Zwei Schwestern und die Hölle

18. April 2024, Sharon Saameli

Eine Kurdin erhält in der Schweiz Asyl. Ihre Schwester versucht dasselbe – doch sie und ihre Kinder erfahren die volle Härte des Schweizer Ausschaffungsregimes.

«Manchmal möchte ich keine Kurdin mehr sein.» Jiyan Azadis* Stimme bricht. Das Leben ihrer Familie ist von Gewalt durchzogen, seit jeher. Was aber jetzt ihrer Schwester und deren Kinder widerfahren ist, raubt ihr Schlaf und Worte.

Dies ist die Geschichte von zwei Schwestern. Diese Geschichte hat einen gemeinsamen Anfang: in einem kurdischen Flüchtlingscamp im Irak, wo die beiden Mädchen in den 90er-Jahren zur Welt kommen. Ihr Weg führt weg von den Bomben und in den Schengenraum, in die Schweiz und nach Schaffhausen. Dort erhält die jüngere Schwester, Jiyan Azadi, Zuflucht, eine Aufenthaltsbewilligung und eine Perspektive. Die andere Schwester, Keser Özgün, erlebt dagegen Schlimmstes: Sie wird in Handschellen aus der Psychiatrie abgeführt, in der sie Patientin ist – und wird mitsamt ihren Kindern und ihrem Ehemann nach Kroatien ausgeschafft.
Wie konnte das passieren?

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Der Name Makhmour steht für das Ergebnis einer Vertreibung. In den 1990er-Jahren flüchteten rund 17 000 Kurdinnen und Kurden vor der türkischen Armee bis in den Nordirak. Dort wurde daraufhin etwa 60 Kilometer südwestlich von Erbil, der Hauptstadt der irakischen Region Kurdistans, das Flüchtlingscamp Makhmour errichtet; heute leben um die 12 000 Menschen in dessen Strukturen. Die UNO-Flüchtlingsorganisation UNHCR anerkannte und unterstützte das Camp von Beginn weg und half 2011 dabei, den Geflüchteten amtliche Papiere auszustellen. Das Camp ist zwar selbstverwaltet; heute steht es aber vor allem für Krieg, weil es als eine der stärksten Basen der kurdischen Arbeiterpartei PKK gilt. Seit rund zehn Jahren wird das Camp zwischen den Fronten des IS, der PKK, der Peschmerga (so heissen die Streitkräfte der Autonomen Region Kurdistans) und der irakischen Regierung zerrieben.
«Meine Kindheit war Krieg», erzählt Jiyan Azadi an einem Donnerstagabend Ende März in den Redaktionsräumen der AZ. Am Tag davor ist sie 26 Jahre alt geworden. «Bis ich 18 war, wusste ich nicht, dass es eine Welt ausserhalb des Camps gibt.» Makhmour ist ein eigenes System, der Kontakt zur Aussenwelt ist selten, und noch seltener freundlich.

Trotzdem beginnt Azadi in Erbil das Studium der Kieferorthopädie. Sie ist fast fertig ausgebildete Zahnärztin und hat inzwischen auch Englisch gelernt, als sie flüchtet. Auf irregulärem Weg – zu Fuss, mit dem Auto, mit dem Schiff, insgesamt rund 4000 Kilometer – gelangt sie zusammen mit ihrem jüngeren Bruder in die Schweiz. Nach rund 90 Tagen folgt die grosse Erleichterung: Das Staatssekretariat für Migration (SEM) anerkennt sie beide als Flüchtlinge, sie erhalten die Aufenthaltsbewilligung.

Illustrationen: Yasmin König

Seit Juli vergangenen Jahres lebt Jiyan Azadi mit ihrem Bruder in der Region – erst im alten Schulhaus in Stein am Rhein, nun in einer Wohnung in der Stadt Schaffhausen. Seit Oktober sind sie beide im Bildungsprogramm Juma des SAH Schaffhausen angemeldet und lernen fünf Tage die Woche Deutsch, Mathematik, Bildnerisches Gestalten und mehr. Und mittelfristig wird sich Azadi wohl mindestens einen Teil ihres Studiums anerkennen lassen können. «Der Weg hierher war sehr schwierig, er war wirklich schlimm», sagt sie heute, «aber ich habe hier wenigstens eine Chance».

Keser Özgün verlässt Makhmour nur kurze Zeit nach Ankunft der jüngeren Schwester in Schaffhausen, zusammen mit ihrem Ehemann Sami, mit den drei gemeinsamen Kindern Linas (fünfjährig), Lina (vier) und Yasin (drei), mit wenig Gepäck und der Hoffnung auf dieselbe Zukunft wie die Verwandte – vor allem für die Kinder. Tochter Linas hat aufgrund der miserablen hygienischen Bedingungen im Flüchtlingslager Makhmour in den ersten Lebensjahren eine Niere verloren, sie braucht jederzeit Zugang zu medizinischer Versorgung.

Doch als die Familie die kroatische Grenze überquert, wird sie festgehalten.

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Die Polizei verhaftet die Familie Özgün und bringt sie in ein Auffanglager. «Die Lebensbedingungen in diesem Lager waren schrecklich», erzählt Azadi von den Erlebnissen ihrer Schwester. Die Polizei habe die Familie getrennt, den Vater vor den Augen der Kinder geschlagen, bedroht und dann weggebracht. Keser Özgün wurde mit den Kindern in einen engen Raum eingesperrt, ihnen wurde grossteils Essen und Trinken verweigert, und sie wurden so lange bedrängt, bis sie schliesslich ihre Fingerabdrücke gaben. Dann hiess es, sie können gehen.

Unabhängig überprüfen lassen sich diese Erzählungen kaum. Aber die Schilderungen von Azadi und ihrer Schwester stimmen überein mit jenen von unabhängigen Beobachtern und NGOs. Die Schweizer Organisation Solidarité Sans Frontières (SOSF) hat im Sommer 2023 einen Bericht zum unzureichenden Asylwesen in Kroatien veröffentlicht. Darin ist auch von illegalen Pushbacks sowie von Misshandlungen und Folter die Rede (mehr siehe Kasten unten). Sophie Guignard, politische Sekretärin von SOSF, war für diesen Bericht selber in Zagreb. Sie sagt: «Viele Menschen, die in Kroatien waren, leiden unter starken psychischen Erkrankungen und Traumata – weil sie dort oftmals brutale Polizeigewalt erlebt haben.»

Die Familie Özgün verlässt Kroatien, so schnell sie kann. Im September 2023 schafft sie es über die Schweizer Grenze. Dann werden sie ins Bundesasylzentrum im thurgauischen Steckborn geschickt. Die temporäre Beherbergung befindet sich im Untergrund, Security kontrollieren den Eingang. Aufgrund der bisherigen Erlebnisse leiden die Kinder schon bald unter Albträumen – und ihre Mutter unter Flashbacks, blitzartigen Erinnerungen an das Trauma der Reise.

Am 12. Oktober heisst es seitens SEM: kein Eintritt aufs Asylgesuch, die Familie muss wieder gehen. Hintergrund ist das Dublin-Verfahren: Für ein Asylgesuch zuständig ist jener europäische Staat, in welchem erstmals das Asylgesuch gestellt wurde oder in welchem eine Person erstmals Dublin-Boden betreten hat. Faktisch gemeint sind damit vor allem Grenzstaaten wie Italien, Spanien, Griechenland – und eben Kroatien. Mit den Fingerabdrücken, welche Keser und Sami Özgün gegen ihren Willen hinterliessen, stellte die Familie dort ihr Asylgesuch. Darum sieht sich die Schweiz nicht mehr als zuständig, den Fall zu prüfen.

«Die Dublin-Verordnung basiert auf der Idee, dass Geflüchtete überall in Europa dieselben Chancen auf Asyl haben. Doch das stimmt nicht.» Das sagt Michael Meyer, Rechtsberater bei AsyLex, einem gemeinnützigen Verein mit Sitz in Zürich, der Asylsuchenden und Geflüchteten unentgeltliche Rechtsberatung bietet. Meyer hat schon zahlreiche Dublin-Fälle vor Gericht vertreten. Genug Arbeit gibt es: Die Schweiz führt europaweit am drittmeisten Ausschaffungen nach Kroatien durch. «Diese sehr strikte Praxis existiert seit über einem Jahr und hängt mit dem Leitentscheid des Bundesverwaltungsgerichts zusammen», weiss Meyer. «Chancen, sich gegen eine Dublin-Rückführung nach Kroatien erfolgreich zu wehren, gibt es seit diesem Entscheid kaum mehr. Dabei ist Kroatien quasi ein luftleerer Raum: Strukturelle Mängel schränken das Recht auf Asyl massiv ein.» 2022 verzeichnet Kroatien insgesamt 12 872 Asylgesuche – der Flüchtlingsstatus erteilt wurde gerade einmal 21 Mal.
Wie kann es sein, dass die eine Schwester sofort Asyl erhält, die andere aber abgeschoben werden soll – obwohl beide dieselben Lebensbedingungen hatten? Meyer sagt dazu: «Dublin greift einer materiellen Behandlung des Gesuchs vor. Die Schweiz macht eine reine Zuständigkeitsabklärung. Das SEM wird das Gesuch daher gar nicht genauer beachtet haben – obschon es theoretisch jederzeit auf einen Dublin-Fall eintreten dürfte.»

Die Familie Özgün wird nach Nichteintritt auf ihr Asylgesuch in der Nothilfeunterkunft in Weinfelden registriert. Als Keser Özgün realisiert, dass sie und ihre Familie zurück nach Kroatien müssen, in jenes Land, in dem ihr so Schlimmes widerfuhr, erleidet sie einen Zusammenbruch. Sie wird in die psychiatrische Klinik in Münstleringen gebracht. «Meine Schwester erzählte mir, wie sie für ihre Kinder hierher gekommen sei. Und jetzt sollte sie in das Land zurückkehren, in dem sie traumatisiert wurde?», schildert Jiyan Azadi, nun mit unsteter Stimme. «Sie wollte lieber sterben, als dorthin zurückzukehren. Das sagte sie mir immer wieder: Sie wolle sterben, sie könne nicht mehr.»

Der AZ liegt ein psychiatrischer Bericht vor, der dies bestätigt: Keser Özgün leidet unter einer schweren depressiven Episode, unter Ängsten und einer posttraumatischen Belastungsstörung. Sie erhält dagegen Antidepressiva und Neuroleptika verschrieben. Trotzdem versucht die 31-Jährige in der Klinik zwei Mal, sich das Leben zu nehmen.

Dem Bericht ist auch zu entnehmen: Die sogenannte «Wegweisung», also die Ausschaffung, soll trotz alldem vollzogen werden. Der zeichnende Arzt empfiehlt, die Patientin während der Prozedur die ganze Zeit im Auge zu behalten. «Unter Berücksichtigung der Vorgeschichte muss der Transport als hochsuizidal eingestuft [werden].»

Ausschaffungen direkt aus Psychiatrien sind Courant normal, wenn auch nicht in jedem Kanton der Schweiz. Im Sommer vergangenes Jahr berichtete die NZZ ausführlich, wie einige Migrationsämter psychisch kranke Geflüchtete mit Polizeigewalt aus Kliniken holen, um sie dann ausser Landes zu schaffen. Bekannt ist die Praxis vor allem aus den Kantonen Bern, Zürich und Thurgau. Nach der Veröffentlichung der NZZ-Recherchen fragte die AZ das Psychiatriezentrum Breitenau an, ob es ebenfalls mit solchen Situationen konfrontiert war oder ist. Die zuständige Kommunikationsabteilung der Spitäler Schaffhausen verneinte dies damals. Auf erneute Nachfrage heute hält sie wiederum fest: «Die Information ist so noch aktuell, bis heute war das Psychiatriezentrum Breitenau nicht mit einer solchen Situation konfrontiert.»

Die Praxis bringt Ärztinnen und Pfleger in einen Gewissenskonflikt zwischen Patientinnensicherheit und geltendem Recht: Wenn sie die Kooperation mit der Polizei verweigern, verstossen sie gegen gerichtliche Weisungen; die Alternative ist jedoch, psychisch kranke Menschen, die in ihrer Obhut sind, weiterer Gewalt und einer möglichen Retraumatisierung auszusetzen – zumal laut Menschenrechtscharta jede Person Anrecht auf Gesundheitsversorgung hat.
Aber: «Auch hierzu gibt es Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts», sagt Michael Meyer von AsyLex, «und auch hier ist die Schweiz sehr strikt: Suizidalität ist kein Grund gegen eine Ausschaffung, weil sich eine Behörde sonst erpressbar machen könnte.»

Der Fall von Keser Özgün ist also nicht einmal besonders schlimm, sondern vor allem: normal.
Sophie Guignard von SOSF hält ebenfalls fest: «Die geschilderte Geschichte ist zwar schockierend, aber sie ist Alltag. Wir beobachten seit Langem, dass Familien mit kranken Kindern oder kranken Eltern ausgeschafft werden, selbst Menschen, die kurz vor einer Operation oder einem ähnlichen Eingriff stehen. Wir können nicht glauben, dass es Zufall ist, dass so viele kranke Menschen ausgeschafft werden. Es kann gut sein, dass die Schweiz diese Gesundheitskosten nicht übernehmen will – bei Dublin-Entscheiden sowieso nicht.»

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Als Jiyan Azadi das erste Mal mit der AZ spricht, tut sie dies aus Verzweiflung. Nebst ihrer eigenen Ausbildung und Integration, dem Zurechtfinden im neuen Land, plagen sie Ängste um ihre Schwester, um ihre Nichten und ihren Neffen – besonders um die nierenkranke Linas. Am 12. April läuft die Frist aus, in welcher die Schweiz die Familie Özgün gemäss Dublin ausschaffen soll. Bis dahin lässt sie nichts unversucht: Sie sucht eine Anwältin für die Familie, wofür jedoch das Geld fehlt, und wendet sich dann an die Rechtsberatungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht in Schaffhausen. Die Beratungsstelle bestätigt ein entsprechendes Gespräch (trotz fehlender Zuständigkeit, weil die Familie im Thurgau registriert ist). Damals war der Entscheid zur Wegweisung aber bereits rechtskräftig; es standen keine Beschwerdemöglichkeiten mehr offen. Jiyan Azadi hat sogar bei Kirchen angefragt, ob sie der Familie Asyl geben könnten: Kirchenasyl ist zwar nicht mehr gang und gäbe, es kann aber eine entscheidende moralische Hürde sein, verletzliche Menschen der Gewalt einer Ausschaffung auszusetzen. Doch überall heisst es, man könne nichts tun. Inzwischen hat sich auch die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) für Gespräche eingeschaltet. Der Familie ist dies jedoch nicht geheuer; sie befürchtet, sie könnte als weitere Behörde Komplizin der Polizei sein – und damit eine existenzielle Bedrohung.

Als wir Jiyan Azadi am 28. März das erste Mal treffen, stellt sie Unterlagen zur Verfügung, die UNHCR-Ausweise aller Familienmitglieder, Artikel über das Camp Makhmour, Kontakte zu Ärzten im Thurgau. Der Gang an die Medien ist ihre letzte Hoffnung – in zwei Wochen würde die Überstellungsfrist der Familie Özgün auslaufen. Jeder Tag beginnt mit der Angst, die Ausschaffung sei vollzogen worden. «Bis zum 12. April stoppe ich alles in meinem Leben», sagt Azadi. «Aber diese zwei Wochen fühlen sich an wie zwei Jahre.»

Am Donnerstag nach unserem Gespräch, vier Tage vor Ablauf der Frist, wird die Familie per Sonderflug ausgeschafft.

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Am Freitagvormittag, 12. April, scheint über Schaffhausen die Sonne. Jiyan Azadi sitzt wieder auf der AZ-Redaktion. Ihre Hoffnung ist purer Fassungslosigkeit gewichen. Sie schildert die Ereignisse der Woche davor derart lebendig, dass selbst das Zuhören schwer fällt:

Am frühen Donnerstagmorgen gegen ungefähr sechs Uhr dringt eine Gruppe Polizisten und Polizistinnen in die Psychiatrische Klinik Münsterlingen ein. Sie legen Keser Özgün Handschellen um und bringen sie zur Polizeistation. Von den Kindern und vom Vater fehlt in der Nothilfeunterkunft Weinfelden jede Spur. Da eine Ausschaffung der Mutter ohne Ehemann und Kinder das Recht auf Familienleben verletzen würde, kann die Familie nur zusammen abgeschoben werden. Die Polizei verlangt daher von Keser Özgün, Adressen von Verwandten aufzuschreiben, damit man sie rechtzeitig findet. Rechtzeitig, das heisst: bevor das Flugzeug mit zwei weiteren Familien, die ebenfalls Dublin-Fälle sind, mit zahlreichen Polizeikräften und ärztlicher Begleitung am Flughafen Zürich abheben wird.

Die Kinder waren schon vor diesem Tag immer mal wieder bei Jiyan Azadi in Schaffhausen zu Besuch. Auch an diesem Morgen, zusammen mit dem Vater Sami Özgün. Gemäss Azadis Aussagen umstellen am Morgen mehrere Polizeiwagen das Haus, in dem sie mit ihrem Bruder lebt. Eine Gruppe Polizistinnen und Polizisten dringen daraufhin in die Wohnung im vierten Stock ein. «Die Kinder haben sich an mir festgehalten, weil sie solche Angst hatten», erzählt Jiyan Azadi. Sie habe der Polizei nicht erlaubt, sie anzufassen. «Als Sami die Beamten sah, flüchtete er auf den Balkon – und sprang. Vor den Augen seiner Kinder. Wir haben ihn darauf nicht mehr gesehen, es war absolut furchtbar.» Gemäss Azadi habe sich Sami Özgün am Balkon des unteren Stockwerks festgehalten, er sei also nicht gestürzt – das sei aber von der Wohnung aus nicht ersichtlich gewesen. Die Kinder seien daraufhin zusammen mit Jiyan Azadi zur Polizeistation gebracht worden und von dort – ohne Azadi – zum Flughafen Zürich. Dort erst hätten sie ihre Eltern wiedergesehen; der Vater wurde gefunden und gefasst.

Die Polizei Schaffhausen teilt auf Anfrage der AZ mit, dass sie einen solchen Einsatz grundsätzlich bestätigen könne, jedoch nicht den geschilderten Ablauf desselben – die Polizei sei nicht in die Wohnung eingedrungen, die Bewohner hätten ihr vielmehr Einlass gewährt. Mediensprecher Patrick Caprez hält ausserdem fest, dass der Vater «aufgrund einer möglichen Eigen- und Fremdgefährdung in einem separaten Fahrzeug der Schaffhauser Polizei zum Flughafen gebracht» worden sei. «Die Kinder wurden in einem zweiten Fahrzeug der Kantonspolizei Thurgau transportiert, sie wurden betreut.»
Der zuständige Psychiater von Keser Özgün reagierte auf eine Anfrage der AZ nicht, die Psychologin von Tochter Linas bestätigte zwar die Kontaktaufnahme, musste mit einer Rückmeldung jedoch bis nach Redaktionsschluss zuwarten.

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Jiyan Azadi, als wir uns das letzte Mal getroffen haben, sagten Sie, Sie würden bis zum 12. April alles in Ihrem Leben stoppen. Wie können Sie jetzt weitermachen?

Azadi Es ist sehr schwierig. Früher waren meine Ausbildung, die Sprachschule, mein Beruf sehr wichtig für mich, meine erste Priorität. Jetzt habe ich das Gefühl, nichts davon ist wichtig. Linas ist wichtig, die Gesundheit meiner Schwester ist wichtig. Ich wünschte, ich könnte die Kinder adoptieren und ihnen hier eine Zukunft geben. Ich wünschte, ich hätte die Familie in jener Nacht woanders unterbringen können, oder ich wäre früher aufgestanden und hätte etwas unternommen, irgendwas. Diese Gedanken tun weh. Wissen Sie, ich kenne andere Familien aus dem Camp Makhmour, die in der Schweiz innert kurzer Zeit die Aufenthaltsbewilligung bekommen haben. Wir sind geboren als Flüchtlinge, wir sind nirgends sicher, wir haben keine Heimat. Und niemanden interessiert das. Manchmal möchte ich keine Kurdin mehr sein.

Die Familie Özgün wird in Kroatien aus dem Flugzeug entlassen, man gibt ihr die Adresse eines Heims. Dort bleibt sie knapp eine Woche. Fotos, welche die Familie nach Schaffhausen schickt, dokumentieren einen verdreckten Küchenraum, Toiletten und Duschen ohne Türen, es fehlt an Infrastruktur und Trinkwasser. Keine Bedingungen für ein krankes Kind und eine kranke Mutter. Die letzte Nachricht, welche zur AZ dringt: Die Familie Özgün macht sich wieder auf den Weg.

*Jiyan Azadi möchte aus Angst vor politischer Verfolgung nicht mit richtigem Namen in der AZ erscheinen. Die Vor- und Nachnamen der Familie Özgün entsprechen den amtlichen Dokumenten.

Zur Asylsituation in Kroatien und der Ausschaffungspraxis der Schweiz

Eine Delegation der beiden Organisationen Solidarité Sans Frontières (SOSF) und Droit de Rester reiste Anfang Juni 2023 ins kroatische Zagreb, um die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende zu untersuchen. Der daraufhin veröffentlichte Bericht «Eine Spirale der Gewalt» fasst diese Recherchen zusammen.

Dass Kroatien an den Grenzen und im Landesinneren Gewalt gegen Migrantinnen und Migranten verübt, war schon davor bekannt: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte den kroatischen Staat bereits zwei Mal wegen Verletzungen des Rechts auf Leben, des Verbots von Folter und unmenschlicher Behandlung, des Verbots kollektiver Ausweisungen sowie des Rechts auf Sicherheit und Freiheit.

Der Bericht von SOSF schildert unter anderem unzureichende Aufnahmebedingungen in den Asylzentren und eine ebenfalls unzureichende medizinische Versorgung vor Ort, unter anderem einen Mangel an Personal und Medikamenten. Zudem werde während des Asylverfahrens oft das Recht auf rechtliches Gehör verletzt, die Einschätzung der Situation in den Herkunftsländern sei unangemessen, und die Schutzquote in Kroatien sei unvergleichbar niedrig. Die Rechte von Kindern werden laut dem SOSF-Bericht oft nicht gewährleistet, und: Der kroatische Staat hält sich nicht an die UN-Konvention gegen Folter.

Trotzdem schafft die Schweiz Dublin-Fälle nach Kroatien aus – im Jahr 2023 waren dies gemäss Asylstatistik total 211 Menschen. Die allermeisten Personen werden zwar per Linienflug ausgeschafft; Kroatien jedoch akzeptiert nur Sonderflüge. Gemäss dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement EJPD belaufen sich die Kosten für einen Sonderflug auf durchschnittlich 13 057 Franken pro Person.