Seltsame Allianz

13. August 2024, Marlon Rusch
Heinz Merz und Nadia Frischknecht an der Steiner Schifflände. Foto: Noëlle Schönauer

Eine ­hochsensible Kinesiologin und ein schwadronierender­ Ex-Unternehmer wollen die Steiner Stadtpräsidentin ­Corinne ­Ullmann aus dem Amt hieven. Wer steckt dahinter?

Antonino Alibrando, der Präsident des Steiner Gewerbevereins, hat eine bemerkenswert kurze Lunte. Als er am Telefon gefragt wird, ob Heinz Merz und Nadia Frischknecht, die beiden Herausforderer bei den Steiner Stadtpräsidiums-Wahlen, «seine» Kandidatinnen seien, gerät er umgehend in Rage: «Nein, nein, nein!», ruft Alibrando in den Hörer, und es dauert keine 30 Sekunden, bis er mit einer «saftigen Klage» droht für den Fall, dass etwas derartiges in der Zeitung gedruckt werden sollten. Er habe das bereits vorgängig mit seinem Medienanwalt abgeklärt: «Wenn auch nur ein halber Satz in diese Richtung geht, werden wir definitiv klagen!»

Am anderen Ende der Leitung fragt man sich derweil überrascht: Wenn an besagtem hartnäckigen Gerücht, dass Alibrando und sein Gewerbeverein hinter den beiden überraschenden Kampfkandidaturen fürs Stadtpräsidium stecken und dem Stadtrat damit eins auswischen wollen, nichts dran ist – welchen Grund hat dieser Antonino Alibrando dann, derart aus der Haut zu fahren?

Unter Ullmann kehrte Ruhe ein

Es war noch nicht lange her, da musste man in Stein am Rhein von einem mässig prickelnden Wahlsommer ausgehen. Nachdem das Städtchen 17 Jahre lang von «Kaiser» Franz Hostettmann regiert worden war, galt es seit dessen Abgang 2012 als einigermassen unregierbar. Mit Claudia Eimer und Sönke Bandixen wurden in zwei Legislaturen zwei Stapis verbrannt. Dann aber wurde 2020 Corinne Ullmann zur neuen Stadtpräsidentin gewählt, eine bodenständige und umgängliche Kantonsrätin und Steiner Stadträtin. Die AZ schrieb, es dürfte der breiten Masse nicht schwer fallen, sich politisch irgendwo in der Frau mit sozialer Ader und SVP-Parteibuch wiederzufinden (siehe «Drachentöterin?»). 

In der Ära Ullmann lassen sich, grob gesagt, zwei Entwicklungen beobachten: Einerseits sind verschiedene Strategien, Konzepte und Reglemente erarbeitet worden, die zu einer Professionalisierung der Verwaltung geführt haben. Andererseits ist eine lange vermisste Konstruktivität in die von Fehden durchdrungene Steiner Politik zurückgekehrt. Man kann von Ullmann politisch halten, was man will (für Rechte ist sie zu wenig wirtschafts- und gewerbefreundlich, für Linke tut sie zu wenig für den Umweltschutz und politisiert in vielen Sachthemen zu stramm auf SVP-Linie), doch die neue Stadtpräsidentin ist engagiert und integrativ. Unter ihr tritt der Stadtrat grosso modo geeint auf und versucht, trotz inhaltlicher Differenzen gemeinsam Lösungen zu erarbeiten. Das politische Stein am Rhein ist heute weitgehend befriedet. 

Es schien also, als habe man endlich jemanden gefunden, der das mit unzähligen Millionen der Windler-Stiftung vergoldete, aber scheinbar unregierbare Städtchen regieren kann. Und es schien, als sei niemand in Sicht, der Ullmann ernsthaft herausfordern könnte.

Dann gab plötzlich eine Frau ihre Kandidatur bekannt, die in Stein am Rhein niemand auf dem Zettel hatte: die weitgehend unbekannte 46-jährige Kinesiologin Nadia Frischknecht. Und kurz darauf stieg auch noch ein alter Bekannter in den Ring: der redselige 78-jährige Ur-Steiner und Ex-Unternehmer Heinz Merz, der Corinne Ullmann bereits vor vier Jahren an der Urne beinahe besiegt hatte. Es fehlten ihm nur gerade 30 Stimmen.

Seither fragt man sich in Stein am Rhein: Warum tun die beiden Parteilosen das? Und vor allem: Warum tun sie es zusammen?

An einem sonnigen Morgen sitzen Heinz Merz und Nadia Frischknecht auf der Terrasse des Restaurants Wasserfels an der Steiner Schifflände und überschütten sich gegenseitig mit Komplimenten. «Heinz ist ein Herzmensch», sagt Nadia Frischknecht. «Ich bin Fan von ihm.» Heinz Merz wiederum erklärt wortreich und lautstark, was Frischknecht bisher alles geleistet habe im Wahlkampf. Er hat zum Pressetermin sogar ihre Flyer mitgebracht – «Nadia Frischknecht. Frischer Wind für Stein am Rhein». Auf Frischknechts Website kann man sich ein Video ansehen, in dem Merz Frischknechts Kandidatur unterstützt und sagt: «Frischer Wind! Frischknecht! Frischer Wind! Das braucht die Stadt!»

Nun ist es ja nicht gerade alltäglich, dass zwei Kandidatinnen für dasselbe Amt, die nicht von der selben Partei aufgestellt worden sind, in ihrem Wahlkampf zusammenspannen. Schliesslich kann nur einer von ihnen gewählt werden. Doch Frischknecht und Merz sind auch nicht gerade alltägliche Kandidaten.

Frischknecht entdeckt die Stadt

Auf der Website von Frischknechts Kinesiologie-Praxis erfährt man, dass sie 1978 als «hochsensitives Medium» geboren wurde, und dass sie befähigt sei, «hohe Energie-Frequenzen in Form von Bildern, Tönen, Gefühlen zu lesen», und «als Übersetzerin der unsichtbaren Welt» zu dienen. Man kann sich von ihr auch für 120 Franken pro Stunde sein Haus energetisch reinigen oder per Fernheilung Bachblüten-Tropfen für seinen Hund empfehlen lassen. Mit Politik hatte sie bis anhin nichts zu tun. In Stein am Rhein wohnt sie seit drei Jahren. 

Frischknechts politische Agenda könnte man als eklektisch bezeichnen. Auf ihrer Wahlkampf-Website hat sie einige Themen aufgeführt: Da ist einerseits die Schifflände, die in Stein am Rhein kürzlich ein grosses Politikum war. Alibrandos Gewerbeverein war mit einer Umgestaltungs-Vorlage des Stadtrats unzufrieden und ging auf die Barrikaden, wobei es sich im Grunde vor allem um einen Machtkampf handelte (siehe «Alibrandos Aufstand»). Frischknecht steht beim Thema Schifflände auf der Seite des Gewerbes, das in Stein am Rhein allgemein «leidet», wie sie sagt. Es geht ihr in der Sache jedoch auch darum, zu verhindern, dass an der Schifflände Kastanien gefällt werden, die gemäss einem offiziellen Baumgutachten, das der Stadtrat in Auftrag gegeben hat, krank sind. Frischknecht ist über die Abholzpläne entrüstet und überzeugt: Die Natur braucht den Menschen nicht.

Gewerbevereins-Chef Alibrando. Foto: Robin Kohler

Die übrigen Schwerpunkte ihres Wahlkampfs lassen Zweifel aufkommen, ob Frischknecht versteht, welche Aufgaben die Steiner Gemeindeexekutive hat. So will sie gegen die geplanten Windräder auf dem Chroobach kämpfen, obwohl das Geschäft in die Kompetenz der Gemeinde Hemishofen und des Kantons fällt. Oder sie will sich dafür einsetzen, dass Stein am Rhein ein Frauen-Fussballteam erhält. Dass der 101-jährige FC Stein am Rhein selber seit Jahren vergeblich nach Frauen für ein Frauenteam sucht und es nicht an politischem Engagement fehlt, ignoriert die Stadtpräsdiums-Kandidatin. Aus Stein am Rhein hört man, man könne Frischknecht gerade dabei beobachten, wie sie nach und nach das Städtchen entdecke – und mit ihren Entdeckungen ad hoc Politik machen wolle. Ungeachtet der Tatsache, dass es andere Steinerinnen gebe, die besagte Themen seit Jahrzehnten bearbeiten.

Dass sie in Stein am Rhein keine Historie hat und nicht vernetzt ist, sieht sie als Vorteil. Auf der Wasserfels-Terrasse behauptet sie, Stadtpräsidentin Ullmann werde im Grunde gesteuert vom mächtigen Steiner Stadtrat Ueli Böhni. Als hochsensible Frau habe sie die Fähigkeit, Gemauschel zu durchschauen. «Hostettmann war besser», so Frischknechts Fazit. Als besagter Franz Hostettmann etwas später an der Wasserfels-Terrasse vorbeigeht, zeigt sich, dass sie ihn gar nicht kennt. Als sie nach Stein am Rhein zog, war Hostettmann schon seit neun Jahren nicht mehr im Amt.

Merz’ Droge: Adrenalin

Der andere Kampfkandidat fürs Stadtpräsidium kennt Stein am Rhein und Franz Hostettmann sehr wohl. Heinz Merz ist ein Ur-Steiner, er entstammt einer vermögenden Drogisten-Dynastie, ist im Städtchen bestens vernetzt: Pfadi, Kaufmännischer Verband, Pro Senectute, Zunft zum Kleeblatt, Arbeitsgemeinschaft Pro Stein. Politisch ist auch Heinz Merz ein Greenhorn, noch nie bekleidete er ein politisches Amt. Doch vor vier Jahren hat ihm das nicht geschadet. 

Corinne Ullmann, eine mittelalte Frau, stand für ein Stein am Rhein im Aufbruch. Der damals schon alte Heinz Merz war das personifizierte Establishment, das sich in einem Rückzugsgefecht begriffen sah. Unter den Steinerinnen und Steinern, die seinen Namen auf den Zettel schrieben, dürften sich viele Protestwähler befunden haben. 

Heinz Merz ist eine Erscheinung. Als er, mittlerweile 78-jährig, auf der Wasserfels-Terrasse Nadia Frischknecht alle zehn Sekunden ins Wort fällt und ungefragt aus seinem Leben erzählt, ist er bis in die Zehenspitzen geladen mit Adrenalin. «Ich bin in Hochform», sagt er. Da hat der Heinz Merz mit Bundesräten gedealt, dort hat er tausende Leute in der Industrie geführt, jederzeit könnte er mit dem ehemaligen US-Notenbankchef telefonieren. «Als der UBS-Skandal aufkam, habe ich natürlich sofort angerufen …» 

Für ihn funktioniert eine Gemeindeverwaltung genau gleich wie eine Firma. Wenn man entgegnet, der Stadtrat sei in einen demokratischen Prozess, in ein föderalistisches System und in ein enges juristisches Korsett eingebunden und habe sich an das Kollegialitätsprinzip zu halten, winkt er ab und ruft: «Als Stapi kenne ich keine Zwänge. Ich war Unternehmer!» Unter ihm hätte es keine Abstimmung über die Schifflände gegeben, sagt Merz. Wenn man nachfragt, erzählt er wieder von den 80er-Jahren, als er im Ausland mit irgendwelchen Schweizer Botschaftern verhandelt habe. 

Wofür Merz als zukünftiger Stadtpräsident inhaltlich stehen will, bleibt unklar. Ihm geht es weniger um das Was als um das Wie. Merz schimpft über den Formalismus der Behörden und der Gerichte. Schon zwei Mal hat er gegen die Steiner Stadtkasse prozessiert, weil es Heimatschutz-Auflagen gegen eine seiner Liegenschaften gab. Manchmal schreibt der Privatier auch Briefe an den Regierungsrat, der «endlich eingreifen» müsse. 

Heinz Merz hat das Herz auf dem rechten Fleck: «Ich betreue alte Leute im Altersheim», sagt der Senior, und auch um einige Sozialhilfebezüger kümmere er sich. Man kauft ihm jederzeit ab, dass er es nur gut mit allen meint. Doch er scheint nicht so recht mitbekommen zu haben, dass sich die Welt seit dem Kalten Krieg weitergedreht hat. 

Keine Streitgespräche

In Stein am Rhein gibt es verschiedene gut unterrichtete Quellen, die behaupten, der Gewerbeverein habe nach der verlorenen Schifflände-Abstimmung jemanden gesucht, der oder die gegen Corinne Ullmann antreten würde – aus Rache gewissermassen. Bei Merz, den der Wahlkampf 2020 euphorisiert habe, habe Alibrando damit offene Türen eingerannt. Und Frischknecht sei vom Gewerbevereinspräsidenten höchstpersönlich den Steiner Gewerblern vorgestellt worden. Derzeit würden Kampfkandidatur-Plakate an Gewerbeverein-Plakatständern hängen. 

Doch nicht nur Alibrando bestreitet das vehement. Auch Frischknecht und Merz sagen, der Gewerbeverein stecke nicht hinter ihrer Kandidatur. Er sagt: «Ich bin von Bürgern angefragt worden.» Von wem genau, will er nicht sagen. Sie sagt: «Ich habe mich selber entschieden.» Dass sie instrumentalisiert werde, sei nur «eine Spekulation.»

Abgesehen von ihren Wahlplakaten bleibt der Wahlkampf von Merz und Frischknecht hingegen eher mau. Streitgespräche mit Stadtpräsidentin Corinne Ullmann lehnen beide ab. Merz sagt, er habe 16-Stunden-Tage und Radio Munot bereits abgesagt, weil er keine Zeit habe, nach Schaffhausen zu fahren. Frischknecht sagt, sie wolle mit einem Streitgespräch auf einen allfälligen zweiten Wahlgang warten.

Ob Frischknecht und Merz so viele Stimmen machen, dass es einen solchen zweiten Wahlgang gibt, ist unklar. Man darf wohl davon ausgehen, dass einige der Protestwähler von 2020 mittlerweile überzeugt sind vom neuen Stadtrat um Corinne Ullmann. Doch Heinz Merz wurde schon einmal unterschätzt. In Stein am Rhein ist und bleibt vieles möglich.