Die Landbank Clientis schliesst fast alle Filialen im Klettgau. Die Bevölkerung ist aufgebracht. Es geht ums historische Erbe, ums Sterben und um Hausi Leuteneggers erste Million.
Der Bankschalter ist die Mitte der Schweiz, und in Hallau ist er am Montag von neun Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags geöffnet, weil sich längere Öffnungszeiten anscheinend nicht rentieren.
Gerade sind die ersten Weindegustationen durchs Programm gezogen, als wir in Hallau ankommen, diesem Dorf mit kleinstädtischem Häuserbau inmitten von Rebbergen, von dem die Dickschädeligkeit (laut Auswärtigen) oder Prinzipientreue (laut Einheimischen) so sagenhaft ist, dass der frühere Dorfpfarrer Gerhard Blocher verkündete, Hallauer Recht breche Bundesrecht.
Im Zentrum von Hallau steht ein langer Bau mit elektronischer Schiebetür aus Glas, der Hauptsitz der Clientis BS Bank Schaffhausen. Es ist der letzte Bankschalter im Ort.
«Es wird langsam einsam hier», sagt ein etwas grimmiger Mann, Chef eines kleinen Betriebs. «Ich brauche den Schalter, um die Löhne auszuzahlen. Schliesst er, musst du ins Auto hocken, fährst zum nächsten Schalter, blickst in ein fremdes Gesicht.» Aus irgendeinem Grund will er seinen Namen nicht verraten.
Fliessende Milch und Apfelwähe
Die BS Bank roch immer nach Kuhstall und selbstgemachter Apfelwähe, sie stand für hellblaue Sonnenschirme am Turnfest, für endlos fliessende frische Milch und für Männer mit Schnäuzen, die eigentlich kein Vorsorgeportfolio abschliessen wollen, weil sie dem Finanzmarkt grundsätzlich argwöhnisch begegnen, aber es dennoch tun, denn sie vertrauen dem Berater der Bank, und nach der Pensionierung sagen sie: «Dasch ä gueti Sach.»
Spätestens Ende März 2024, als die Geschäftsleitung eine Pressemitteilung verschickte, musste man diese Bilder anzweifeln. Der Direktor gab bekannt, die Bank bündle ihre Kräfte und werde «substanziell in die Infrastruktur investieren». Wenn man das PR-Geschreibe entwirrte, konnte man entdecken, was eigentlich geplant war, in der Pressemitteilung aber mit keinem Satz erwähnt wurde: Im Osten des Kantons Schaffhausen gibt es ein Bankensterben. Die Filialen in Schleitheim, Beringen, Neuhausen und der Hauptsitz in Hallau gehen zu. Schon früher mussten die Schalter in Löhningen und Wilchingen schliessen. Die Bank begründete den Entscheid damit, dass immer weniger Kundinnen und Kunden die Schalter nutzen. Die Geschäfte werden in der Stadt Schaffhausen zentralisiert, wo künftig die allermeisten der fünfundsechzig Angestellten arbeiten werden. Im Städtchen Neunkirch, als einziger Klettgauer Gemeinde, bleibt noch eine kleine Niederlassung übrig (der Hauptsitz wird dorthin verlegt).
«Als wenn nicht schon genug abgebaut, ausgeräumt wäre … ein Affront gegenüber den älteren Leuten», schrieb ein Herr Stamm aus Schleitheim in einem Leserbrief an die Schaffhauser Nachrichten. Frau Busenhart aus Beringen schrieb: «Lieber Verwaltungsrat, jedes Jahr lesen wir vom Erfolg der Bank, und jetzt werden grundlos langjährige Kunden einfach abserviert.»
Die heutige BS Bank Schaffhausen entstand 1998, als sich die zum Teil über hundertfünfzig Jahre alten Sparkassen aus sechs Dörfern in Klettgau und Randental zusammentaten. Zehn Jahre später eröffnete die Bank eine Filiale in Schaffhausen. Ihre Geschichte ist also die Geschichte eines Unternehmens, das auf dem Land gross gemacht wurde und dann, als es sich stark genug fühlte, in die Stadt zog.
Ein Sterben auf Raten
Hallauer Gemeindehaus, Sitzungsraum des Gemeinderats. Michael Scholl legt eine rote Mappe auf den Tisch. Darauf hat er in ordentlicher Handschrift «Gemeinde HALLAU» geschrieben, ein Herzchen dient als Tüpfelchen auf dem i. Scholl, ein grosser Mann mit sorgfältig ausgewählter Kleidung, ist Finanzreferent.
«Gerade vor dem historischen Hintergrund der Bank ist der Wegzug von hier unschön», sagt Scholl. «Wir sind aber nicht wütend oder nachtragend, nur beharrlich. Nicht dass es heisst: Die radikalen Hallauer kommen mal wieder nicht mit Veränderungen klar.»
Wenn Michael Scholl über die Schliessung der Bankfiliale redet, geht es natürlich nicht nur um einen Schalter, sondern um die Zukunft des Dorfs überhaupt. Es gibt noch zwei Restaurants im Dorfkern und eine Bäckerei, aber die Banken ziehen weg oder sind schon weggezogen (wie die Raiffeisen), die Metzgerei musste schliessen, die Post ebenfalls, einen Hausarzt gibt es nicht mehr, und das alles, obschon heute 2400 Menschen hier leben, so viele wie noch nie in der langen Geschichte des Orts. Zum Leben und Arbeiten und Einkaufen in die Stadt fahren und nur zum Schlafen ins Dorf zurückkehren: Das ist der Albtraum, der Hallau und viele andere Schweizer Dörfer plagt.
Michael Scholl ist vor drei Jahren hierhergezogen. Aufgewachsen in Einsiedeln, arbeitete er während zwanzig Jahren bei der Credit Suisse in Zürich, lange in einer Kaderfunktion. Wegen moralischer Bedenken, wie er es ausdrückt, vor allem wegen des Umgangs der Führungsebene mit Angestellten, verliess er die Grossbank. Er und seine Frau und die beiden Kinder wollten nochmals neu anfangen, an einem neuen Ort. Die weiten Hügel um Hallau gefielen ihnen. Im Dorf kam Michael Scholl schnell zurecht. Er leitete das lokale Weinbaumuseum und arbeitete eine Saison lang für einen Weinbauern, dann fand er einen Job in der Finanzabteilung der Genossenschaft GVS. «Hört sich verdammt kitschig an», sagt er, «aber ich lebe hier schon in einem kleinen Paradies.»
Dieses Paradies ist offenbar bedroht. «Die Landgemeinden werden immer mehr abgehängt», sagt Scholl. Er benutzt ein Wort, das in der Umgebung sehr geläufig ist, von Beggingen bis Beringen: «Speckgürtel». Im Speckgürtel, der die Stadt Schaffhausen umgibt, siedeln sich die allermeisten Unternehmen an und pumpen dem Rest die Steuererträge ab.
«Es ist ein Sterben auf Raten im Klettgau», sagt er. «Schleichend erleben wir eine Verwaisung der Region.»
Showdown in Neuhausen
Dreifachhalle Neuhausen, Generalversammlung der BS Bank Mitte April 2024. Eigentlich will die Bank ihr hervorragendes Geschäftsjahr präsentieren. Die Bilanzsumme stieg auf 1,5 Milliarden Franken, und der Gewinn betrug 4,5 Millionen, zehn Prozent mehr als im Vorjahr.
Michael Scholl, der Hallauer Gemeinderat, tritt auf. Er und die Gemeinderäte von Schleitheim, Beringen, Wilchingen und Löhningen haben sich zusammengetan, um eine Erhöhung der Dividende zu beantragen. Scholls Begründung: Mit dem Wegzug der Bank fallen auch Steuererträge weg. In Hallau machen sie ungefähr ein Steuerprozent aus, also 45 000 Franken. Der Wegfall der Steuern soll mit den höheren Dividenden kompensiert werden. Noch immer besitzt Hallau sechs Prozent der Clientis-Aktien (die jährlich um die 100 000 Franken Dividende abwerfen). Allerdings verkaufte die Gemeinde in der Vergangenheit immer wieder Anteile, um an Geld zu kommen; einmal musste das Altersheim saniert worden, ein anderes Mal die Schule. Ähnliches passierte in anderen Dörfern. Ihr Einfluss auf die Bank sank mit den Jahren. Heute besitzen alle Gemeinden zusammen noch knapp 30 Prozent der Aktien.
Der Verwaltungsrat blockt die Dividendenerhöhung ab: Das rufe Personen auf den Plan, die nur Interesse an der Rendite und keinen Bezug zur Region hätten. Unterstützung erhält die Bankleitung von Ruedi Vögele, dem Gemeindepräsidenten von Neunkirch, wo die letzte Klettgauer Clientis-Filiale übrig bleibt. «Am wichtigsten ist, dass der Hauptsitz im Klettgau bleibt», sagt Vögele. Als die Aktionärinnen und Aktionäre abstimmen, scheitert die Erhöhung knapp. Neunkirch, das als einzige Klettgauer Gemeinde noch von den Steuern der Bank profitiert, stellt sich also gegen den Rest der Region.
Auf den Konflikt mit Neunkirch angesprochen, meint Michael Scholl recht emotionslos: «Machen wir keine Geschichte daraus, die ich meinen Kindern vererbe.»
Olympisches Vertrauen mit Hausi
Ein Mann, der nach eigenen Angaben eine Bank gross gemacht hat, ist Hausi Leutenegger, der Bob-Olympiasieger von Sapporo 1972, der als Bauunternehmer reich und dann Filmstar und prominentester Schnauz des Landes wurde. Als sein Geschäft in den Sechzigerjahren richtig gut zu laufen begann, sich zu einem Millionenunternehmen entwickelte, profitierte auch seine Bank, die kleine Raiffeisen-Filiale in seinem Heimatort im Thurgau. Wir rufen ihn an, und Sekunden später meldet sich Hausi Leutenegger, der Burt Reynolds der Alpen, dem selbst der Schauspieler Klaus Kinski in seiner Königsdisziplin, dem olympischen Trinken, nicht gewachsen war, und er fragt mit sehr guter Laune: «Was kann ich Ihnen Gutes tun?»
«Sie sind ein Experte für Landbanken.»
«Die Hauptsache ist Vertrauen», sagt er. «Die Raiffeisenbank ist eine seriöse Bank. Ich bin seit neunundfünfzig Jahren Kunde und war immer zufrieden.» Er beginnt sofort, Pierin Vincenz zu verteidigen, den ehemaligen Raiffeisenchef, dem Betrug vorgeworfen wird, der Golfreisen und Bordellbesuche über die Firmenkreditkarte abgerechnet hatte, und wir rechnen aus, wie viel Banken und ihre Werbeabteilungen von Hausi Leutenegger profitieren könnten, da sein Vertrauen offenbar unzerstörbar ist.
«Was halten Sie davon, dass laufend Bankfilialen auf dem Land zumachen?»
«Das ist der Lauf des Lebens, ich kanns nicht ändern. Ich bin kein Bankdirektor. Ich hatte Schwein, ich musste nie zur Bank rennen, um einen Kredit aufzunehmen … Wo sind Sie? In Schaffhausen unten? In Schaffhausen habe ich meine erste Million verdient, im Zementwerk in Thayngen, ich hatte fünfzig, sechzig Monteure dort, wir montierten die Maschinen. Thayngen hat mich zu dem Mann gemacht, der ich heute bin.»
«Und das Bankensterben auf dem Land?»
«Sie müssen Vertrauen haben in die Bank, vertrauen müssen Sie!»
Bevor er sich verabschiedet, er muss zu irgendeiner Gala in St. Gallen, verspricht er, uns seine Biografie zu schicken. Sie heisst «Ein bisschen Glück war auch dabei», und die Geschichte, die Leutenegger darin erzählt, geht so: Seine märchenhafte Karriere verdankt er vor allem den Leuten um sich herum, weshalb er immer ein dickes Trinkgeld gibt.
Der Casus Belli
Die hochstehende Sonne über den Klettgauer Weinbergen und neun hellblaue Krawatten tragende Bankmänner, die auf dem Hallauer Berg stehen, das sind die Bilder, die die Bank als Werbung verbreitet, und wenn Wirklichkeit und Selbstdarstellung auseinanderklaffen, dann leidet das Vertrauen.
Einer der Männer auf dem Hallauer Berg ist Christian Heydecker, der Präsident der Bank, der Anwalt und FDP-Kantonsrat mit den sorgfältig geschneiderten Anzügen. «Von einer Verleugnung unseres historischen Erbes kann keine Rede sein», sagt er, als wir ihn anrufen. Er führt aus, es habe sich einfach die einmalige Gelegenheit ergeben, ein zusätzliches Stockwerk am Standort in Schaffhausen zu kaufen, womit es künftig Platz für ungefähr fünfzig Angestellte gebe. Der Rest – um die fünfzehn Mitarbeitende – bleibe in Neunkirch. Ausserdem könne man weiterhin in allen Dörfern Bargeld abheben, und die Bank fördere nach wie vor gemeinnütziges Engagement, Vereine, Turnfeste et cetera, was Heydecker insgesamt als «sehr starkes Zeichen für den Klettgau und das Randental» bezeichnet.
«Aber das Land hat Ihre Bank gross gemacht, und jetzt ziehen Sie fast alles in die Stadt ab: Verstehen Sie, dass sich viele Leute vernachlässigt fühlen?»
«Das Gefühl ist berechtigt, und wir nehmen die Rückmeldungen ernst», sagt Heydecker. «Dieses Problem muss aber die Politik lösen. Wir müssen für das langfristige Gedeihen unseres Unternehmens sorgen. Sollte es ein Casus Belli sein –»
«Etwas, das einen Krieg auslöst?», fragen wir und stellen uns bis an die Zähne bewaffnete Hallauer vor, die vor Heydeckers Büro aufkreuzen.
«– ein Casus Belli, dass man am Bankomat in Hallau kein Geld mehr einzahlen kann, dann schauen wir das an. Nur entstand der Eindruck, in Hallau sei Matthäi am Letzten, der Untergang des lokalen Gewerbes stehe bevor. Das ist nicht so. Ich habe nachgeschaut: Von mir zuhause in Herblingen dauert es mit dem Auto länger zur nächsten Clientis-Filiale als von Hallau nach Neunkirch.»
Die grosse Klappe
Im Restaurant «La Calabrisella» in Hallau haben die Pizzen ungefähr den Durchmesser eines Autorads. «Auf dem Land hat man Hunger», sagt Orlando Pisano, der Wirt. Als er später den Espresso auftischt, kommt er auf das Ende der Clientisbank in Hallau zu sprechen. «Man sollte Rücksicht auf die älteren Leute nehmen», sagt er. «Es ist eine Katastrophe, was soll die ältere Dame machen, die Geld einzahlen muss?»
«Schau mal», sagt ein Unternehmer, der schon mit dem Verdauen seiner Pizza beschäftigt ist, «dank uns macht die Bank grosse Gewinne, aber überall baut sie ihren Service ab.» Er verrät uns zwar seinen Namen, aber nur unter der Bedingung, dass wir ihn nicht in die Zeitung schreiben. Er habe keine Lust auf Scherereien, der frühere Gemeindepräsident sei Metzger gewesen, und wenn er einen unbeliebten Entscheid gefällt habe, habe er am nächsten Tag weniger Cervelats verkauft.
«Als die Raiffeisen weggezogen ist, rissen sie eine riesige Fresse», fährt der Unternehmer fort. Im Rahmen einer Werbekampagne schrieb die BS Bank im Herbst 2020 Sätze wie «Ihr Konto zieht um – wir nicht!» oder «Wir zügeln Ihr Konto», dazu der Satz: «Liebe Hallauer, wir sind weiterhin gerne für Sie da und helfen Ihnen, Ihr Konto zur Bank vor Ort zu zügeln.» Der Unternehmer bläst Luft durch seine Nasenflügel.