Die Pionierin

7. August 2024, Xenia Klaus
Irène Schweizer tritt im Rahmen des Schaffhauser Jazzfestivals 2001 im Museum zu Allerheiligen auf. Foto: Peter Pfister

Eine der wichtigsten europäischen Jazzmusikerinnen des 20. Jahrhunderts stammte aus Schaffhausen. Mitte Juli ist Irène Schweizer verstorben. Über ein Leben in vier Werken.

Das musikalische Leben von Irène Schweizer begann im Landhaus, gleich hinter dem Bahnhof Schaffhausen. Dort waren ihre Eltern Wirte, als Kind schickte man sie in den Handorgelunterricht. Bald entdeckte Irène aber das Klavier, das in der Wirtsstube stand, für sich. Und das Schlagzeug. Von dieser Wirtsstube aus würde Irène Schweizer ausziehen, um eine Meisterin der Improvisation zu werden, eine Mitbegründerin des europäischen Free Jazz.

Am 16. Juli ist Irène Schweizer 83-jährig gestorben. Die AZ hat mit drei Menschen gesprochen, die mit ihr musiziert haben: Pierre Favre ist Schlagzeuger und hat ab den 60er-Jahren mit Schweizer gespielt, meistens als Duo. Co Streiff ist Saxophonistin, sie hat ab den 80ern in verschiedenen Formationen mit Schweizer musiziert und 2002 ein Album mit ihr veröffentlicht. Omri Ziegeles Instrument ist ebenfalls das Saxophon, er ist ab den frühen 90ern mit Schweizer aufgetreten. Die drei haben uns von Schweizers Leben und Musik erzählt. 

Wurzeln

Omri Ziegele Irène Schweizers Weg war nicht vorgesehen in dieser Welt. Sie ist in den 40er- und 50er-Jahren in diesem biederen Kaff Schaffhausen aufgewachsen, ihre frühsten Erinnerungen war die versehentliche Bombardierung durch die Alliierten. Ich glaube, man kann sich heute kaum mehr vorstellen, wie enggestrickt vor den 68ern alles war. Alle wollten nach dem Krieg einfach zurück in ein normales Leben. Und da kam ein Mädchen daher und hat gesagt, «Ich will Jazz-Musik machen.»Sie hat sich das einfach rausgenommen. Auch das kann man sich heute kaum mehr vorstellen, wie aussergewöhnlich das war. Im Jazz gab es Frauen damals nur als Sängerinnen, aber sie wollte Schlagzeug und Piano spielen. Als Pubertierende begann sie Dixieland zu spielen, später kam sie zum Modern Jazz und Hard Bop. Dann passierten einige Dinge auf der Welt, die Irènes Weg begünstigt haben. 

Ein extrem wichtiger Einfluss für Irène waren die südafrikanischen Jazzmusiker. In den 60er- und 70er-Jahren war die Repression durch das Regime enorm, viele flüchteten nach Europa. Diese Musiker brachten eine ganz neue Spielweise und Einflüsse des Kwela mit. Viele gingen nach London, einer, der ganz gross werden würde, landete in Zürich: Dollar Brand, der sich später zu Abdullah Ibrahim umbenannt hat. In Zürich spielten diese Exilmusiker im Club «Africana», Irène war so oft wie irgendwie möglich dort, um selber zu spielen und sich auszutauschen. 

In der Zeit vor 68 begann sich ein eigenständiger europäischer Free Jazz herauszubilden. Irène war an vorderster Front mit dabei. Sie war überall, wo dieser neue europäische Jazz geprägt wurde: Sie wohnte einige Jahre in London – der Anschluss dort fiel ihr leicht, viele der Musiker kannte sie aus dem «Africana» – und sie reiste auch häufig in die zwei anderen Zentren der Bewegung: Berlin und Amsterdam. Irène blieb lange weit und breit die einzige Frau. Und dazu erst noch eine lesbische, mit der man nicht rumturteln konnte. Sie hat später immer wieder erzählt, dass das viele Männer gar nicht cool fanden. Irène hat mir einige haarsträubende Sachen dazu erzählt. 

Das Duo mit Pierre Favre hat Irène geholfen, endgültig Tritt zu fassen. Er war ebenfalls ein Pionier der europäischen Jazzszene. Im Duo mit ihm ist sie viel international aufgetreten. 

Co Streiff Irène war als praktisch einzige Frau mittendrin in der Pioniergeneration der europäischen Free Music. Ihre Duos mit Schlagzeugern waren charakteristisch für ihr Werk. Sie spielte mit herausragenden Schlagzeugern wie Louis Moholo, Han Bennink, Günter Baby Sommer oder Andrew Cyrille. Die Zusammenarbeit mit Pierre Favre war besonders vielfältig und prägend für ihre Karriere.

Frühwerk: Santana (1969)

Pierre Favre Ich habe Irène Mitte der 60er-Jahre kennengelernt. Sie hatte sich da schon einen Namen gemacht, aber als wir uns zum ersten Mal begegnet sind und ich sie gefragt habe, wie es ihr geht, hat sie gesagt: «Nicht so gut», weil sie einen Job suche. Sie hatte ja Sekretärin gelernt und noch lange auf dem Beruf gearbeitet, um die Musik zu finanzieren. Ich arbeitete damals beim Schlagzeughersteller Paiste in Sursee und habe sie eingestellt. Eines Mittags haben wir uns hingesetzt und gespielt. Es war erstaunlich. Musikalisch waren wir wie Zwillinge, das haben wir sofort gespürt. 

Wir haben uns trotzdem lange nicht getraut, aufzutreten. Aber dann waren wir auf dem Rückweg von einer Tour in Frankreich und sollten noch ein Konzert spielen. Sie sass im Wagen mit mir, die restlichen Musiker waren in einem anderen Auto. Sie sind an diesem Abend nicht angekommen, ich glaube, sie sind in irgendeiner Bar verloren gegangen. Also haben wir uns zu zweit auf die Bühne gestellt und es war so gut, dass wir ab da häufig im Duo aufgetreten sind. Irène war für mich eine musikalische Liebesgeschichte. Wenn wir gemeinsam improvisiert haben – und wir haben nur improvisiert – haben wir uns immer gefunden, wir mussten nie suchen. Es war magisch. Sie ging in eine Richtung, ich in die andere, um dann bäm!, – sind wir wieder zusammengekommen. In der Anfangszeit wurden wir für unsere Improvisationen hart kritisiert. Uns schlug Verachtung entgegen. Manche fragten uns: «Wie könnt ihr uns das nur antun?». Das waren zum Teil dieselben Leute, die uns später hochgelobt haben. Sie waren uns immer egal, für uns war die Hauptsache, sehr free zu sein. Alles andere fanden wir brav. 

Irène war mutig. Wir waren viel gemeinsam auf Tour. Bei unserem Bus konnte man zwischen einer Heizung und einer Frontscheibenbelüftung wählen. Wir sind damit durch Skandinavien getourt. Wir schlotterten, manchmal hatten wir auch kein Hotel. Aber Irène konnte das damals nichts anhaben, sie war zäh, sie war dabei, weil sie die Musik spielen wollte. 1969 gaben wir gemeinsam mit Peter Kowald als «Pierre Favre Trio» das Album «Santana» heraus. Wir gingen ins Studio, haben 1,5 Stunden improvisiert, fertig. Finanzieren mussten wir das selber. Ich denke, von unseren Aufnahmen war diese erste meine liebste. Später haben wir noch andere Sachen gemacht, aber eigentlich war alles schon in «Santana» drin. 

Solowerk: Wilde Señoritas (1977)

Omri Ziegele Mitte der Siebziger zog Irène nach Zürich in eine WG direkt an der Limmat. In dieser WG hat sie mit Leuten gewohnt, die man heute vielleicht nicht mehr alle so kennt, die für die lokale Szene aber enorm wichtig waren. Sie waren in allen avantgardistischen Projekten mit dabei und haben natürlich auch zuhause wie blöd gespielt, sehr viel entwickelt und voneinander mitgenommen. Unter anderem wohnte Irène dort mit Urs Voerkel, der für sie sowohl menschlich als auch musikalisch sehr prägend war und dann leider früh gestorben ist. 

Irène Schweizer und Urs Voerkel teilten ihre Begeisterung für den Komponisten Thelonious Monk, ein enorm wichtiger Einfluss für ihr Werk. Urs Voerkel war ein guter Freund von mir, so habe ich später Irène kennengelernt. Sie haben jede Woche ein tolles Quartett gespielt, Irène sass am Schlagzeug. Wenn man neben ihr gespielt hat, musste man sich seinen Platz erkämpfen. Ich habe grosse Namen gesehen, die um Augenhöhe gerungen haben. Sie war einfach so prägnant, so artikuliert und so unglaublich präzise. Von Irènes Platten kann ich keine herausheben, aber ihre Soloplatten waren ein Ereignis.» 

Co Streiff Wenn ich an Irène Schweizer denke, denke ich als erstes an ihre Solowerke. Auf ihrer ersten Soloplatte «Wilde Señoritas» von 1977 war schon alles da, was sie ausgezeichnet hat. Ihr Spiel war geprägt von rhythmischer Präzision, grosser Dynamik und einem enormen Formbewusstsein. Ihre Improvisationen hatten stets eine starke Dramaturgie. So formte sie auch das Zusammenspiel mit anderen. 

Auf «Wilde Señoritas» hört man auch bereits den für sie so wichtigen südafrikanischen Einfluss. Sie spielte aber nicht nur diese Musik, sondern äusserte sich auch politisch gegen das Apartheid-Regime.

Aktivistin: Canaille-Festival (1986)

Als Schweizer in den 70ern nach Zürich zurückkehrte, trat sie der Homosexuellen Frauengruppe bei, mit der sie die Zeitung «Lesbenfront» herausgab. 2008 sagte sie der WOZ: «Da fiel mir auch immer mehr auf, dass ich zwanzig Jahre lang mausallein Musik gemacht hatte als einzige Frau. Und dass ich eigentlich noch etwas anderes wollte. Zu dieser Zeit tauchten zum Glück auch die ersten Frauen in der europäischen freien Musikszene auf.» 

Co Streiff 1986 war Irène Mitorganisatorin des Canaille-Festivals in der Roten Fabrik Zürich, an welchem ausschliesslich Frauen auftraten. In der Folge entstanden in ganz Europa lose Formationen von Musikerinnen, die sich langsam, aber sicher einen Platz auf den europäischen Bühnen erkämpften. Als harter Kern dieser neuen Szene etablierte sich das Trio «Les Diaboliques» mit Irène Schweizer, Maggie Nicols und Joelle Léandre. Ihre Musik hatte viele Aspekte: spielfreudig, witzig, zwischendurch schräg und wild, dann wieder sehr persönlich und feinsinnig. Die Message war «Wir können alles und wir machen es einfach, egal, was andere über uns denken.» 

Durch die Begegnung mit Irène am Canaille-Festival wurde ich selbst Teil dieser Bewegung und trat mit ihr und anderen Musikerinnen an vielen internationalen Festivals auf. Irène war eine wichtige Figur für das Empowerment von Jazz-Musikerinnen in ganz Europa – auch für mich. 

Irène hat zudem in der Stadt Zürich kulturpolitisch viel bewegt, indem sie sich stets für neue Strukturen in der Musikszene einsetzte. Sie war Mitbegründerin von Fabrikjazz, vom Festival Taktlos und dem Label Intakt, das fortan all ihre Musik herausgab.

Omri Ziegele Irène wusste, dass man sich seine Möglichkeiten im Kulturbetrieb manchmal selber schaffen muss. Das Intakt-Label spielte eine fundamentale Rolle für die Karriere von Irène. Sie war immer wieder an neuen Initiativen und Kollektiven massgebend beteiligt. Dabei ging es auch darum, Kontakte zu knüpfen. Daraus ist dann auch wirklich ein Erfolgsschub gekommen.

Irène Schweizer, undatiert. Foto: Rolf Baumann

Spätwerk: Twin Lines (2002)

Omri Ziegele Ab den 90ern bin ich jede Woche mit Irène im Zürcher Café Casablanca aufgetreten, gleich bei ihr ums Eck im Kreis vier, wo sie mittlerweile wohnte. Die Wut aus den 60ern ist irgendwann weggefallen, oder war zumindest nicht mehr ganz so Raum nehmend. Später durfte auch das Schöne, das Melodische wieder sein. Wir hatten es häufig wahnsinnig lustig zusammen in dieser Zeit, sie hat den Ton angegeben, aber hat es auch geschätzt, wenn man umegäh het. Ich habe wahnsinnig viel gelernt von ihr in dieser Zeit. Unser gemeinsamer Fokus waren die Aufritte, aber wir haben dann mehr auf das Drängen anderer hin auch noch eine Platte herausgegeben, gemeinsam mit Makaya Ntshoko, der für Abdullah Ibrahim gespielt hatte in den 60ern.

Co Streiff Nach all ihren Reisen hat sich Irène gefreut, dass sie in Zürich verwandte Seelen gefunden hatte. Sie konnte einfach aufs Velo steigen und mit uns in der «Werkstatt für improvisierte Musik» zusammen spielen. So entstanden die Duos mit den Saxophonistinnen, die nochmals eine andere Facette von Irène zeigen. Sie spielt hier meist Kompositionen und zeigt sich auch in der Rolle der Begleiterin. 

Ich mag das Album «Twin Lines», welches ich mit ihr aufgenommen habe, bis heute sehr. Es ist eine intime Aufnahme mit einer schönen Zwiesprache.

Irène war immer sehr eigenwillig. Gleichzeitig war sie sehr bescheiden und äusserst direkt und ehrlich. Ihre Unerschrockenheit und ihre klare Haltung hat sie auch im höheren Alter bewahrt, das zeigte sich auch auf der Bühne. Ihr Selbstbewusstsein und ihr Vertrauen stärkte mich, so fühlte ich mich stets getragen, wenn ich mit ihr spielte. Die Zusammenarbeit mit Irène über all die Jahre gab mir enorm viel Kraft. Dafür bin ich ihr dankbar.

2005 krönte Irène Schweizer ihre Karriere mit einem Solokonzert im KKL Luzern. Auch danach trat sie noch regelmässig auf. 2018 wurde sie von der Stadt Zürich für ihr Lebenswerk ausgezeichnet, es war einer ihrer letzten grossen Auftritte. 

Omri Ziegele Ab etwa 2010 wollte sich Irène zunehmend zurückziehen, wurde müde, später krank. Ihr Tod hat mich sehr getroffen. Mein Staunen über Irène hört auch heute nicht auf.

Pierre Favre Als ich von Irènes Tod erfahren habe, bin ich nachts um halb drei in meinen Keller gegangen und habe für sie gespielt und gesungen.