Im Fall Fabienne W. stehen die Schaffhauser Ermittlungsbehörden stark in der Kritik. Ist diese Kritik gerechtfertigt? Teil 2 unserer Recherche.
Die brutale Gewalttat in der Schaffhauser Anwaltswohnung, die von der Rundschau öffentlich gemacht wurde, beherrscht nach wie vor die Schlagzeilen in den etablierten wie in den sozialen Medien. Vergangene Woche lasen Sie in der Schaffhauser AZ in einer Rekonstruktion des Abends, dass die Geschehnisse komplexer waren als in der Rundschau dargestellt. Im zweiten Teil steht die Arbeit der Schaffhauser Behörden im Fokus.
Drei zentrale Fragen stehen im Raum: Wurde Fabienne W. nach den Misshandlungen adäquat untersucht? Hat die Polizei bei der Beweissicherung unsauber gearbeitet? Und warum hat die Staatsanwaltschaft zweieinhalb Jahre nach der Gewalttat noch immer keine Anklage erhoben?
Grundlage für unsere Beurteilung sind vor allem Einvernahmeprotokolle aller Beteiligten, medizinische Untersuchungsberichte, Videoaufnahmen der Tatnacht, kriminaltechnische Berichte, Beweisanträge und staatsanwaltschaftliche Entscheide sowie der Schriftverkehr zwischen der Anwältin von Fabienne W. und der Staatsanwaltschaft.
Wurde W. adäquat untersucht?
29. Dezember 2021. Nachdem der Begleiter von Fabienne W. am Morgen nach den Gewalttaten die Ambulanz gerufen hatte und kurz darauf auch die Schaffhauser Polizei eintraf, wurde das Opfer um 6.34 Uhr vor Ort erstmals befragt. Die Rundschau berichtete, sie habe dabei unter anderem gesagt, dass sie auch von «Schmerzen zwischen den Beinen» gesprochen habe. Zweieinhalb Stunden danach wurde sie von einem Arzt des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Zürich untersucht. Dieser untersuchte die äusseren Verletzungen von Fabienne W. und hielt diese detailliert in einem siebenseitigen Bericht zuhanden der Staatsanwaltschaft fest. Die Diagnose: ein Schädelhirntrauma ersten Grades und ein Brillenhämatom, ausserdem Prellungen an den Armen mit mehreren Hämatomen und Prellungen am Knie. Die Rundschau kritisierte: «Den Schmerzen zwischen den Beinen wird nicht nachgegangen.» Dies sei «unverständlich», kommentierte im Beitrag der unabhängige Strafverteidiger Konrad Jeker.
Die Schaffhauser Staatsanwaltschaft widerspricht dieser Darstellung gegenüber der AZ und sagt, Fabienne W. sei vom rechtsmedizinischen Institut gemäss dem damals bekannten Vorfall untersucht worden – einer Prügelei: «Zu keinem Zeitpunkt in diesem Verfahren war es ein Thema, dass in der Wohnung des Anwalts eine Vergewaltigung stattgefunden haben soll.» Diese Darstellung der Staatsanwaltschaft ist nach Sichtung der zur Verfügung stehenden Quellen plausibel: Fabienne W. selbst hat weder gegenüber der Polizei noch gegenüber der Rundschau ausgesagt, dass es in der Anwaltswohnung zu einem sexuellen Übergriff gekommen sei.
In ihrer Recherche warf die Rundschau jedoch die Frage auf, ob in den sieben Minuten, in denen Fabienne W. mit den Männern im Nebenzimmer war, in dem keine Videokameras vorhanden waren, ein sexueller Übergriff stattgefunden haben könnte. Die Rundschau relativiert nun gegenüber der AZ: «Wir suggerieren nicht, dass eine Vergewaltigung in der Anwaltswohnung stattgefunden haben könnte, sondern fragen, warum Fabienne W., die über Schmerzen zwischen den Beinen klagte, nicht entsprechend rechtsmedizinisch untersucht wurde.»
Die Staatsanwaltschaft sieht das auf Anfrage anders: «Dass jetzt die ganze Schweiz denkt, es habe in der Wohnung eine Gruppenvergewaltigung gegeben, ist der Berichterstattung der Rundschau geschuldet.»
Wieso aber ging das Institut für Rechtsmedizin den Schmerzen zwischen den Beinen nicht nach, von denen Fabienne W. bereits in der ersten Einvernahme gesprochen hatte?
Einen ersten Hinweis darauf erhält man, wenn man das Rundschau-Zitat in den Kontext setzt. Das Opfer sagte in der bereits erwähnten Einvernahme im Wortlaut: «Ich habe auch Schmerzen zwischen den Beinen, wozu ich vielleicht sagen kann, dass ich vor ca. fünf Tagen vergewaltigt wurde. (In einer späteren Einvernahme präzisierte sie, dass sie die mutmassliche Vergewaltigung durch «Peter» meinte, die nicht fünf, sondern zwölf Tage vor der Untersuchung durch die Rechtsmediziner stattgefunden hatte, Anm. der Red.) Was heute passiert ist, weiss ich nicht mehr. Ich habe an den Beinen, zwischen den Beinen, an den Armen und am Kopf extreme Schmerzen.»
Laut einer Handnotiz der zuständigen Staatsanwältin von besagtem Morgen, die der AZ vorliegt, fragte diese den zuständigen Arzt am Institut für Rechtsmedizin, ob eine gynäkologische Untersuchung sinnvoll und angebracht sei. Der Arzt habe geantwortet: Da ihre mutmassliche Vergewaltigung einige Tage zurückliege, mache eine gynäkologische Untersuchung keinen Sinn.
Entspricht dieses Vorgehen den Vorgaben? Michael Thali, Abteilungsleiter Forensische Medizin und Bildgebung des Instituts für Rechtsmedizin, hat keine Kenntnisse des Falls. Er sagt gegenüber der AZ aber allgemein, dass ein gynäkologischer Untersuch durchgeführt werde, sobald es Hinweise auf Verletzungen der sexuellen Integrität gebe. Gebe es jedoch keine entsprechenden Aussagen oder Hinweise, werde von einer gynäkologischen Untersuchung abgesehen; nicht nur aus Effizienz- und Kostengründen, sondern auch weil es sich dabei um einen Eingriff in die körperliche Integrität des Opfers handle. Ausserdem bräuchte es für eine gynäkologische Untersuchung die explizite Einwilligung des Opfers. Im Fall Fabienne W. ist im Protokoll der Polizei zur Untersuchung des Instituts für Rechtsmedizin vermerkt: «Der rechtsmedizinische Untersuch konnte nur in sehr eingeschränktem Mass vorgenommen werden, da [Fabienne W.] sich vor Erschöpfung nicht mehr wachhalten konnte und folglich eingeschlafen war.»
Die Rundschau hält diesbezüglich an ihrem Standpunkt fest: «Aufgrund der uns vorliegenden Akten wird klar: Weder Polizei noch Staatsanwaltschaft gaben dem Institut für Rechtsmedizin die Information weiter, dass Fabienne W. von extremen Schmerzen zwischen den Beinen berichtet hatte. Ergo: Das Institut hatte offenbar nicht alle relevanten Infos und sah keinen Anlass für einen gynäkologischen Untersuch – aber nur, weil diese relevanten Infos nicht geflossen sind.»
Zumindest gemäss den Informationen, die der AZ vorliegen, sind die offiziellen Stellen bei der körperlichen Untersuchung – anders als die Rundschau behauptet – jedoch offenbar korrekt mit dem Opfer umgegangen.
Soweit zur Untersuchung. Kommen wir nun zum zweiten Punkt: der Rolle der Polizei.
Die Rolle der Polizei
Am darauffolgenden Tag ordnete die Schaffhauser Staatsanwaltschaft um 14.15 Uhr eine Hausdurchsuchung in der Anwaltswohnung an. Da bekannt war, dass die Wohnung videoüberwacht war, lautete der Auftrag auf «Spurensicherung» sowie die «Sicherstellung der Videoüberwachungsbilder». Die Polizei traf um 15.05 Uhr in der Wohnung ein, dort sagte ihnen der Anwalt, dass die Videoaufnahmen zwar existierten, dass jedoch der Bildschirm, auf dem man sie ansteuern könne, kaputt sei. Es handelte sich dabei mutmasslich um den Fernseher, der in der vergangenen Nacht beschädigt worden war. Schliesslich filmte die Polizei die Überwachungsbilder vom Mobiltelefon des Anwalts ab, wo sie offenbar auch abrufbar waren.
Im Polizeiprotokoll wurde daraufhin vermerkt: «Da die Aufnahmen von geringer Qualität und ohne Ton waren, gaben sie nicht viel Aufschluss über den Tathergang. Die Aufzeichnungen ab dem eigentlichen Speichermedium konnten technisch vorerst nicht gesichert werden.» In der Rundschau sagte der Experte Konrad Jeker, das Vorgehen der Polizei sei «unglaublich» und widerspreche «kriminalistisch allen Standards». Die Beamten hätten den Datenträger unbedingt beschlagnahmen müssen.
Die Staatsanwaltschaft rechtfertigt sich gegenüber der AZ folgendermassen: «Die Schaffhauser Polizei hatte den Auftrag, die Videoaufnahme zu sichern. Der damals nicht tatverdächtige Anwalt hätte seinen Computer, der sich in seiner Anwaltskanzlei (die Wohnung war offiziell seine Anwaltskanzlei) befand, siegeln lassen, dann hätten wir die Bilder monatelang nicht auswerten können. So, mit seinem Einverständnis, hatten wir bereits am zweiten Ermittlungstag einen Überblick über den relevanten Sachverhalt, der uns zur Anzeige gebracht worden war.»
Auf den abgefilmten Videoaufnahmen stellten die Strafverfolgungsbehörden laut Ermittlungsprotokoll jedoch fest, dass die Wohnung über zwei Kameras verfügte, also ordnete die Staatsanwaltschaft am folgenden Tag eine zweite Hausdurchsuchung an. Um 14.15 Uhr kam die Polizei erneut in der Anwaltswohnung an und sicherte die Videoaufnahmen beider Kameras auf einen USB-Stick. Dabei, so die Rundschau, habe der Anwalt der Polizei geholfen, die Daten auf den Stick zu laden.
Doch auch die nun gesicherten Daten waren nicht zufriedenstellend. Im Polizeiprotokoll ist dazu zu lesen: «Bei einer Sichtung der sichergestellten Daten bei der Schaffhauser Polizei konnte festgestellt werden, dass ein Teil der Daten nicht richtig auf den Stick geladen worden war. Deshalb musste gleichentags, in der Zeit von 16.15 bis 16.45 Uhr, nochmals [beim Anwalt] vorgesprochen und die Daten nochmals sichergestellt werden.»
Das gesamte Vorgehen zeigt: Die Polizei hat, wie von Konrad Jeker in der Rundschau kritisiert, alles andere als sauber gearbeitet – auch wenn die besagten Daten, wie von der Staatsanwaltschaft dargelegt, schliesslich noch am zweiten Ermittlungstag vorlagen.
Was im Rundschau-Beitrag besonders für Kritik sorgte, war jedoch nicht nur die unsaubere Art der Datenbeschaffung durch die Polizei, sondern auch der kollegiale Umgang der Beamten mit dem Anwalt. So sprachen sie, während sie die Videoaufnahmen der Tatnacht abfilmten, über Musik und das Ausgangsleben in Schaffhausen. Als auf den Videos die Gewalttaten der Männer an Fabienne W. zu sehen waren, kommentierte einer der Beamten die Gewaltszenen auf den Aufnahmen mit dem Satz: «Das ist aber auch nicht ohne, dieses ganze Spiel.»
Die Staatsanwaltschaft sagt dazu, dass der Anwalt zu diesem Zeitpunkt nicht Beschuldigter, sondern «eine (unverdächtige) Drittperson» gewesen sei. Doch das alleine kann den kollegialen Umgangston kaum erklären. Wie vergangene Woche in der AZ zu lesen war, wurde der Anwalt in Schaffhausen seit Jahren als eine Art harmloses Stadtoriginal angesehen. Gut möglich, dass dieses Bild auch in den Köpfen der Polizisten mitschwang, als sie in seiner Wohnung standen, auch wenn der Beamte, der damals mit dem Anwalt plauderte, diesen offenbar nicht persönlich kannte. Belegen lässt sich das zwar nicht, aber man darf sich vor diesem Hintergrund durchaus fragen, ob die Polizisten mit einer anderen «unverdächtigen Drittperson», in deren Wohnung tags zuvor eine Frau krankenhausreif geschlagen worden war, weniger kumpelhaft umgegangen wäre.
Die unsaubere Datenbeschaffung und der saloppe Umgangston hätten wohl einzeln betrachtet keine derart grosse Empörung ausgelöst. Dass aber beides zusammen kam, wirft ein schlechtes Licht auf die Polizeiarbeit.
Die Rolle der Staatsanwaltschaft
Am 14. Februar 2022, also etwas mehr als zwei Monate nach den Gewalttaten an Fabienne W. in der Wohnung des Anwalts, eröffnete die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren gegen die vier Männer wegen Tätlichkeiten, Nötigung, Gewaltdarstellungen, Angriffs, einfacher Körperverletzung und Gefährdung des Lebens.
Am 24. März 2022 stellte die Rechtsanwältin von Fabienne W. einen Beweisantrag: Sie forderte, dass sämtliche Videoaufnahmen aus der Anwaltswohnung ab abends um 20 Uhr ausgewertet werden, da aus den sichergestellten Aufnahmen nicht hervorgehe, was dem Angriff vorausgegangen sei. Weil die Erinnerungen von Fabienne W. «verschwimmen», erschien es der Anwältin elementar, dass der Ablauf des gesamten Abends rekonstruiert werde.
Die Staatsanwaltschaft argumentierte, dass die gesicherten Videoaufnahmen bereits einen Zeitraum von circa 120 Minuten vor den strafrechtlich relevanten Handlungen umfasse. In dieser Zeit scheine die Stimmung «ausgelassen und nicht ersichtlich aggressiv» gewesen zu sein; «erst ab ca. 6.07 Uhr kommt es zu ersten Diskussionen insbesondere zwischen der Privatklägerin und dem Beschuldigten, welche somit als eigentlicher Auslöser des späteren Geschehens erscheinen.» Der Beweisantrag wurde abgelehnt.
Wichtig ist dabei zu wissen: Von einem möglichen Zusammenhang zum anderen Fall zwölf Tage zuvor, der mutmasslichen Vergewaltigung durch «Peter», wie er in der Rundschau genannt wurde, war zu diesem Zeitpunkt nichts bekannt. Dieser Zusammenhang wurde erst über ein Jahr nach der Tatnacht hergestellt:
Am 10. Februar 2023 beantragte die Rechtsanwältin von Fabienne W., die Mobiltelefone der Beschuldigten seien sicherzustellen und auszuwerten. Sie schrieb, ihre Mandantin Fabienne W. sei darauf angesprochen worden, dass Handyvideos der Gewalttaten herumgezeigt würden.
Bereits zwei Wochen zuvor, am 26. Januar 2023, hatte Fabienne W. selber die Staatsanwaltschaft angerufen und mitgeteilt, sie habe über ihre Anwältin ein Video gesehen, auf dem zu hören sei, dass die Täter den Namen von «Peter» genannt hätten. Die Polizei rapportierte: «Sie vermute nun, dass sie von […] den Männern aus Rache für die Anzeige gegen [Peter] geschlagen worden sei.» (Im ersten Teil dieser AZ-Recherche war fälschlicherweise zu lesen, Fabienne W. habe diese Meldung schon ein Jahr zuvor, am 26. Januar 2022, gemacht. Dieser Fehler geht zurück auf einen Tippfehler in den polizeilichen Akten.)
Da es nun Anzeichen gab, dass die beiden Fälle miteinander verlinkt sein könnten, legte die Staatsanwaltschaft beide Verfahren zusammen, kam dem Antrag der Anwältin des Opfers nach und veranlasste eine Hausdurchsuchung, damit nun auch die Mobiltelefone des Anwalts eingezogen würden (die Mobiltelefone der anderen Beteiligten waren bereits zu einem früheren Zeitpunkt ausgewertet worden). Die Polizei stellte daraufhin ein Handy des Anwalts sicher, nach weiteren Handys wurde nicht gesucht. Auf dem beschlagnahmten Handy wurde nur ein Video gefunden, welches jedoch nicht aus der Tatnacht stammte. Erneut kommentierte der Experte Konrad Jeker in der Rundschau, die Polizei habe den «Job nicht gemacht», da sie nach weiteren Handys hätte suchen sollen.
Was in den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft im Fall Fabienne W. seither geschah, ist aus den Akten, welche der AZ vorliegen, nicht ersichtlich. Die AZ weiss jedoch, dass am vergangenen Montag in der Justizkommission des Kantonsrats ein Dokument der Staatsanwaltschaft diskutiert wurde, in dem auf über zehn Seiten alle Ermittlungsschritte in den beiden zusammengelegten Verfahren aufgelistet sind. Demnach wurden in der Zwischenzeit auf Antrag der Opferanwältin diverse Beweissicherungen, Zeugenbefragungen vorgenommen und ein phonetisches Tongutachten erstellt. Da die beiden Ermittlungen sich gegenseitig beeinflussen, verzögern sie sich entsprechend. Mit anderen Worten: In den Fällen wurde durchaus gearbeitet.
Das Verfahren gegen den mutmasslichen Vergewaltiger «Peter» wurde am 23. Januar 2023 von der Staatsanwaltschaft eingestellt, Fabienne W. hat gegen den Entscheid jedoch Berufung eingelegt, weshalb das Verfahren nach wie vor hängig ist. Das zweite Verfahren über die Gewalttat in der Anwaltswohnung ist ebenfalls hängig, auch zweieinhalb Jahre nach der Gewalttat in der Anwaltswohnung hat die Staatsanwaltschaft noch keine Anklage erhoben.
Fragt man die Staatsanwaltschaft nach den Gründen für die lauge Dauer, argumentiert sie – unabhängig von der Komplexität des zusammengelegten Verfahrens – vor allem mit der hohen Falllast. Dies ist ein wichtiger Punkt. Die AZ weiss, dass jede einzelne Staatsanwältin derzeit über hundert Fälle pendent hat. Laut Verwaltungsbericht des Kantons Schaffhausen waren im Jahr 2023 308 Strafverfahren älter als zwei Jahre, 179 Verfahren waren gar älter als drei Jahre. Der Fall Fabienne W. ist diesbezüglich also kein Einzelfall. Die AZ hat schon mehrfach über die überforderte Schaffhauser Strafjustiz geschrieben (siehe etwa den Kommentar «Mühe mit grossen Fällen» in der Ausgabe vom 14. April 2022). Das Phänomen betrifft auch nicht nur den Kanton Schaffhausen. Im vergangenen Herbst berichtete der Tages Anzeiger, dass schweizweit bei den Staatsanwaltschaften über 100 000 Fälle pendent seien und das Schweizer Justizsystem zu kollabieren drohe. Fachleute machen den Grund dafür vor allem in der Änderung der Strafprozessordnung von 2011 verantwortlich, die den Beteiligten von Strafverfahren mehr Verfahrensrechte einräumte, was die Verfahren in die Länge ziehe. Erst kürzlich, im April 2024, hat die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren eine nationale Analyse bewilligt, um das Problem klar zu umreissen.
Diese langen Verfahrensdauern zermürben die Opfer. So sagte Fabienne W. in der Rundschau, sie fühle sich im Stich gelassen, «weil niemand etwas tut».
Die AZ hat in den vergangenen Tagen mit diversen Fachleuten und Kennerinnen der Schaffhauser Strafverfolgungsbehörden über diese Probleme gesprochen und dabei auch den Eindruck einer Staatsanwaltschaft erhalten, die in den vergangenen Jahren – auch im Zuge der immer grösser werdenden Falllast – stark gewachsen ist. Allein auf das Jahr 2023 hat der Schaffhauser Kantonsrat 9,6 zusätzliche Vollzeitstellen bei der Staatsanwaltschaft gesprochen. Dabei wurde auch mehrfach angedeutet, dass das Problem mit zusätzlichem Personal nicht automatisch behoben werden könne. Es wurde auch angezweifelt, ob die Strukturen der Behörde, ihre internen Abläufe und ihr Führungsstil dem rasanten Wachstum gerecht werden, und ob es nicht Restrukturierungsmassnahmen bei der Staatsanwaltschaft brauche. Zitieren lassen will sich mit dieser Kritik jedoch niemand.
Was geschieht jetzt?
Im Nachgang des Rundschau-Beitrags und des öffentlichen Drucks stellten verschiedene Kantonsrätinnen von SP, Junge Grüne und GLP in einer Interpellation Fragen. Sie wollen unter anderem wissen, ob der Regierungsrat bereit ist, eine unabhängige externe Untersuchung der Vorkommnisse im Fall Fabienne W. in Auftrag zu geben.
Der Regierungsrat gab daraufhin bekannt, dass er eine solche Untersuchung in Auftrag gegeben habe. SVP-Sicherheitsdirektorin Cornelia Stamm Hurter erklärte, dass Andreas Donatsch, ein emeritierter Strafrechtsprofessor der Universität Zürich, der in frühen Jahren für die Graubündner Kantonspolizei gearbeitet hatte, das «kritisierte Verhalten der an den Ermittlungshandlungen beteiligten Mitarbeitenden der Schaffhauser Polizei» untersuchen werde. SP-Kantonsrätin Linda De Ventura zweifelte daraufhin öffentlich an der Glaubwürdigkeit der Auftragsvergabe. Aus ihrer Sicht wäre es besser gewesen, wenn die Untersuchung von einer parlamentarischen Kommission in Auftrag gegeben worden wäre und nicht vom Regierungsrat selber, dem die Polizei und die Staatsanwaltschaft unterstehen.
Die Auftragsvergabe von Regierungsrätin Stamm Hurter erscheint wie ein taktisches Manöver, um etwas Ruhe in die Sache zu bringen; dass im Zuge der externen Untersuchung fundamentale strukturelle Probleme bei der Polizei zu Tage gefördert werden, ist kaum zu erwarten. Derartige Gutachten stehen immer in einem komplexen politischen Spannungsfeld, ihr Ausgang ist mitunter wenig aussagekräftig.
Vor dem Hintergrund der oben skizzierten strukturellen Probleme bei der Staatsanwaltschaft, welche das Verfahren im Fall Fabienne W. leitete, ist jedoch vor allem bemerkenswert, dass deren Arbeit und Struktur im Gegensatz zur Arbeit der Polizei nicht untersucht werden soll. SVP-Justizdirektor Dino Tamagni argumentiert, es sei nicht möglich, die Art und Weise der Untersuchungsführung durch die Staatsanwaltschaft von unabhängigen Experten beurteilen zu lassen, ohne die Urteilsbildung der Gerichte einzuschränken. Die Schaffhauser Nachrichten schrieben vergangenen Samstag in einem Kommentar: «Die Arbeit der Staatsanwaltschaft hat bisher keinen Anlass zur Klage gegeben, Hinweise, dass dort nicht korrekt gearbeitet wird, gibt es nicht.» Diese Interpretation erscheint vor dem Hintergrund der strukturellen Probleme verkürzt.
Gerade bei der Staatsanwaltschaft wäre es wichtig zu wissen, zu welchen Schlüssen unabhängige Gutachterinnen oder auch andere Untersuchungen wie eine interne Strukturanalyse kommen würde. Eine solche Bestandesaufnahme würde in erster Linie zukünftigen Opfern wie Fabienne W. helfen, aber auch den Behörden selber. Denn eines erscheint klar: Müsste Fabienne W. nach ihrer brutalen Misshandlung nicht derart lang darauf warten, bis die Täter für ihre Taten endlich zur Rechenschaft gezogen werden, hätte sie sich auch nicht gezwungen gefühlt, die Medien einzuschalten.