Alina Rothfelder steht zum ersten Mal allein auf der Bühne – mit einem Stück, das sie selber geschrieben hat. Wer ist diese Frau?
«Jemand blättert in meinen Därmen.» Mit leichtem Ekel im Gesicht schlägt Alina Rothfelder den Deckel ihres Tagebuchs zu. Ein Schlenker um den Spiegel, dann legt sie sich einen wärmenden Pelzmantel um die Schultern, schlingt die Arme um den Körper. Schliesslich verschwindet sie mit einem Blick zurück hinter dem Vorhang, und aus dem Off ertönt eine Aufnahme ihrer Stimme: «Jetzt lasse ich alles aus mir herausfallen.» Keine zehn Sekunden später tritt die leichtfüssige 26-Jährige schnaufend am anderen Ende der Bühne wieder ins Scheinwerferlicht, ein Akkordeon um die Schultern, und stimmt ein Lied an. Und als wäre das noch nicht genug, singt und tanzt sie schliesslich auch noch.
Das Akkordeonspielen habe sie speziell für das Stück gelernt, wird Alina Rothfelder uns später erzählen, die Lieder stammen aus den 30er-Jahren, in denen «Das kunstseidene Mädchen» spielt. Als wir die Schaffhauserin treffen, ist es bis zur Premiere nicht mehr weit. Am 5. April wird Rothfelder zum ersten Mal allein auf der Bühne stehen – mit einem Stück, das sie selber geschrieben hat. Sie wird uns später auch erzählen, dass dies nicht ihr erstes selbst geschriebenes Stück ist, aber das erste, das tatsächlich zur Aufführung gebracht wird. Jetzt, während der Probe in der Bachturnhalle, ist sie allerdings noch mit anderem beschäftigt: dem Atmen, dem sich Pausen einräumen, in denen sie kurz herunterfahren und zu sich kommen kann. «Ich muss dringend an meiner Atemtechnik arbeiten», sagt die Schauspielerin und lacht auf, als wäre das gar kein Problem und schlicht etwas, was sie noch lernen kann. Letztlich muss das Timing jeder Ebene stimmen: der Musik und der anderen Tonspuren, der Projektionen auf den Vorhang, der Tanzeinlagen, dem Schweigen und Sprechen und Atmen und Spielen.
Doch es scheint an dieser Probe auch so, als habe Alina Rothfelder eine Wachheit an sich, etwas Neugieriges und Begeistertes, das sie durch das Stück tragen wird – wenn nicht, so vermutet man nach ein paar Stunden mit ihr, gar durch ihr Leben.
Körper und Intellekt
Die ersten vier Lebensjahre verbrachte Alina Rothfelder im deutschen Schweningen. Dann zog Mutter Stefanie Strassmann der Liebe wegen nach Schaffhausen, und die Töchter Lara und Alina kamen mit. Die kreative Ader habe sie aber von ihrem Vater Joachim, sagt Alina Rothfelder heute: Die erste Schauspielerfahrung sammelte sie als Kind auf der Bühne seines Laientheaters, und bis heute malen die beiden an Street-Art-Festivals zusammen. Alina sei früher ein eher zurückhaltendes Kind gewesen, erzählt Joachim Rothfelder, der in der jetzigen Produktion für das Bühnenbild zuständig ist. Eine Grundschullehrerin von Alina habe einmal gesagt, es wäre gut, wenn sie Theater spielen würde, damit das junge, ruhige Sprachtalent aus sich herauskomme und eine Ausdrucksform für sich finde. «Mittlerweile ist sie sehr offen und – auch durchs Studium – viel weitläufiger geworden.»
Schaffhausen, Zürich, Bern, Konstanz, jetzt bald wieder Schaffhausen: Alina Rothfelder ist herumgekommen für ihre Ausbildung. Eigentlich habe sie früher Lehrerin werden wollen, sagt sie heute. Dennoch sammelte sie an der Kantonsschule Schaffhausen weitere Schauspielerfahrung, namentlich in den Theaterkursen von Walter Millns. Nach dem Abschluss 2016 zog es sie nach Zürich, erst für ein Praktikum in die Rote Fabrik, danach an die Schauspielschule. Danach ging es fürs Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft nach Bern, jetzt arbeitet Rothfelder am Masterabschluss in Literaturwissenschaft in Konstanz.
Den Bühnen in der Heimat am Rhein blieb sie unterdessen kaum je fern: Immer wieder stand Rothfelder im Rahmen des Sommertheaters, des Szenario, des Schauwerks oder des Jugendtheaters Momoll im Rampenlicht. Noch vergangenen Sommer fiel sie im Sommertheater als Michelle, der ulkige Sidekick von Robine Hood, auf. «Es ist einfach so wertvoll, in einer Gruppe gemeinsam etwas Grosses zu entwickeln», beschreibt Rothfelder ihren Antrieb. «Auf der Bühne bin ich frei, im Hier und Jetzt. Ich mag es, mich zu bewegen, meinen Körper einzusetzen. Und gleichzeitig spielt der Intellekt natürlich immer mit.»
Alina Rothfelder sei eine Mischung aus «klarer intellektueller Analyse und ungeheurer Spiellust», sagt der Dramaturg Jürg Schneckenburger über die Schauspielerin. Mit ihm zusammen ist die jetzige Produktion entstanden. «Im Vorhinein denkt Alina die Dinge klar durch – und wenn sie spielt, vergisst sie das alles, und ihr fallen die Sachen nur noch zu.»
Buch wurde einst verbrannt
Während des Lockdowns, als keine grossen Ensembles zusammenfinden konnten, ist den beiden die Idee eines Solospiels gekommen, das Alina Rothfelder selber schreiben und aufführen würde und das idealerweise auch die Kantonsschulklassen ansprechen könnte. «Das kunstseidene Mädchen» basiert auf einem Roman von Irmgard Keun und erzählt die Geschichte der 18-jährigen Doris, die zum Ende der Weimarer Republik nach Berlin zieht und dort über die Runden zu kommen versucht. Das Tagebuch, das Alina Rothfelder in der Probe zuschlägt, ist dabei die wichtigste Erzählform.
Die Wahl sei allerdings bei Weitem nicht nur auf das Werk gefallen, weil es beliebter Kantistoff sei: «Der Text gibt so viel her, er ist intelligent und frech und lustig und berührend», schwärmt Rothfelder. «Die Sprache hat Einfluss darauf, wie du die Welt siehst, wie du dir deine Realität baust. Diese ganz eigene Sprache von Keun und den damit einhergehenden Humor wollte ich auf die Bühne bringen.» Und die Message des Stücks, die ihr wichtig ist? «Das Buch wurde von den Nazis verbrannt und war verboten», so Rothfelder. «Die Hauptfigur Doris merkt, wie unwissend sie als Frau in der Gesellschaft ist. Und wenn sie wissen will, warum jemand demonstriert, was Nazis sind oder ‹Rassen›, erhält sie nur die Antwort, sie habe so schöne Augen. Dabei ist sie so von sich selbst überzeugt – sie glaubt, sie sei genial, ein ‹Glanz›, und so geht sie durch die Welt, auch wenn niemand sonst sie wirklich ernst nimmt.»
Alina Rothfelder sagt zwar, sie habe mit jener Doris auf der Bühne nicht viel gemeinsam – auch wenn man ihr die Verspieltheit und die positive Grundhaltung auch jenseits der Scheinwerfer anmerkt. «Vielleicht ist es die Offenheit der eigenen Zukunft gegenüber. Ich weiss immer nur, was mein nächster Schritt ist», erzählt sie. Immerhin: In der Kulturlandschaft tun sich immer neue Türen auf. Mit dem Stück – und mit dem Engagement bei den Kulturtagen kommendes Jahr – will sich Alina Rothfelder wieder mehr in Schaffhausen verankern. Ob sie dann spielt oder weiter eigene Drehbücher schreibt, ist offen: «Ich habe so viele Ideen für Projekte, die ich mit Leuten zusammen entwickeln will. Ich glaube, der Weg in die Schaffhauser Kulturbranche ist dafür der richtige.»
Alina Rothfelder ist eine, die durch und durch gut an- und rüberkommt. Der eine Grund dafür liegt in ihrem Engagement selbst: «Alina gibt alles, wenn sie für ein Projekt begeistert ist», sagt etwa Katharina Furrer vom Schauwerk über sie. Vor allem aber staunt Furrer über den Mut und das Selbstvertrauen der Spielerin: «Ich kenne nicht viele Nachwuchsspielerinnen, die sich ein Solostück zutrauen – das sie auch noch selbst geschrieben haben. Ich bin ziemlich begeistert davon, wie sie das anreissen und schliesslich eine Stunde lang durchziehen kann, ohne dass ihr Publikum abschweift. Vor ihr und vor der Inszenierung habe ich eine riesige Hochachtung.»
Rund um die Solo-Premiere von Alina Rothfelder ist unterdessen ein kleiner Hype entstanden – nicht zuletzt durch geschicktes Marketing: Zwei Vorstellungen sind bereits ausverkauft, bevor überhaupt Premiere von «Das kunstseidene Mädchen» war, sodass jetzt zwei Zusatzvorstellungen aufgegleist wurden. Das dürfte aber geradeso daran liegen, dass sich die Kulturszene von Alina Rothfelder viel verspricht – und dass sie selber trotz des Hypes auf dem Boden bleibt und sich den nahen Publikumserfolg nicht zu Kopfe steigen lässt.
Das wird spürbar, wenn sie über ihr Metier spricht: Sie habe über den Begriff der Schauspielerin nachgedacht – und würde sich selbst lieber als «Spielerin» bezeichnen. Ersteres sei als Berufsbezeichnung zwar kein geschützter Begriff. «Aber da ich erst in den Startlöchern stehe, ist ‹Schauspielerin› für mich vielleicht etwas zu anmassend.»
Reflektierte Leichtigkeit
Als wir Alina Rothfelder nach dem Gespräch wieder in die Probe in der Bachturnhalle entlassen, ist ihr Mittagssalat noch fast unberührt. Sie sei einfach gerade im Flow gewesen, da sei Essen nicht dringend, entschuldigt sie sich und verschwindet wieder im Rampenlicht.
Später liefert sie allerdings Sprachnachrichten mit weiteren Gedanken nach – da ist sie wieder, diese reflektierte Leichtigkeit:
«Was für mich das Theaterspiel ausmacht, ist das Vergessen des Alltags. Wenn ich in den Proben oder Aufführungen bin, vergesse ich zu essen, zu trinken, zu schlafen. Jeder Tag ist anders, es gibt keinen Rhythmus mehr. Das ist jedes Mal ganz aufregend.»
Die Premiere von «Das kunstseidene Mädchen» vom Freitag, 5. April, ist bereits ausverkauft. Weitere Vorstellungen in der Schaffhauser Bachturnhalle gibt es aber am Samstag, 6. April, um 20 Uhr sowie am Sonntag, 7. April, um 17 Uhr. Für die Vorstellung vom Mittwoch, 10. April, um 20 Uhr gibt es noch Tickets an der Abendkasse. Alle weiteren Infos sowie auch Ticketkauf im Internet unter
www.schauwerk.ch.