreht sich um ihren Kopf. Lily Lu ist die Schöpferin des Psyland. Mit 18 fing sie, die in Radolfzell aufgewachsen ist, an, für ihre Vision Geld zu sparen. Das Ersparte ging vor elf Jahren in das baufällige Bauernhaus in Tengen samt grosszügigem Umland. Ins aufgrund eines Rohrbruchs unbewohnbare Haus stellte Lily Lu ein Zelt, und sie begann zu bauen: eine Trampolinlandschaft, eine Skatebowl, eine Küche, Badezimmer, Schlafzimmer, später kam das Haus daneben ebenfalls in ihren Besitz. Auf dem Areal sind verschiedene Camper zu mehr oder weniger fixen Wohnzimmern umgebaut, es gibt zusätzliche Gästezimmer mit verschiedenen Mottos («Diamant» und «Birdnest» zum Beispiel befinden sich in der Scheune), und auf einem stolzen Baum soll dereinst ein Baumhaus entstehen.
Architektur ist für Lily Lu ein Kunstmedium. Die Wände sind schräg, Ecken selten rechtwinklig, Fenster und Türen hängen schief und auf unpraktischen Höhen, sodass man die Gästezimmer vor allem kraxelnd betreten muss. Um Komfort geht es im Psyland nicht. «Leute, die hier herkommen, lassen ihren Schmerz hier», sagt Lily Lu.
Schmerz ist das erste Standbein von «Psyland 25». Nachdem Lily Lu das Haus gekauft hatte, baute sie mit Freunden innert Wochen ein 120 Quadratmeter grosses Tattoostudio. Und dieses sollte schon bald über die Szene hinaus zu reden geben.
Denn Little Swastika – unter diesem Namen tätowierte Lily Lu damals – begründete mit einer eigentümlichen Kombination aus Blackwork, ganzflächiger Schwärze also, aus tibetischen Mustern und groben Kritzeln eine neue Stilrichtung. Und sie tätowierte damit nicht nur einzelne Körper, sondern auch mal mehrere Körper zusammen. Mit «The Third Dimension» schuf sie das grösste Tattoo der Welt: ein einzelnes Motiv auf zehn Rücken verteilt, gestochen 2014 innert 33 Stunden und zusammen mit drei Helfern. Einmal tätowierte sie das Wort «Love» auf vier Rücken, ein anderes Mal eine Swastika auf die Rücken vierer Freunde.
Das Symbol ist heute unzertrennlich mit der Barbarei des Nationalsozialismus verbunden. Doch davon will Lily Lu nichts wissen. Wie sie auf ihrer Webseite schreibt, benutzt sie das Symbol ausschliesslich in der buddhistischen Tradition, als Symbol des Buddha und des Glücks – auch wenn sie heute Nihilistin und Atheistin ist. Mit «horrible nazi stuff» will sie nichts zu tun haben.
Heute tätowiert Lily Lu nicht mehr. «Ich wollte am Peak meines kreativen Schaffens aufhören, ich hatte Angst, mich sonst zu wiederholen», erklärt sie. Ob es wirklich das war oder einfach die Lust auf etwas Neues: Heute hat sie ein neues Kunstmedium. Nämlich den Film. Und hier kommt Annette Reuner ins Spiel.
Sozialarbeiterin der Mittelschicht
Annette Reuner – lila-silberne Dread Locks, lila Augäpfel, farblich passende Plugs in Kinn und über der Lippe, gespaltene grüne Zunge, Implantate in der Stirn und auf Brustbeinhöhe – stellt sich lieber mit ihrem Künstlerinnennamen vor. «Ich bin Anuskatzz.» Anuskatzz stiess vor neun Jahren zum Psyland, nachdem Lily Lu und sie über Facebook in Kontakt miteinander kamen. Ihr heutiges Ganzkörpertattoo, in schwarzen und türkisfarbenen Linien und Flächen gehalten, ist natürlich von Lu. Ihr Name verrät, was für «Social-Media-Sachen» Anuskatzz genau macht: In der Scheune entstehen Pornos. In diesen nimmt sie, ihren Namen mit Stolz tragend, auch mal ganze Fäuste anal in sich auf, manchmal auch die riesigen Tentakeldildos, die im Studio auf Regalen nebeneinander stehen. Ihre Gespielinnen heissen mal Wildwuxx oder Ceci Milymouzz, mal spielt Lily Lu selbst in den Filmen mit. Sie drehe nur mit Menschen, die sie mag, betont Anuskatzz, und aus Lust und Freude an der Sache.
Reuner führt ins Studio und macht zackig das Bett, als es um Fotos für die Zeitung geht. Ihr wichtigster Arbeitsort ist unaufgeräumt, die Drehtage sind den aktuellen Bautätigkeiten im Psyland gewichen. Um das Bett und die Couch sind Scheinwerfer verteilt, an den Wänden hängen Peitschen und Gerten.
In ihrem Leben vor Psyland sei sie Sozialarbeiterin gewesen, erzählt Reuner. «Eigentlich bin ich das heute noch. Ich bin Sozialarbeiterin für die Mittelschicht.» Vor der Kamera zu sein und mit der Vorstellungskraft ihres Publikums zu spielen, gehöre zu ihren sexuellen Vorlieben. BDSM (kurz für Bondage, Discipline, Dominance/Submission, Sadism/Masochism) sei für sie nicht nur Leidenschaft, sondern eben: Sozialarbeit. Sexualität als eine Art Heilmethode, um wieder Energie fürs Leben zu tanken.
Nebst den Tattoos ist der «Social-Media-Content» Haupteinnahmequelle für «Psyland 25». Anuskatzz spielt in Pornos, arbeitet aber auch als Dominatrix und als Model. An der Produktion ihrer Bilder und Videos ist ein ganzes Team beteiligt. «Ich konzentriere mich aktuell besonders auf OnlyFans», erklärt sie, eine Online-Plattform also, auf der sie ihr gesamtes Material hinter einer Paywall halten kann. Aktuell kosten drei Monate 12 Dollar, ein Jahr 40 Dollar. Über 44 000 Likes hat das Premium-Profil derzeit. «Alles, was wir einnehmen, investieren wir in weitere Projekte», versichert Reuner.
Lily Lu zeigt sich dagegen primär auf Youtube. Dort führt sie unter anderem einen Tattoostudio-Videoblog, zeigt Challenges, ihr Vanlife und persönliche Rituale, oder sie zeigt eben, wie sie sich in Thailand an Fleischerhaken zum Parasailing aufmacht. Eine Influencerin der Extreme – alles mit einem «hint of philosophy», wie sie sagt.
Was ist sie denn nun, die Philosophie hinter «Psyland 25»?
«Geil, Grenzen zu überschreiten»
Eins stellt Lily Lu klar, als wir uns auf der Terrasse hinsetzen, sie mit weit ausgestreckten Beinen, Annette Reuner mit einer Katze auf dem Schoss. Ein politisches Projekt ist Psyland nicht. «Die Gesellschaft draussen interessiert uns nicht. Mir ist egal, wie die Leute uns sehen. Wir haben uns hier einfach eine Bubble geschaffen, so weit abseits, wie es nur ging. Und in dieser Bubble fühlen wir uns wohl.» Mit 18 habe Lu einige Tage gehabt, an denen sie «ihr Bewusstsein gefunden» habe, führt sie weiter aus, und da habe sie sich gefragt, wie sie glücklich werden kann.
Darauf entsagte Lu allen Drogen. Zigaretten, Alkohol, Cannabis, das hat im Psyland nichts verloren. Für sie seien Drogen nichts mehr als ein Überdruckventil, erklärt sie. «Leute sehen Freiheit darin, sich am Wochenende zu betrinken und zu eskalieren, nur um am Montagmorgen dann wieder stempeln zu gehen. Das ist doch keine Freiheit, oder?» Ihre Freiheit finden Lily Lu und Annette Reuner in der Grenzerfahrung, in der Ablösung von dem, was als normal gilt. Grenzen und Tabus gibt es für sie nur, damit sie überschritten werden können. «Wenn du zwei Haken in der Haut hast, glaubst du bis zum letzten Moment nicht, dass dein Körper es schafft, an diesen Haken in der Luft zu hängen. Und dann hebst du trotzdem die Füsse, und es geht. Dieser Moment macht dich stärker. Und wenn du ein Ganzkörpertattoo hast und siehst, wie viel dein Körper schon geschafft hat, kommt da schon sehr viel Stärke zusammen. Ich finde es einfach geil, solche Grenzen zu überschreiten. Was andere Menschen tun, ist mir egal.»
Interessanterweise schlägt die alternative Haltung, die Hingabe zum Extremen, die «Psyland 25» so offen demonstriert, da und dort in Biederkeit um. Der frisch gemähte Rasen auf dem ganzen Gelände, das zackig hergerichtete Bett, oder etwa die Tatsache, dass Lu und Reuner in elektronische Währungen investieren wollen, um sich mehr Land leisten zu können. Darauf angesprochen, lacht Lily Lu. «Natürlich sind wir Spiesser!», ruft sie aus. «Wir haben ein Haus, wir sind verheiratet, ich mäh schön meinen Rasen und habe ein Kind. Ich verstehe mich mit allen Nachbarn. Wir bräuchten eigentlich eine gemeinsame WhatsApp-Gruppe der ‹Crazy Cat Ladies Tengen›.» Um die absolute Konsequenz einer Anti-Haltung geht es im Psyland also nicht – sondern darum, einen Wohlfühl- und Kunstort zu schaffen.
Und ein Produkt, von dem man leben kann.
Normale Zwänge
Allem Kult und Rituellen, allem Entsagen der Normalität zum Trotz gehört zum modernen Influencerinnen-Dasein immer auch eine Vermarktungsstrategie. «Psyland 25» ist geradeso ein Produkt wie eine Vision. Die Körpermodifikationen und Tattoos – und die Miete der anwesenden Tattoo Artists – sind das eine. Dazu kommt ein Shop auf der Website, wo es Kleidung und Schmuck, Bücher, Puzzles, Stickers («Sanity is stupid»), DVDs, qualitativ hochwertige Prints von Anuskatzz und Lily Lu, Jahreskalender, Autogrammkarten, Skulpturen und Skateboards zu kaufen gibt.
Von dieser Realität eingeholt, dass die Ablösung von der Normalität mit den Zwängen derselben einhergeht, dass gelebter Hyperindividualismus zu Klicks, Likes und Fame führt und damit weg von Systemkritik, verlassen wir den Tengener Alternativbetrieb.
Und fragen uns, ob man wirklich noch am Rand der Gesellschaft ist, wenn man damit Geld verdienen kann.