Schlupfloch

15. August 2024, Simon Muster
Bildmontage: Robin Kohler

Ein Konzern zieht nach Schaffhausen – und erhält dafür vom Kanton ein millionenschweres Steuergeschenk.

Über die Gräben in der Schaffhauser Politlandschaft existiert eine Brücke, die aus einer geteilten Überzeugung gezimmert ist: die Unternehmen richtens. Nach klammen Jahren ermöglichen «Überschüsse aus hohen Unternehmenssteuererträgen», die grossen Herausforderungen der Zukunft in Angriff zu nehmen, schreibt Peter Neukomm in seinen Wahlunterlagen; «dank höheren Unternehmenssteuererträgen» habe man endlich wieder finanziellen Handlungsspielraum, liest man fast identisch bei Daniel Preisig; die «nachhaltige Finanz-und Steuerpolitik» des Kantons habe zu einer «massiven Stärkung des Lebens- und Wirtschaftsstandorts Schaffhausen» geführt, freut sich Dino Tamagni auf seiner Homepage.

Die Einigkeit kommt nicht von ungefähr, der Punkt lässt sich schlecht wegdiskutieren. In den vergangenen elf Jahren haben sich die Unternehmenssteuereinnahmen auf 113 Millionen Franken verdreifacht. Millionen für Steuersenkungen, für ein neues Hallenbad und Polizei- und Justizzentrum, ein aufgewertetes Lindli. 

Diese Geldschwemme hat einen Preis. Einen moralischen, aber auch einen finanziellen. Im Normalfall lassen sich beide schlecht beziffern. Aber nun gibt der Jahresbericht eines neuangesiedelten Konzerns erstmals Einblick, wie gross die Steuergeschenke sind, die der Kanton schnürt. Es geht um Milliarden. Das Beispiel zeigt auch, wie Konzerne trotz der OECD-Mindeststeuer immer noch von Steuerschlupflöchern profitieren können. 

Kurze Wege in die Steuerferien

Der internationale Steuerwettbewerb ist hart umkämpft, ein Konzern kommt nicht von alleine ins beschauliche Schaffhausen. Neben den Steuersätzen, für die die Politik zuständig ist, soll vor allem die Wirtschaftsförderung dafür sorgen, dass sich Grosskonzerne nicht in Delaware oder Dublin, sondern am Rhein niederlassen. Auf ihrer Website wirbt die Wirtschaftsförderung damit, dass in Schaffhausen «die Wege zu Wirtschaft, Forschung und Entscheidungsträgern» kurz seien. Zudem gehört es zur Strategie und zur Aufgabe der Wirtschaftsförderung, bei den grossen Beratungsfirmen möglichst weit vorne im Adressbuch zu stehen. 

Der Kanton Schaffhausen kann einzelne Unternehmen unter gewissen Bedingungen mit Subventionen unterstützen; für diese sogenannten einzelbetrieblichen Förderbeiträge steht für den Zeitraum zwischen 2020 bis 2029 ein Kredit von 20 Millionen zur Verfügung. Gemäss Zahlen der Wirtschaftsförderung aus dem Frühling profitieren aktuell 14 Unternehmen von solchen Förderbeiträgen.

Doch ausgerechnet das wirksamste In­strument im internationalen Steuerwettbewerb hat kein Kostendach. Wie oft es zur Anwendung kommt, wird nicht öffentlich kommuniziert. Nicht einmal die mächtige GPK wird informiert. Der Kanton kann Unternehmen Steuererleichterungen gewähren, ihnen also Kantonssteuern erlassen. Während zehn Jahren können einem Konzern bis zu 100 Prozent der Gewinnsteuern auf Kantonsebene geschenkt werden. Dafür muss die neu in Schaffhausen gegründete Firma volkswirtschaftlich relevant sein und etwa beweisen, dass durch die Ansiedelung Arbeitsplätze geschaffen werden. Die genauen Bedingungen werden in einer Leistungsvereinbarung festgehalten. Ist sie unterzeichnet, erhält der Konzern etwas, das in der Fachwelt poetisch als «tax holiday» bezeichnet wird – Ferien von den Steuern. 

330 Millionen gute Gründe

Genau solche Ferien hat der Kanton dem irisch-US-amerikanischen Unternehmen Aptiv Inc., einem der grössten Zulieferer zur Autoindustrie, geschenkt. Der Konzern ist einer der grössten Zulieferer der Autoindustrie, 2023 setzte er 20,1 Milliarden um. Im selben Jahr eröffnete er je eine Aktien- und eine Holdinggesellschaft in Schaffhausen. Es sind Aptivs einzige Tochtergesellschaften in der Schweiz. In seinem Jahresbericht 2023 verkündete das Unternehmen seinen Investorinnen und Investoren dann: «Der Schweizer Tochtergesellschaft des Unternehmens wurde eine zehnjährige Steuererleichterung gewährt, die im Jahr 2024 beginnt.» Und er verrät auch gleich, wie viel das Schaffhauser Steuergeschenk schätzungsweise wert ist: 330 Millionen Dollar. Das ist fast drei Mal so viel wie die gesamten Unternehmenssteuern, die der Kanton 2023 eingenommen hat. 

Und wozu hat sich der Konzern im Gegenzug verpflichtet? Das hat die AZ die kantonale Steuerverwaltung gefragt. Doch dort gibt man sich zugeknöpft. Departementssekretär Daniel Sattler sagt, er könne zu einzelnen Unternehmen keine Auskunft geben. Fragen von allgemeiner Natur, etwa wie viele Leistungsvereinbarungen für Steuererleichterungen der Kanton mit Unternehmen abgeschlossen hat, lässt er unbeantwortet, ebenso wie Wirtschaftsförderer Christoph Schärrer. Auch Aptiv möchte keine weiteren Angaben zum Schaffhauser Steuergeschenk machen. Einzig: «Wir können bestätigen, dass wir in Schaffhausen zwei Gesellschaften gegründet haben, in denen derzeit rund 25 Mitarbeitende arbeiten.»

Der Sitz der beiden Tochtergesellschaften hat sich inzwischen tatsächlich von einem Briefkasten in ein Büro verwandelt. In Schaffhausen werden allerdings keine Komponenten für Elektroautos produziert, das Schaffhauser Büro bietet «strategische und rechtliche Beratung sowie kaufmännische und betriebswirtschaftliche Expertise, um das Wachstum in Europa zu beschleunigen», wie Aptiv auf seiner Homepage schreibt. Aktuell werden ein «End User Services Architect», ein «IT Cloud Architect» und ein «Legal Counsel – Global Compliance & Risk» gesucht. 

Das Steuergeschenk von einer Drittelmilliarde dürfte für Aptiv denn auch nur ein Grund für das Schaffhausenabenteuer sein. Vielleicht fast wichtiger ist: Der Konzern hat hier womöglich ein Schlupfloch im Regime der neuen OECD-Mindeststeuer gefunden.

Geistiges Eigentum,  materielle Vorteile

Seit Anfang Jahr die OECD-Steuerreform in Kraft getreten ist, müssen Konzerne wie Aptiv, die jährlich einen Umsatz von 750 Millionen Franken oder mehr erzielen, mindestens 15 Prozent Steuern auf ihren Gewinn bezahlen. In seinem letzten Jahresbericht schreibt Aptiv, dass die OECD-Mindeststeuer eine grosse Herausforderung für den Konzern darstelle. Einige Staaten hätten allerdings signalisiert, dass sie das OECD-Vorhaben nicht unterstützen würden. Deswegen habe man proaktiv gehandelt und die beiden Tochterfirmen in Schaffhausen eröffnet. Zeitgleich mit der Eröffnung der beiden Tochtergesellschaften habe der Konzern auch mehrere hundert Patente und Markenrechte an den Rhein gezügelt, aktuell sind mindestens 950 Patente sowie rund 50 Markennamen auf die Schaffhauser Tochterfirma registriert. Der Umzug dieses geistigen Eigentums nach Schaffhausen hat sich gelohnt, wie Aptiv seinen Investorinnen und Investoren vorrechnete. «So hat das Unternehmen einen Steuervorteil von schätzungsweise 1,8 Milliarden Dollar erzielt.»

Ein neues Schlupfloch?

Dominik Gross, Steuerexperte bei Alliance Sud, ist eher genervt als überrascht von dem, was die AZ herausgefunden hat. Der Bund lässt seiner Meinung nach viele Einzelheiten zur Umsetzung der Mindeststeuer vorsätzlich im Unklaren. Und Gross hat eine Theorie, auf welchem Weg Aptiv einen milliardenschweren Steuervorteil erhalten konnte. Noch vor der Abstimmung über die OECD-Mindeststeuer wollte er von der Eidgenössischen Steuerverwaltung für eine Analyse wissen, ob ein besonders berüchtigter Steuertrick – der sogenannte Step-up – trotz Mindeststeuer weiterhin zur Steuervermeidung genutzt werden kann. Dieser Trick erlaubt es Firmen, die sich neu in der Schweiz niederlassen, bisher unversteuertes Eigenkapital (zum Beispiel Patente) aufzudecken und während maximal zehn Jahren vom steuerbaren Gewinn abzuziehen. Die Antwort, die Gross damals von der Steuerverwaltung erhielt: Es gebe dazu keine einheitliche Meinung. «Das Beispiel Aptiv ist interessant, weil es zeigen könnte, dass der Bund bis heute keine Klarheit über dieses Steuerschlupfloch geschaffen hat. Sollte dies der Fall sein, wäre das skandalös.»

Es gibt aber noch einen weiteren Erklärungsansatz. Faktisch hat die Schweiz einen wichtigen Bestandteil der OECD-Mindeststeuer – im Gegensatz zur EU – nie umgesetzt: die internationale Ergänzungssteuer. Sie würde es der Schweiz erlauben, bei Tochterfirmen einer in der Schweiz ansässigen Firma im Ausland Steuern zu erheben, sofern diese dort weniger als 15 Prozent Steuern bezahlten. Weil sie aber darauf verzichtet und auch die USA die internationale Ergänzungssteuer noch nicht umgesetzt hat, bleibt die Schweiz für US-Konzerne, die ihre Beteiligung an anderen Unternehmen steuergünstig parkieren wollen, weiterhin sehr attraktiv. Sie bleibt mit anderen Worten die Steueroase, welche die OECD trocken legen wollte.

Mit verdeckten Karten

Fassen wir zusammen: Ein Konzern eröffnet zwei Tochtergesellschaften in Schaffhausen, um der globalen Mindeststeuer zu entkommen. Daraus resultiert ein Steuervorteil von über zwei Milliarden Dollar für den Konzern: 1,8 Milliarden dank eines Steuertricks mit Patenten plus 330 Millionen Franken als Geschenk vom Kanton. Dafür stellt er 25 Anwälte und Informatikerinnen in Schaffhausen ein. Und die Öffentlichkeit erfährt nur deswegen davon, weil der Konzern in seinem Jahresbericht jubelt. 

Von welchen Steuertricks Aptiv am Schluss profitiert hat, wissen nur der Konzern selbst und der Kanton. Beide möchten sich von der Öffentlichkeit lieber nicht in die Karten blicken lassen.