«Wir beobachten eine Zunahme häuslicher Gewalt»

20. Juni 2024, Natalia Widla
Olivia de Graaf (links) und Thyra Elsasser leiten die Fachstelle für Gleichstellung, Gewaltprävention und Gewaltschutz. Foto: Peter Pfister

Was braucht es im Kampf gegen Gewalt an Frauen? Thyra Elsasser und Olivia de Graaf, Leiterinnen der Fachstelle für Gleichstellung und Gewaltprävention, im Gespräch.

Vor zwei Jahren begannen der Bund und die Kantone mit der Umsetzung der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen (siehe Box). Im Kanton Schaffhausen wurde nun Anfang Juni ein erstes Zwischenfazit publiziert. Im Gespräch erklären die Co-Leiterinnen der Fachstelle für Gleichstellung, Gewaltprävention und Gewaltschutz, Thyra Elsasser und Olivia de Graaf, was bisher gemacht wurde, was noch ansteht und welche Hürden es zu überwinden gilt.

AZ Durch das Bekanntwerden der massiven Gewalt gegen Fabienne W. (die AZ berichtete) war das Thema Gewalt gegen Frauen in Schaffhausen in den letzten Wochen so präsent wie lange nicht mehr. Das wirft auch ein Schlaglicht auf Ihre Arbeit.

Thyra Elsasser Tatsächlich konnten wir beobachten, wie durch das Bekanntwerden dieser schrecklichen Taten Gewalt an Frauen plötzlich zu einem breit diskutierten Thema wurde – auch im Hinblick auf die Istanbul-Konvention und die Frage, wo der Kanton hier steht. Diese Richtung ist zu begrüssen, denn wir würden uns wünschen, dass beim Thema Gewalt gegen Frauen – das ohnehin selten viel Aufmerksamkeit bekommt – vermehrt auch über die strukturelle Ebene gesprochen würde.

Was meinen Sie mit strukturelle Ebene?

Elsasser Es geht darum, das Ausmass der Problematik und auch den Zusammenhang mit Geschlechterstereotypen zu begreifen – über den Einzelfall hinaus. Im Kanton Schaffhausen haben wir pro Jahr rund 300 registrierte Straftaten im Bereich der häuslichen Gewalt. Und das ist nur das Hellfeld: Wir müssen davon ausgehen, dass viele Betroffene nie eine Meldung machen.

Olivia de Graaf Auch bei sexualisierter Gewalt ist das Dunkelfeld gross: Wir wissen mittlerweile, dass nur 10 bis 15 Prozent der Fälle zur Anzeige gebracht werden. Es sind sehr viele Frauen betroffen: 2019 gaben 22 Prozent der befragten Frauen an, schon einmal ungewollte sexuelle Handlungen erlebt zu haben. Bei sexueller Belästigung waren es sogar 59 Prozent. Das zeigt: Geschlechtsspezifische Gewalt hat System.

Diese strukturelle Ebene nimmt die Istanbul-Konvention ins Visier: Am 5. Juni erschien der erste Bericht zu deren Umsetzung in Schaffhausen. Wo steht der Kanton beim Thema Schutz vor Gewalt gegen Frauen und Mädchen heute?

de Graaf Seit dem Inkrafttreten dieses Aktionsplans im September 2022 konnten wir 17 der 25 verabschiedeten Massnahmen initiieren; diese befinden sich also entweder in der Umsetzung, wurden schon abgeschlossen oder gehören – wie etwa die Sensibilisierung der Bevölkerung und der zuständigen Stellen – zu den Daueraufgaben.

Elsasser Wir haben letztes Jahr drei Sensibilisierungskampagnen durchgeführt, etwa die Kampagne «Toxic Love», die sich besonders an Kinder und Jugendliche richtet, oder die Aktionstage «16 Tage gegen Gewalt an Frauen». Vieles läuft aber auch weniger sichtbar im Hintergrund ab: So konnten wir den Kantonsbeitrag zur Finanzierung der Schaffhauser Opferberatungsstelle fast verdoppeln. Und uns ist schweizweit eine Pionierleistung gelungen: Gemäss Opferhilfegesetz haben nämlich Personen, die keine Straftat erlebt haben, keinen Anspruch auf eine Beratung durch eine Opferhilfestelle. Das trifft insbesondere bei der psychischen Gewalt zu, bei der oftmals noch kein Straftatbestand erfüllt ist, sodass die Menschen abgewiesen werden müssen. In Schaffhausen haben diese Personen jetzt neu auch Anspruch auf eine Beratung.

Im Umsetzungsbericht vom 5. Juni steht aber auch, dass acht der 25 geplanten Massnahmen des kantonalen Aktionsplans aus «Ressourcengründen» noch nicht initiiert werden konnten. Um welche Massnahmen handelt es sich dabei?

de Graaf Der Tätigkeitsbericht zeigt, dass wir viel geleistet haben, aber auch, dass es noch viel zu tun gibt. Die Ressourcen waren zu tief bemessen, um alles im vorgesehenen Tempo umzusetzen. Unter den acht Massnahmen, die noch nicht initiiert werden konnten, sind etwa die «Prüfung der kantonalen Datenerhebung auf statistische Vollständigkeit und interkantonale Vergleichbarkeit». Und die Erarbeitung und Umsetzung einer kantonalen Gleichstellungsstrategie. Diese konnte noch nicht initiiert werden, da sie im Kanton Schaffhausen auf der Bestandesaufnahme zum Thema Gleichstellung basiert, die wir eben abschliessen konnten. Mit diesem Massnahmenpaket zur Gleichstellungsstrategie werden wir also diesen Sommer beginnen. Auch einen Sensibilisierungsworkshop zum Thema gewaltbegünstigende Männlichkeitsvorstellungen konnten wir noch nicht initiieren. Und die Schaffung eines Beratungsangebots für Personen mit sexuellen Interessen an Kindern stehen ebenfalls noch an. 

Istanbul-Konvention

Die sogenannte Istanbul-Konvention («Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt») ist ein 2011 ausgearbeiteter und 2014 in Kraft getretener, völkerrechtlicher Vertrag. Als solcher schafft die Istanbul-Konvention verbindliche Rechtsnormen, die das Ziel verfolgen, Frauen und Mädchen vor verschiedenen Formen von Gewalt zu schützen. Von den 45 Unterzeichnerstaaten haben bis dato 38 den Vertrag ratifiziert, also national in Kraft gesetzt. In der Schweiz trat die Konvention im Frühjahr 2018 in Kraft. 

2022 wurden schliesslich mit dem «Nationalen Aktionsplan der Schweiz zur Umsetzung der Istanbul-Konvention» konkrete Massnahmen vom Bund, den Kantonen und Gemeinden festgelegt, die seither schrittweise initiiert werden. Der Kanton Schaffhausen hat zusätzlich einen eigenen Aktionsplan zur Umsetzung der Istanbul-Konvention verabschiedet.

In dem Bericht heisst es weiter, dass der Kanton zur Bereitstellung von genügend Schutzplätzen eine Leistungsvereinbarung mit dem Frauenhaus Winterthur abgeschlossen hat. Müsste man im Rahmen der Umsetzung der Istanbul-Konvention nicht priorisieren, ein kantonales Frauenhaus zu eröffnen? 

de Graaf Bis 2013 gab es im Kanton Schaffhausen ein Frauenhaus, welches von demselben Verein betrieben wurde, der auch die Fachstelle für Gewaltbetroffene betreibt. Man hatte sich damals dazu entschlossen, das kantonale Frauenhaus zu schliessen. Einerseits gab es durch die neue Möglichkeit der Wegweisung der gewaltausübenden Person durch die Polizei weniger Bedarf für Schutzunterkünfte, und andererseits ist die Geheimhaltung eines Standorts in einem so kleinen Kanton wie Schaffhausen fast unmöglich. Sollte es mal dazu kommen, dass das Frauenhaus Winterthur voll ist, können gewaltbetroffene Frauen weiterverwiesen werden, die Frauenhäuser in der Region stehen eng miteinander in Kontakt. Wir finden generell, dass die Angebotsplanung von Schutzunterkünften überregional passieren sollte, weil dadurch mehr Professionalisierung erreicht und die Kosten solidarisch verteilt werden können.

Der Kanton Schaffhausen hat auch eine Leistungsvereinbarung mit der FIZ (Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration) in Zürich abgeschlossen. Auf den ersten Blick scheint das etwas irritierend; Menschenhandel im beschaulichen Schaffhausen. 

Elsasser Das mag überraschen, aber leider gibt es auch im Kanton Schaffhausen Menschenhandel. Vor einigen Jahren stellte das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte sogar fest, dass Schaffhausen relativ zur Bevölkerungsgrösse ein grosses Risiko für Menschenhandel hat. Entsprechend hat der Kanton Schaffhausen seine Bemühungen in diesem Bereich verstärkt. Das führte wiederum dazu, dass in den letzten drei Jahren vier Fälle von Menschenhandel durch die Strafverfolgungsbehörden im Kanton aufgedeckt wurden, wobei pro Fall teilweise mehrere Personen betroffen waren. Auf kantonaler Ebene haben wir zusammen mit anderen Akteurinnen einen Runden Tisch gegen Menschenhandel ins Leben gerufen, wobei hier vor allem die Sensibilisierung sehr wichtig ist. Da Menschenhandel ein Delikt ist, das Opfer oftmals nicht selber zur Anzeige bringen, müssen die relevanten Stellen in der Lage sein, Anzeichen dafür zu erkennen.

Die Istanbul-Konvention ist in ihrer Umsetzung weitgehend föderal ausgestaltet: Die Kantone sind selbst dafür verantwortlich, konkrete Massnahmen umzusetzen. Wie bewerten Sie diesen Umstand?

Elsasser Das hat Vor- und Nachteile. Gerade für uns als kleiner Kanton entsteht dadurch die Möglichkeit, sehr spezifische, auf unsere Bedürfnisse zugeschnittene Angebote zu entwickeln. Zudem können wir stark vom Erfahrungsschatz, den Erfolgen und den Fehlern anderer Kantone lernen, da wir in einem intensiven Austausch mit ähnlichen Stellen in der ganzen Schweiz stehen. Gleichzeitig kann diese Verantwortlichkeit der Kantone auch zu einer gewissen Ineffizienz bei der Schaffung von Angeboten führen. Und was besonders störend ist: Zum Teil führt das dann auch zu ungleichen Bedingungen für Gewaltbetroffene, etwa bei den unterschiedlichen Ansätzen für die finanzielle Soforthilfe.

Eine vom Bund getragene und umgesetzte Massnahme im Kontext der Istanbul-Konvention ist die Einführung einer nationalen Hotline mit einheitlicher, dreistelliger Nummer, die voraussichtlich im November 2025 erfolgen soll.

Elsasser Die Arbeitsteilung sieht hier so aus, dass der Bund die Nummer zur Verfügung stellt, die einzelnen Kantone aber die Abdeckung der Anrufe auf ihrem Gebiet sicherstellen müssen – analog zur 117 oder 118. Die Neuerung ist, dass diese Nummer, im Gegensatz zum Angebot der Opferhilfe, rund um die Uhr bedient sein wird.

Wer wird in Schaffhausen dieses Telefon abnehmen?

Elsasser Wir sind aktuell dabei, mit einem Drittanbieter zu verhandeln und werden zu gegebener Zeit darüber informieren.

Welche Alternativen bieten sich bis dahin für Schaffhauserinnen an?

de Graaf Eine Person, die ausserhalb der Büroöffnungszeiten der Fachstelle für Gewaltbetroffene von häuslicher oder sexualisierter Gewalt betroffen ist und sich nicht zur Polizei gehen möchte, kann sich direkt an das Kantonsspital wenden. Dort ist es möglich, eine forensische Spurensicherung vorzunehmen –ohne Pflicht, das Delikt danach zur Anzeige zu bringen. Die entsprechenden Spuren werden in einer versiegelten Box eingelagert, was einer Person die Möglichkeit gibt, eine Anzeige oder generell das weitere Vorgehen im Nachhinein zu überdenken und sich von der Fachstelle für Gewaltbetroffene beraten zu lassen. Zudem können sich gewaltbetroffene Frauen, die in einer Akutsituation eine Schutzunterkunft brauchen, direkt beim Frauenhaus Winterthur melden.

Mit der Finanzierung der Beratungsstelle für gewaltbereite und gewaltausübende Personen, der Fachstelle Konflikt.Gewalt. ist Schaffhausen im Bereich Täterarbeit bereits einiges weiter als viele andere Kantone. Wie bewerten Sie den Stellenwert von Täterarbeit für die Umsetzung der Istanbul-Konvention?

de Graaf Sowohl bei häuslicher als auch bei sexualisierter Gewalt ist die Arbeit mit Tatpersonen absolut zentral. Denn gerade bei häuslicher Gewalt ist das Problem meist nicht einfach dadurch gelöst, dass sich zwei Personen trennen: Einerseits gibt es das Risiko von Nachtrennungsgewalt und andererseits kann die Tatperson auch in späteren Beziehungen wieder gewalttätig werden. Um das zu verhindern, muss mit den gewaltausübenden Personen gearbeitet werden. Die Fachstelle Konflikt.Gewalt bietet Beratungen für Personen an, die bereits Gewalt ausgeübt haben, aber auch für solche, die befürchten, in Zukunft gewalttätig zu werden. Besonders erfreulich ist, dass sich tatsächlich viele Personen von sich aus bei der Fachstelle Konflikt.Gewalt. melden und wir eine stetige Zunahme beobachten können.

Schweizweit werden auch steigende Zahlen von Meldungen zu häuslicher Gewalt festgestellt. Deckt sich das mit Ihren Erfahrungen? 

de Graaf Auch im Kanton Schaffhausen beobachten wir eine Zunahme von häuslicher Gewalt. In der polizeilichen Kriminalstatistik 2018 wurden 198 Straftaten im Bereich der häuslichen Gewalt erfasst, letztes Jahr waren es 287. Das entspricht einer Zunahme von 45 Prozent. Von den knapp 600 Personen, die die Fachstelle für Gewaltbetroffene letztes Jahr beraten hat, waren rund die Hälfte von häuslicher Gewalt betroffen. Das ist besorgniserregend. Für uns ist es aber schwer zu beurteilen, ob diese Zunahme daher rührt, dass es vermehrt zu Gewalt kommt, oder ob vermehrt Meldungen gemacht werden, da die Sensibilität für solche Gewalttaten und die Bekanntheit der entsprechenden Hilfsangebote gestiegen ist.

Am 1. Juli tritt schweizweit das revidierte Sexualstrafrecht in Kraft. Neu ist etwa für die Bewertung einer Tat als Vergewaltigung keine körperliche Gegenwehr mehr notwendig, lediglich ein Nein. Was erhoffen Sie sich von dieser Revision? 

de Graaf Für uns ist diese Revision absolut zentral. Vor allem, weil im Rahmen der Widerspruchslösung «Nein-heisst-Nein» neu auch das Freezing, also das «Einfrieren» einer Person, nicht länger als Einwilligung gewertet wird, sondern denselben Stellenwert erfährt wie ein mündliches Nein. Wir erhoffen uns von dieser Revision eine breitere und vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema Konsens in unserer Gesellschaft. Im Kontext der Istanbul-Konvention ist uns eine konsequente Umsetzung der Revision sowie die Sensibilisierung der involvierten Akteurinnen im Kanton Schaffhausen ein grosses Anliegen.

Die jetzige Revision hat 30 Jahre gebraucht. Auch sonst geht es in den Bereichen sexualisierte und partnerschaftliche Gewalt in der Schweiz nur sehr langsam voran. Wo werden wir im Jahr 2030 im Hinblick auf den Schutz von Frauen vor Gewalt stehen?

Elsasser Eine Prognose ist schwierig, aber wir sind motiviert und zuversichtlich, dass wir als Kanton bis dahin weitere wichtige Fortschritte machen werden – zum Beispiel bei der Datenerfassung. Wir hoffen, dass es schweizweit mit der Etablierung von spezialisierten Krisenzentren vorangeht und dass häusliche und sexualisiert Gewalt standardmässig in allen Ausbildungen von potenziellen Ansprechpartnerinnen als Thema verankert wird. Es gibt auch heute noch viele falsche Vorstellungen bezüglich häuslicher und sexualisierter Gewalt. Ein breites Verständnis von Gewaltdynamiken und das Ausräumen von Vergewaltigungsmythen ist zentral dafür, dass sich wirklich etwas ändern kann. Wir hoffen auch auf Fortschritte im Bereich der Gleichstellung, die einen direkten Zusammenhang mit häuslicher Gewalt hat, etwa, was finanzielle Abhängigkeiten betrifft. Und darauf, dass Lücken im Opferhilfegesetz geschlossen werden können, etwa was Tatorte im Ausland und psychische Gewalt betrifft. Und nicht zuletzt erhoffen wir uns natürlich, dass die Gewaltprävention fruchtet und es entsprechend gesamthaft zu weniger Gewalt gegen Frauen und Mädchen kommt.

Dieses Interview wurde mit Unterstützung von Journafonds umgesetzt.