Der Bubatz und ich

3. Mai 2024, Marlon Rusch
Der Reporter heizt ein. Bilder: Robin Kohler
Der Reporter heizt ein. Bilder: Robin Kohler

Seit dem 1. April darf in Deutschland gekifft werden. ­Die Schweiz dürfte nachziehen. Doch lohnt sich das überhaupt? Eine ­Introspektion ­in Jestetten.

An einem Samstagmittag stehe ich unter einem gelben Ortsschild, jemand hat den Himmel mit dunklen Wolken zugehängt und in meinem Mund glimmt ein Joint. Was ich rauche, ist vermutlich die hochgezüchtete Marihuana-Sorte Mimosa x Orange Punch mit einem Tetrahydrocannabinol-Gehalt von sagenhaften 27 Prozent, und dieses hochpotente THC schiesst jetzt in Sekundenschnelle in mein Gehirn und zimmert auch dort ein paar Wolken rein, meine Beine werden warm und kribblig, das wars dann wohl mit dem produktiven Tag. 

Dass ich diese Sätze in einen Zeitungsartikel schreiben kann, ohne strafrechtliche Konsequenzen fürchten zu müssen, hat mit dem Setting zu tun. Das gelbe Ortsschild über meinem Kopf steht in Jestetten, gleich hinter Neuhausen, aber auf deutschem Staatsgebiet. Und die Deutschen haben Cannabis in einer überraschenden Hauruckübung per 1. April teillegalisiert. Nicht nur darf seither jeder Erwachsene 25 Gramm Cannabis auf der Strasse mit sich führen, genug für 75 Joints; auch das Rauchen derselbigen ist hier jetzt legal.

Ich selber rauche eigentlich kein Gras. Doch auch an mir ist die Nachricht vom Kifferparadies Deutschland natürlich nicht vorbeigezogen. Ausserdem dürfte die Schweiz bald nachziehen, daran arbeitet zumindest seit zwei Jahren die Subkommission «Cannabisregulierung» des Nationalrats. SP-Nationalrätin Barbara Gysi, die Präsidentin der Subkommission, sagte vor wenigen Wochen im Beobachter: «Meine Einschätzung ist, dass wir realistischerweise 2027 eine Gesetzgebung haben werden.» 

Nun ist es ja so, dass es in der Schweiz durchaus heute schon möglich wäre, zwischendurch mal eine gepflegte Lunte durchzuziehen. Doch die Aussicht auf gänzliche Straffreiheit eröffnet nochmals ganz neue Perspektiven. Und wenn Kiffen tatsächlich auch in der Schweiz bald legal wird – warum soll nicht auch ich nochmals in mich hineinhorchen (und inhalieren), um herauszufinden, ob dieser Bubatz, wie heute selbst der deutsche FDP-­Finanzminister Christian Lindner das Kraut nennt, nicht doch etwas für mich sein könnte? Ein bisschen Entspannung kann ja eigentlich niemandem schaden, oder?

Grund genug also, sich dieses neue Paradies einmal etwas genauer anzusehen, und natürlich habe ich für meine Exkursion keinen normalen Tag gewählt, sondern den 20. April, für Kiffer ein heiliges Datum, die Chiffre «420» ist ein Szenecode und geht zurück auf US-Hippies in den 70er-Jahren. 

Doch richtige Hippie-Vibes, so wird sich bald zeigen, wollen sich bei meiner Introspektion in Jestetten nicht so recht breit machen.

Zu Besuch beim Bubatz-König

Im gelobten Land angekommen, suche ich Kay Krause auf, den hiesigen Bubatz-König. Krause hat in Jestetten bereits vor der Teillegalisierung den «CSC Smoky Zipfel e. V.» gegründet, den ersten und bisher einzigen eingetragenen Cannabis-Club der Region, der seine Clubmitglieder bald ganz legal mit selbst gezüchtetem Marihuana versorgen darf (Jestetter Zipfel nennt man das Gebiet der baden-württembergischen Dörfer Jestetten, Lottstetten und Dettighofen). Als ich an diesem Samstag kurz nach 11 Uhr morgens bei Krause eintreffe, ist sein Wohnzimmer bereits eingenebelt. «Ich bin Cannabis-Patient», sagt er zur Begrüssung, «ich rauche immer.» 

Der 38-Jährige macht mir einen Kaffee, dann setzt er sich auf die Sofalandschaft, vor der ein gigantischer Fernseher steht, und beginnt mit solide eingequarzter Baritonstimme zu erzählen. Er habe Kiffen immer geliebt, sagt Krause, doch er habe zu früh damit angefangen. Offenbar hatten die Ordnungshüter damals wenig Freude am Teenager Kay, der schon in ungewöhnlich jungem Alter ungewöhnlich grosse Mengen Cannabis mit sich führte; nach dem Schulobligatorium hatte sich der Einstieg in die Arbeitswelt durch die Begeisterung für Marihuanazigaretten verzögert; zwei Mal musste der junge Herr Krause zudem wegen dem Kiffen seinen Führerausweis abgeben. 

Doch er fing sich, wurde Altenpfleger und arbeitet heute noch auf dem Beruf. Gerade ist seine Frau schwanger mit dem zweiten Kind. Es habe sogar eine Zeit gegeben, in der er gar kein Cannabis geraucht habe, sagt Krause – bis vor ein paar Jahren bei einem Motorrad-Unfall seine Wirbelsäule zusammengestaucht wurde. Nach dem Unfall besorgte er sich einen Patientenausweis, der ihm seither erlaubt, bis zu drei Gramm hochdosiertes medizinisches Cannabis pro Tag zu beziehen. Damit behandelt er seine chronischen Schmerzen und Schlafstörungen. Kay Krause darf also nicht erst seit dem 1. April 2024 legal kiffen, er hat damit bereits einschlägige Erfahrung. 

Sitzt man mit dem Bubatz-König in seinem Wohnzimmer, hat man allerdings nicht das Gefühl, dass er Gras als Medizin betrachtet, das einzig dazu da wäre, seine Leiden zu lindern. Fragt man ihn, ob die drei Gramm pro Tag, mit denen ein herkömmlicher Kiffer rund zehn Joints drehen kann, ausreichen, lächelt  Krause. Früher, erzählt er, sei er ein leicht gestresster Mensch gewesen, habe seine Kollegen auf der Arbeit auch mal angeblafft. Seit er wieder rauche, sei das ganz anders: «Mit Cannabis fühle ich mich wohler und lebensfähiger.» 

Natürlich hört es sich erst einmal etwas merkwürdig an, dass ein leidenschaftlicher Kiffer bereits vor der eigentlichen Gesetzesrevision einen entsprechenden Cannabis-Verein gegründet und diesen offiziell beim zuständigen Amtsgericht eintragen lassen hat. Erst recht, wenn dieser leidenschaftliche Kiffer den Verein ja eigentlich gar nicht braucht, da er so oder so legal kiffen und sein Gras legal beziehen darf. Doch Kay Krause hat einen Plan.   

Keine Goldgräberstimmung

Besagter Plan ist noch etwas schwer zu durchschauen. Doch das hat weniger mit Kay Krause zu tun als mit der deutschen Bürokratie. 

Im Grunde sind die Clubs, die gerade im ganzen Land aus dem Boden schiessen, Anbauvereinigungen, die ihren Mitgliedern Cannabis für den Eigengebrauch verkaufen dürfen. Noch bis zum 31. Juni aber bleibt dieser Verkauf illegal, obwohl Kiffen selber seit dem 1. April legal ist. Die Verzögerung geht auf die Natur der Hanfpflanze zu tun: Niemand kann von heute auf morgen konsumfertiges Cannabis anbauen, der deutsche Staat rechnet mit drei Monaten für einen Cannabiszyklus bis hin zur Ernte. Die Karenzfrist nutzt Kay Krause für Vorbereitungen. Auf seiner Sofalandschaft doziert er wortreich über die Vor- und Nachteile verschiedener Pflanzenlampensysteme, erklärt, warum Kokoserde nichts tauge, und dass Erde sowieso gerade in allen gängigen Grow-Online-Shops ausverkauft sei, rechnet vor, dass er bereits tausend Euro in Equipment investiert habe. 

Doch auch wenn seine Anlage dereinst steht und Kay Krause und sein Verein im Sommer mit dem Betrieb loslegen, dürfte vorerst keine Goldgräberstimmung aufkommen, dafür sorgt Väterchen Staat: Wenn ein Verein wie der Smoky Zipfel Gras anbauen will, braucht er einen internen Suchtbeauftragten (der Suchtbeauftragte von Smoky Zipfel absolviert derzeit eine entsprechende Onlinefortbildung), und er braucht Räumlichkeiten, welche die Richtlinien für eine Verkaufs-Lizenz erfüllen (so muss der Raum etwa einbruchsicher und umzäunt sein). Gerade klärt Krause ab, ob der Keller seiner Oma die Richtlinien erfüllen könnte. Doch selbst wenn dann alles zusammenpasst und die Produktion hochgefahren werden könnte – Profit dürfen Cannabis-Clubs nicht machen, auch das ist rechtlich vorgeschrieben. 

Als die Schaffhauser Nachrichten kürzlich bei Kay Krause zu Besuch waren, sagte dieser, es gehe bei Smoky Zipfel, dem derzeit elf Mitglieder angehören, um ein «Gemeinschaftsgefühl», das man nur in einem Verein bekommen könne. 

Doch pflügt sich dieser Marihuana-Aficionado tatsächlich für ein diffuses Gemeinschaftsgefühl durch die Niederungen der deutschen Bürokratie? Ist das sein Plan?

Der Club als Blaupause

Nachdem wir uns etwas warmgeredet haben, stellt Kay Krause eine Vaporizer-Bong auf den Couchtisch, eine Art elektrische Wasserpfeife, mit der er Cannabis-Extrakte schonend erhitzen kann. Mit einer Pinzette packt er etwa 0,1 Gramm eines Waxes ins Köpfchen, das er selber mittels einer Presse aus bereits extrem hochprozentigem Cannabis gewonnen hat und das einen THC-Anteil von 50 Prozent aufweisen soll. Ich frage ihn, was wohl mit mir passieren würde, wenn ich an seiner Bong ziehen würde. Er stellt die Gegenfrage, ob ich denn ein Kiffer sei, und als ich verneine, schaut er mir in die Augen und sagt in aller Seelenruhe: «Dann würdest du wohl spätestens in einer halben Stunde einschlafen.» Krause knipst das Gerät an, dieses beginnt zu blubbern, Krause beginnt zu inhalieren. Der Dampf, der selbst in seiner geeichten Lunge einen veritablen Hustenanfall auslöst, juckt mir schon beim Passivrauchen in der Nase. 

Da ich noch nicht allzu viele Hippie-Vibes verspüre und für diesem Samstagnachmittag dummerweise noch Termine vereinbart habe, bei denen ich ein waches Gehirn benötige, verzichte ich darauf, mitzurauchen, und frage Krause stattdessen, ob es bei seinem Club tatsächlich um ein «Gemeinschaftsgefühl» gehe. Nun lässt der Bubatz-König die Floskeln in der Schublade und beginnt von einer geplanten zweiten Phase der Legalisierung zu erzählen, die zwar noch nicht terminiert sei sei, bei der aber auch ein kommerzieller Verkauf von Cannabis in Deutschland erlaubt sein soll. In dieser zweiten Phase, so Krause, wolle er seinen Verein in einen herkömmlichen Verkaufsladen umbauen. Schliesslich wolle er irgendwann mit dem Pflegeberuf aufhören und viele Alternativen habe er schliesslich nicht: «Wenn man verkaufen darf, will ich der erste sein» sagt er. 

Das also ist der Plan: Der Cannabis-Club ist nur die Blaupause; was wirklich zählt, ist die Zeit danach. Was Kay Krause durch die deutsche Bürokratie waten lässt, ist die Aussicht auf ein gutes Geschäft. 

Doch was ist mit all den anderen, was ist mit mir, der vielleicht einfach ab und zu an einer Tüte ziehen will? Was habe ich von dem ganzen Zirkus?

Abstand halten!

Auch bei dieser Frage müsse man ein wenig differenzieren, ­
sagt Krause und lächelt. Mir zum Beispiel sei es nicht gestattet, dem Smoky Zipfel beizutreten, da ich nicht seit mindestens sechs Monaten einen Wohnsitz in Deutschland habe. Insofern dürfe sowohl er wie auch sein Club mir bis auf Weiteres kein Cannabis abgeben. Falls ich hier in Jestetten aber sonst irgendwie an Gras käme, könne er mir zeigen, was es beim Kiffen im öffentlichen Raum zu beachten gebe, denn auch da habe sich der deutsche Staat natürlich etwas einfallen lassen. In der Hoffnung, dass ich dann schon irgendwo einen Bubatz finden werde, wenn wir erst durch Jestetten streifen, schlüpfen wir in unsere Jacken und treten auf die Strasse. 

Kiffen ist in Deutschland jetzt legal, das bedeutet jedoch nicht, dass ich gedankenversunken mit einer Tüte in der Hand durchs ganze Land schlendern könnte. In Fussgängerzonen ist Kiffen zwischen 7 Uhr morgens und 20 Uhr abends untersagt, ebenso untersagt ist das Rauchen von Gras gemäss Gesetzgeber «in Sichtweite» von Schulen, Sportplätzen, Spielplätzen, Kinder- und Jugendeinrichtungen. Gemeint ist damit «ein Abstand von mehr als 100 Metern vom Eingangsbereich der genannten Einrichtung». All jene, denen das zu kompliziert ist, können sich unter bubatzkarte.de die entsprechenden Perimeter anzeigen lassen. 

Die Karte zeigt: Während das Flanieren mit brennendem Joint in dicht besiedelten Städten wie Berlin ein eigentlicher Spiessrutenlauf ist, können sich die Jestetter Kifferinnen verhältnismässig frei bewegen. Wir gehen durch die Strassen und landen irgendwann beim Jestetter Ortseingang. Kay Krause zündet sich einen Joint an und wie es der Zufall will, finde auch ich einen Bubatz, der unwiderstehlich vor mir im Gras liegt. Was für ein Glück! Vermutlich Mimosa x Orange Punch, sagt Krause mit Kennerblick. 

Wie ich meinen Joint anstecke und sich die Wolken in meinem Kopf formieren, fällt mir eine Episode aus einer längst vergangenen Zeit ein, einer Zeit, als ich auch abseits von Reportagen ab und an einen Joint geraucht habe. Das Kraut ist mir zwar damals schon nicht allzu gut bekommen, doch es gehörte halt irgendwie zu einer Mannwerdung in Abgrenzung zum hüft­steifen Bürgertum dazu.

Es muss irgendwann Ende der Nullerjahre gewesen sein, als ich eines Abends mit Freunden in Zürich am Konzert eines grimmigen Oldschool-Rappers aus Jamaika war, der über die inkompetenten policemen schimpfte und dazu aufrief, das Gewaltmonopol in die eigene Hand zu nehmen (er formulierte es etwas anders). Später warteten wir morgens um 5 Uhr bei der Hardbrücke auf den Zug nach Schaffhausen, als auf einmal ein paar zugekokste Typen auf uns losstürmten und begannen, unsere Visagen zu demolieren. Später stellte sich heraus, dass einer von ihnen ein Messer trug, mit dem die Typen zuvor schon einen anderen Passanten bedroht und ihm brennende Zigaretten auf dem Unterarm ausgedrückt hatten. Jedenfalls tauchte kurz nach der Attacke auf mich und meine Freunde ein Dutzend Polizisten mit Gummischrotgewehren im Anschlag bei der Hardbrücke auf und nahm die Typen fest. Die nächsten Stunden verbrachten wir auf einem Polizeiposten, wurden befragt und einer der Beamten forderte mich auf, meine Hose auszuziehen und einem Polizeitechniker auszuhändigen, damit dieser einen DNA-Abstrich machen könne. Als ich die Hose später zurückbekam und wir endlich nach Hause konnten, bemerkte ich, dass sich in einer Hosentasche ein kleines Säcklein mit Cannabis befand. Die policemen, die der jamaikanische Rapper gerade noch als Strohköpfe bezeichnet hatte, hatten uns nicht nur gerettet – ihnen war auch mein Marihuana herzlich egal. 

Es war ein wahrlich antiklimaktischer Moment. Und ähnlich antiklimaktisch fühlt es sich jetzt an, hier beim Jestetter Ortsschild zu stehen und einen Joint zu rauchen, umgeben von der achselzuckenden deutschen Bürokratie.