Der 39-jährige Marcel Montanari will für die FDP einen Sitz im Regierungsrat erobern. Hat er das nötige Format?
Als die Schaffhauser FDP im Februar Marcel Montanari für die Regierungsratswahlen nominierte, wo er den Sitz zurückerobern soll, den Christian Amsler vor vier Jahren an SP-Mann Patrick Strasser verloren hatte, staunten die hiesigen Politbeobachterinnen. Jetzt soll es also tatsächlich der «Monti» richten, dieses noch nicht einmal 40-jährige Enfant terrible, jener Kantonsrat, der von seiner eigenen Partei in einer Mischung aus Ärger und Halbernst auch schon der Fraktion der Alternativen Liste angeboten wurde, nachdem er einmal mehr ostentativ von der eigenen Parteilinie abgewichen war. Jener Mann, der gleichzeitig dank Steuersenkungs-Affronts, Freiheits-Plattitüden und HSG-Frisur nicht nur in linken Kreisen als libertäre Karikatur wahrgenommen wird.
Die Politbeobachter fragten sich: Ist das die verzweifelte Notfallkandidatur eines arg von Personalproblemen gebeutelten Rumpffreisinns? Und offenbar beschäftigte die Frage mitunter sogar Montanari selber. Bei einem frühsommerabendlichen Tête-à-tête in einer Gartenwirtschaft fragt er nach zwei, drei Bier in entwaffnend neugierigem Ton: Glaubst du, ich wäre dem Amt gewachsen?
Marcel Montanari ist die Wundertüte des Schaffhauser Wahljahres. Und vielleicht ist genau das seine grosse Stärke. Denn solange Politik ein Spiel bleibt, sammelt Monti darin eifrig Punkte.
Pures Selbstvertrauen
Als er einige Wochen nach dem spontanen Treffen in der Gartenwirtschaft nach einem Setting für den offiziellen Medientermin mit der AZ gefragt wird, nennt Montanari den Herrenacker. Der müsse doch belebt werden, also könnte man ihn ja jetzt beleben – eben indem man sich dort treffe.
Im Grunde zeigt diese Antwort schon einiges auf, was den Politiker Marcel Montanari ausmacht: Bei seiner Argumentation achtet er in erster Linie penibel auf formale Richtigkeit und Stringenz. (Was inhaltlich dabei rauskommt – etwa dass er damit Gefahr läuft, mit einem Journalisten, der etwas sehen will, auf einem leeren Platz zu stehen, wo es nichts zu sehen gibt –, bleibt bisweilen sekundär.) Und er vertraut auf seine Ideen, selbst wenn sie wenig ausgegoren sind.
Auf diesen Säulen, so zeigt seine Vita, lässt sich auch prima eine berufliche Karriere aufbauen. Montanari ist 1985 in Thayngen geboren, ging in Schaffhausen an die Kantonsschule und studierte danach in St. Gallen Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, daneben liess er sich zum diplomierten Wirtschaftspädagogen ausbilden. Noch vor dem Bachelor begann er 2007 an der Konditorenfachschule Allgemeinbildung zu unterrichten. Er war 22 Jahre alt und erklärte den wenig jüngeren Lernenden, wie das politische System der Schweiz funktioniert und wie man wissenschaftliche Arbeiten schreibt. Daneben arbeitete er bei der Schaffhauser Wirtschaftsförderung, wo er in Gründer Thomas Holenstein einen Mentor fand. «Von ihm durfte ich viel lernen», sagt Montanari heute: «Zum Beispiel, dass du entweder eine Marktlücke brauchst oder ein Problem lösen können musst, um eine Idee durchzubringen.»
Solchen Management-Sprech hört man oft aus Montanaris Mund. Der Thaynger ist seit 2013 selbstständiger Rechtsanwalt und berät schwergewichtig öffentliche Unternehmen im Rahmen sogenannter public corporate governance; daneben unterrichtet er an der ZHAW angehende Medien- und Kommunikationsfachleute in Wirtschaft, Politik und kritischem Denken.
Du hast schon ein ziemliches Vertrauen in das, was du sagst, oder?, fragt man ihn vor der geplanten Belebung des Herrenackers im nahen Restaurant Thiergarten, und Montanari antwortet zwischen zwei grossen Bissen Pizza Hawaii: «Sonst würde ich es nicht sagen.» Während er lacht, formen sich seine Augen hinter den Brillengläsern zu Schlitzen. Klar, er sei oft gefordert gewesen in seinem Leben, aber überfordert? Nein, dieses Gefühl sei ihm fremd.
Beharrlichkeit kann man Marcel Montanari nicht absprechen. Die Themen Recht, Wirtschaft und Politik und ihre Schnittstellen durchziehen nicht nur sein Arbeitsleben, sondern auch die Politik. 2008 gründete er mit einigen Mitstreitern die Jungfreisinnigen Reiat. Die Gemeinde Thayngen stand gerade vor einem grossen Problem: Der Steuerfuss war mit
82 Prozent einer der tiefsten im Kanton, enorme Steuerausfälle drohten. Der Gemeinderat wollte den Steuerfuss erhöhen und hatte auch den Einwohnerrat auf seiner Seite. Doch der junge Einwohnerrat Montanari war dagegen, ergriff das Referendum gegen das Budget – damals ein auf kommunaler Ebene noch weitgehend unbekanntes politisches Instrument –, sammelte Unterschriften, forderte statt Steuersenkungen «lineare Kürzungen in allen Bereichen» und gewann schliesslich die Abstimmung.
Es war ein kleiner Coup. Und es war ein neoliberales Aufbäumen gegen die staatstragende FDP. Besonnene Lokalgranden wie das Parteiurgestein Werner Hakios liebäugelten gar damit, die jungen Stürmis aus der Fraktion zu werfen.
Der Steuerfuss wurde in den kommenden Jahren zwar trotz allem mehrfach erhöht, doch Montanaris Duftnote war gesetzt: Mindestens so sehr wie um Sachpolitik geht es ihm um Dogmen, um einen Wettbewerb der Ideen.
Wettbewerb der Ideen
Die Liebe zur Rhetorik und zum Ideenwettbewerb entdeckte Montanari während der Kantonsschule im Freifach Philosophie. Damals trug er die Haare lang wie die anderen Buben, die ab und an auf der Munotwiese an Joints zogen und deren revolutionäre Energie allzu oft in Rauchschwaden ihre Konturen verlor. Heute sagt er, er habe damals viel und vielfältig gelesen, von Descartes bis Marx. Kants Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit habe ihn fasziniert, und natürlich die grossen Staatsphilosophen: Rousseau, Locke, Montesquieu, Platon.
Wie weit er die grossen Denker damals tatsächlich durchdrungen hatte, bleibt heute offen. Jedenfalls verlor er sich ambitiös in den Debatten mit den Linken, gegen die er sich energisch abgrenzte. Noch heute sagt er beim Kaffee nach der Pizza: «Ich finde die Vielfalt der Gedanken und der Lebensweisen etwas Schönes. Dass alles gleich sein soll, widerstrebt mir.»
Einer der Linken, mit denen er damals nächtelang stritt, ist Thomas Leuzinger, der später in der AL politisierte und heute beim Wahlkampf von Montanaris Gegenspielerin, der SP-Regierungsratskandidatin Bettina Looser, mitarbeitet. «Leuz war freidenkend. Er hat den Menschen Mündigkeit zugetraut», erinnert sich Montanari. Leuzinger wiederum sagt, es sei immer anregend und lustig gewesen, mit Monti zu diskutieren, doch im Grunde sei dieser ein Schönwetterdenker gewesen: «Er exerzierte seine Theorien in einer marktwirtschaftlich logischen Welt durch, die Unzulänglichkeiten von Mensch und Natur erhielten dabei oft wenig Beachtung.»
Daran hat sich seither offenbar wenig verändert: Diskutiert man heute mit Montanari, offenbart sich das Bild einer Welt, die von stets rational agierenden Individuen bevölkert ist. Das ist natürlich ziemlich praktisch, wenn man sich wie er für gesellschaftliche und verhaltensökonomische Modelle wie etwa die Spieltheorie interessiert.
«Wenn du immer gewinnen musst, macht dich das kaputt.»
Marcel Montanari
Bist du eigentlich ein Spieler?
Montanari überlegt lange, als er die Frage hört. Dann sagt er, nein, die Politik sei für ihn kein Spiel: «Ich akzeptiere den demokratischen Prozess. Ich habe wenig Probleme, einfach einen Diskussionsbeitrag zu leisten und dann das Volk entscheiden zu lassen. Vielleicht resultiert daraus eine gewisse Leichtigkeit. Wenn du immer gewinnen musst, macht dich das kaputt.»
Also doch: ein Spieler.
Persönliche Betroffenheit
Beim Politiker Marcel Montanari ging bislang wenig kaputt. 2012 schied er zwar als Überzähliger aus dem Thaynger Einwohnerrat aus, fast gleichzeitig aber wurde er in den Kantonsrat gewählt. Schon ein Jahr später war er Vizepräsident der wichtigen Geschäftsprüfungskommission (GPK) und bald darauf ihr Präsident. Als 2016 in der AZ erste Vorwürfe gegen die Amtsführung des damaligen Polizeikommandanten erhoben wurden, begann Montanari in seine neue Rolle zu finden: die Aufsicht des Regierungsrats im Auftrag des Parlaments, ein «Riesenamt», wie er sagt. Es kamen weitere Baustellen dazu: der zweifelhafte Verkauf von Aktien des Elektrizitätswerks EKS durch den Regierungsrat, die Affäre um die Schulzahnklinik. Zu jener Zeit definierte die GPK ihre Rolle als regierungskritisches Organ neu. Und Monti, der jungfreisinnige Steuersenkungs-Winkelried, wurde politisch erwachsen, trat staatsmännisch auf, erhielt von allen politischen Seiten Zuspruch.
In den vergangenen zwölf Jahren hat er den Kantonsrat durchgespielt. Als die AZ 2016 das Parlament analysierte, war er der rechteste FDPler, überholte auch einige SVPler rechts. Dies ist umso bemerkenswerter, als er zwischendurch auch immer wieder mit den Linken paktierte: in der Ausländerpolitik etwa, oder kürzlich bei der Stellvertreterinnenlösung für Parlamentarier, für die er mit Linda De Ventura von der SP zusammenspannte.
Auf dem Herrenacker, den Montanari beleben will, ist nach Pizza und Kaffee erwartungsgemäss wenig los. Dann aber rollt plötzlich zufällig besagte Linda De Ventura mit einem Lastenfahrrad über den Platz, mit dabei: dutzende Bettina-Looser-Plakate für den Wahlkampf. Schon bei der Begrüssung wird klar: Die beiden mögen sich, auch wenn De Ventura den Politiker Montanari nicht öffentlich kommentieren will. Sie will keinesfalls für ihn werben, auch nicht implizit. Dafür geht es in den anstehenden Regierungsratswahlen um zu viel.
Heute gibt es in der Schaffhauser Politik viele, die der Meinung sind, die SVP-Finanzdirektorin und ehemalige Richterin Cornelia Stamm Hurter sei unangefochten die starke Frau der Kantonsregierung. Und ein Regierungsrat Montanari könnte sich – abseits von Finanzthemen – zu einem echten Gegenspieler mausern. Dass er sich nicht scheut, Regierungsräte zu kritisieren, zeigte er nicht nur als GPK-Präsident, sondern auch bei seinem grossen Thema: der Gesundheitspolitik.
Schon vor über zehn Jahren forderte Montanari bessere Arbeitsbedingungen von Assistenzärzten am Kantonsspital. Später wollte er als erster Kantonsrat die Gewinnausschüttung der Spitäler an den Kanton stoppen, er warnte vor Abgängen von fähigen Ärzten und Rekrutierungsproblemen, stellte immer wieder kritische Fragen. 2020 sagte er in einem grossen Rundumschlag im Kantonsrat: «Was muss denn eigentlich noch passieren, dass wir endlich mal hinschauen? Braucht es Todesfälle? Ich sage Ihnen eines: Wenn es dazu kommen sollte, dann kann keiner von uns sagen, er hätte es nicht gewusst. Weil, ich habe es Ihnen heute gesagt. Und ich habe es Ihnen schon letztes Mal gesagt.»
Es ist vor allem diese fast schon gewerkschaftliche Position, die Montanari für die Linken gefährlich, weil vermeintlich wählbar, macht. Dabei gibt es für die Position einen simplen Grund: persönliche Betroffenheit.
Montanari wuchs in Thayngen als Sohn einer Apothekerin auf. Die Apotheke war im Parterre des Elternhauses. Als Kantischüler hatte er stets einen Rucksack mit allerlei medizinischem Gerät dabei; seit er einmal zufällig an einen kollabierten Mann auf der Strasse herantrat, der nicht wiederbelebt werden konnte, lag im Rucksack auch eine Beatmungsmaske. Montanari wurde Spitalsoldat, absolvierte Pflegepraktika und schliesslich eine Pflegehelferausbildung. Während der Coronazeit meldete er sich zum Freiwilligeneinsatz. Heute ist er mit einer Ärztin verheiratet, sie haben einen dreijährigen Sohn.
Gewinnt er im Sommer die Regierungsratswahl, dürfte Montanari das Departement des Innern und somit das Gesundheitsdossier vom scheidenden SP-Mann Walter Vogelsanger übernehmen.
Doch erst kürzlich bewies Marcel Montanari einmal mehr eindrücklich, dass er für Linke trotzdem kaum eine Option ist.
Der Ankereffekt
Als der Kantonsrat im vergangenen November das Budget 2024 debattierte, beantragte Montanari eine Steuersenkung von zehn Prozentpunkten, zweistellig, aus linker Perspektive eine pure Dreistigkeit. Schliesslich senkte der bürgerliche Kantonsrat die Steuern um acht Prozentpunkte.
Darauf angesprochen beginnt Montanari vom Ankereffekt zu erzählen, einem Begriff aus der Kognitionspsychologie, der besagt, dass der Mensch sich bei Entscheidungen stark an einem herausragenden Stück Information orientiert. In besagtem Fall eben an der Zahl zehn Prozentpunkte, welche den Kompromiss acht Prozentpunkte fast schon moderat erscheinen liess.
Philipp Zumbühl, wie Marcel Montanari Rechtsanwalt, hat damals mit diesem die Jungfreisinnigen Reiat gegründet. Heute sagt er, Monti habe schon früh ein grosses Verständnis für die formellen Aspekte der Politik gehabt. Dort hätten ja alle eine Meinung, aber Montanari verfüge auch über den Werkzeugkasten, Ideen tatsächlich umzusetzen. Deshalb entstehe vielleicht auch der Eindruck eines Spielers: Weil er seine Klaviatur beherrsche, etwa die Geschäftsordnung des Kantonsrats, und ihm die Politik deshalb Spass mache.
Doch die grosse Frage bleibt: Wäre Montanari auch dem Amt eines Magistraten gewachsen? Ein Regierungsrat muss vor allem führen, und führen musste er bisher nicht. Hört man ihm zu, kann es so schwierig nicht sein: «Die Leute müssen spüren, dass du das Gute willst. Dann kannst du auch etwas von ihnen erwarten», sagt er. Oder im Managementsprech: «Du musst das Soll definieren und das Ist evaluieren. Dann musst du die Leute motivieren, vom Ist zum Soll zu gehen. Und du musst die Komplexität herunterbrechen.» Die Augen werden wieder zu Schlitzen.
Montanari, die Wundertüte.