zur Kritik an unserer Recherche «Eskaliert» in der AZ vom 30. Mai 2024
Vor einer Woche publizierte die AZ eine Recherche zu den Gewalttaten in einer Schaffhauser Anwaltswohnung und zum Rundschau-Beitrag, der sie ans Licht gebracht hatte. Der Artikel löste sehr viele Reaktionen aus, darunter eine Welle der Kritik, besonders in den sozialen Medien, aber auch in direkten Gesprächen mit uns Redaktorinnen und Redaktoren. (Diejenigen Reaktionen, die uns als Leserbriefe erreichten, sind in der AZ vom 6. Juni auf Seite 9 publiziert.)
Der Artikel hat viele Menschen empört, enttäuscht und verletzt. Das ist die Folge einer Reihe von Fehlern, auf die wir im Folgenden eingehen.
In einer ersten kurzen Stellungnahme auf Instagram haben wir eine Aufarbeitung des Artikels und der Kritik an ihm versprochen. Intern hat das Vorgefallene bei uns eine Debatte über die Abläufe vor Publikation eines Artikels sowie über internalisierte Stereotype in Gang gebracht, die noch nicht abgeschlossen ist. Dieser Text ist der öffentliche Teil dieser Auseinandersetzung. Er soll zunächst aufzeigen, was die Absicht des Textes war, und dann, was in der Folge falsch lief.
Der Rundschau-Beitrag vom 29. Mai hat auch an unserem Redaktionstisch Fassungslosigkeit und intensive Gespräche ausgelöst. Die brutale Gewalt an Fabienne W. hat uns alle verstört. In den folgenden Tagen recherchierten wir intensiv dazu und realisierten bald, dass die Rundschau in einigen Punkten unsauber gearbeitet hatte. Der Beitrag enthielt Zuspitzungen und Verkürzungen; gerade der implizite Vorwurf, dass die Tat im Voraus geplant war, um das Opfer von einer Anzeige abzuhalten, ist gemäss unseren Recherchen zweifelhaft.
Dies wollten wir in unserem Artikel aufzeigen. Und hinter diesem Ansatz stehen wir heute noch. Jedoch haben wir dabei aus den Augen verloren, wie schwierig es ist, einen Teil der Berichterstattung der Rundschau zu kritisieren, ohne gleichzeitig die brutalen Taten zu relativieren. In unserem journalistischen Ehrgeiz, die Arbeit der wirkungsmächtigen und meinungsbildenden Rundschau kritisch zu würdigen, geriet die Hauptaussage der Sendung – dass eine Frau von Männern brutal verprügelt wurde und die Behörden, die sie schützen sollten, stellenweise versagten – aus unserem Fokus.
Aus diesem Grund sind uns eine Reihe von Fehlern unterlaufen.
- Wir haben im Bericht ein Bild des Opfers Fabienne W. erschaffen, das geeignet ist, die Gewalt zu relativieren, die ihr angetan wurde. Es ist uns wichtig, klarzustellen: Das Verhalten des Opfers ist irrelevant für den Fakt, dass die Männer ihr brutale Gewalt angetan haben. Alle Vorzeichen ändern nichts an der Tat an sich. Das hat unser Artikel nicht klar dargestellt und wurde deshalb zu Recht dem Vorwurf der Täter-Opfer-Umkehr ausgesetzt.
- Mit der protokollhaften Chronologie der Nacht haben wir versucht, «Objektivität» herzustellen. Das war eine fehlgeleitete Idee. Als Journalistinnen und Journalisten hätten wir wissen müssen, dass keine einzelne Sicht objektiv sein kann – auch unsere nicht. Stattdessen wäre unsere Aufgabe gewesen, Kontext und Einordnung zu unseren Rechercheergebnissen zu liefern, etwa durch Expertinnenstimmen, welche die Mechanismen bei der Entstehung von Gewalt hätten aufzeigen können.
- Durch die Länge und Ausführlichkeit des Protokolls wurden die Beteiligten, vor allem auch das Opfer, zusätzlich greifbar. Es ist ein journalistischer Reflex, Ort und Figuren einer Geschichte greifbar machen zu wollen, um eine Handlung einordnen zu können. In diesem Fall aber haben Details in der Darstellung von Fabienne W. – wie ihr sozioökonomischer Status oder die Art und Menge an Substanzen, die sie an jenem Abend konsumiert hatte – dazu geführt, dass sie zusätzlich stigmatisiert wurde.
- Ein Fehler war auch die Verwendung des Wortes «angeblich» im Bezug auf die mutmassliche Vergewaltigung zwölf Tage vor der Nacht in der Anwaltswohnung. Diese Formulierung hat Fabienne W. als unglaubwürdig dargestellt und vorverurteilt.
- In der Sendung «Easy Riser» auf Radio Rasa sprach unser Autor Marlon Rusch kurz nach Erscheinen des Artikels live über unsere Geschichte. Dabei machte er die Aussage, niemand sei zu hundert Prozent ein Opfer und niemand zu hundert Prozent ein Täter. Diese Aussage war unüberlegt und komplett falsch. Marlon Rusch bittet dafür um Entschuldigung. Gerade, dass die Aussage spontan entstand und nicht überlegt war, ist ein Sinnbild dafür, dass in vielen Köpfen nach wie vor Bilder herumgeistern, die dort nicht hingehören.
Unser Text von vergangener Woche ist unter grossem Druck entstanden. Nur wenige Tage lagen zwischen dem Beginn der Recherche und der Publikation. Mit der schnellen Veröffentlichung sind wir dem journalistischen Reflex erlegen, sofort auf die Dynamik reagieren und die Geschehnisse gemäss unserer Recherche einzuordnen zu wollen. Dabei wäre Letzteres gerade erst möglich geworden, wenn wir zugewartet, reflektiert und in Ruhe nach der passenden Erzählweise für unsere Rechercheergebnisse gesucht hätten. Die Aufteilung der Analyse in zwei Teile, die dazu führte, dass die Arbeit der Behörden im ersten Text nicht kritisch untersucht wurde (siehe dazu den zweiten Teil ab Seite 4 der AZ vom 6. Juni) hat die problematische Gewichtung noch verstärkt.
Wir bitten alle, die unser Text verletzt oder sogar retraumatisiert hat, um Entschuldigung.
Die Redaktion der Schaffhauser AZ