Ei, Ei, Eierwerfen – oder: Der letzte Eierritter

31. März 2024, Nora Leutert
Der wohl letzte Eierritter von Ramsen: der heute 94-jährige Theodor Neidhart. © Robin Kohler

In Ramsen wurde früher ein skurriler Brauch gefeiert: der Eierlauf. Wir waren auf Spurensuche und haben den letzten Eierritter im Altersheim besucht.

Theodor Neidhart sitzt auf einem Bürostuhl in seinem Zimmer im Altersheim Bachwiesen in Ramsen und legt eine Videokassette ein. Gebannt schaut er auf den Fernseher. Es erscheinen Diabilder und man hört Theodor Neidharts Stimme aus etwas jüngeren Jahren erklären: «Ein Schweizer Dragoner mit seinem Eidgenoss, wie das Kavalleriepferd genannt wurde. Dieses war bereit, notfalls sein Blut für das Vaterland zu opfern. Mit seinem Eidgenoss ging der Dragoner eine Art Ehe auf zehn Jahre ein.»

Theodor Neidharts Kavalleriepferd hiess Donat. Mit Donat nahm er 1972 an einem wilden Ritt in Ramsen teil. Als letzter oder einer der letzten Dragoner von damals bezeugt der heute 94-Jährige einen bizarren althergebrachten lokalen Osterbrauch: den Eierlauf.

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Der Eierlauf, das Eierlesen oder der Eierwurf ist womöglich heidnischen Ursprungs, seine Herkunft ist aber ungeklärt. Der Frühlingsbrauch wurde unter anderem im Baselbiet und in den Hegaugemeinden ausgeübt. In Schaffhausen wurde er vor allem in Ramsen nachweislich zelebriert. Den Nachforschungen des Lehrers und Lokalhistorikers Max Ruh zufolge ist das Eierlesen in Ramsen am 8. April 1877 erstmals belegt. Und zwar bereits mit Kassier, Fahnenträger und grossen Festlichkeiten. In den folgenden Jahrzehnten dürften weitere Wettläufe stattgefunden haben, während des ersten Weltkrieges wurde die Tradition hingegen sicherlich eingestellt. Der Grund dafür: Es brauchte für dieses Fest ziemlich viele Rosse und Reiter. Und eine wahnwitzige Menge an Eiern.

Das Eierlesen ging nämlich, zumindest in Ramsen, so: Dutzende von Reitern trabten Runde um Runde aus dem Oberdorf mit einem hartgesottenen Ei in der Hand an, welches sie durch einen triumphbogenartigen, mit Tannenreis gekränzten Ring auf dem Gemeindehausplatz werfen mussten. Dort wurden die Eier mit dem «Beeren», also mit Fischnetzen, aufgefangen. Verfehlte Eier klatschten gegen Hauswände und ins Publikum und wurden von den Kindern erhascht. Zum Spass wurde unter die gekochten Eier hier und da ein rohes gemischt war. Doch das ist noch nicht alles: Während die Reiter trabten und warfen, jagte eine Kutsche mit der Dorfprominenz auf einer vorgegebenen Strecke davon – und traf sie wieder ein, ehe der Wurf der rund 300 Eier beendet war, ging der weingefüllte Siegespokal an die Kutschen-Herrschaften statt an die Eierritter.

Der Eierlauf von 1931 in Ramsen. Auch Theodor Neidhart hatte daran teilgenommen. © zVg

Das Tamtam wurde von Musik, Fanfaren, Clowns und Hofnarren in mittelalterlichen Kostümen begleitet. Denn der Sage nach geht der Brauch auf das 12. Jahrhundert zurück: Die Gräfin Clothilde, Gemahlin des englischen Grafen Waldemar von York, habe als Gottesdank für ihren langersehnten männlichen Nachwuchs Eier an die Armen austeilen lassen. Die Dorfobrigkeiten in der Kutsche sollten beim österlichen Festakt die Grafen und ihr Gefolge darstellen.

Eine ziemliche wilde Sache also. Die Ramserin Marie Geyer hält ihre Erinnerungen an zwei Eierlesen in ihrer Jugend (darunter wohl jenes von 1922) im Schaffhauser «Neujahrsblatt» 1969 fest: «D’Wuche vor däm Eierläsetsunntig hät me d’Eier möse zämeträge. I jedem Puurehus und wo susch no Höör gaxet hönd, isch aaklopfet und um Eier gfröget wore. Gar mäng hübsch Töchterli hät der Muetter gschmeichlet und anere umebättlet, doch jo nid knauserig z’si.»

Auch Josef «Seppel» Gnädinger, der spätere Kunstmaler, beschreibt den Eierlauf von 1931 in einem Schulaufsatz, der in der Jungwacht-Zeitschrift «Schwiizerbueb» publiziert wurde. So ist die Tradition für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts gut belegt, bevor sie vorerst verschwand.

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Nach einer über 40-jährigen Pause schliesslich wurde das Eierwerfen am Ostermontag 1972 wieder aufgenommen. Theodor Neidhart, der ehemalige Ramser Dragoner und heutige Altersheimbewohner, erinnert sich noch gut daran. 1951 war er ins Dorf zurückgekehrt, nachdem er fünf Jahre «in der Fremde» war. Er hatte seine Bäcker- und Konditorlehre in Interlaken absolviert und danach in der Westschweiz gearbeitet, bis der Vater sagte, er solle zurückkommen, es gebe genug Arbeit in Ramsen. So stieg Theodor in der Familienbäckerei ein und führte diese bis ins hohe Alter.

Bis auf jene fünf Jahre in der Fremde, verbrachte der Bäcker sein ganzes Leben in Ramsen. Er interessiert sich lebhaft für Geschichte und wurde zum Gedächtnis des Dorfes. Mehrere seiner Dia-Vorträge sind auf DVD aufgezeichnet. Neidhart hat aber auch noch anderes Filmmaterial zur Hand. Auf seinem Fernseher im Altersheim zeigt er einen Amateur-Stummfilm vom Eierlesen 1972. Ein riesiger Volksauflauf fand statt, die Kinder tanzten und sangen, der Musikverein spielte auf und die Herren Gemeinderäte winkten mit ihren Zylindern aus der Adeligen-Kutsche. Beim Eierwerfen ging es rasant zu und her. «Selbst der Ramser Seelenhirte, Domherr Wäschle, dem ein Ei punktgenau auf dem linken Sehorgan zerplatzte, machte tränenden Auges gute Miene zum sicher nicht bös gemeinten Spiel», hiess es später in der Zeitung. Nach dem Festakt feierte man beim Eiersalatessen im «Hirschen» weiter.

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Das Eierwerfen hing stark mit der Kavallerie der Schweizer Armee zusammen, erzählt Theodor Neidhart. 1971 sei diese «leider» abgeschafft worden. Der Eierlauf von 1972 sei deshalb auch eine Art Abschlussfest der Dragoner gewesen. Mit der Kavallerie fand so auch der Eierlauf sein Ende. Die Heimatvereinigung habe 1997 nochmals einen Eierlauf veranstaltet, so Neidhart. Ein solches Aufgebot an entsprechend trainierten Pferden wie früher sei heute nicht mehr möglich, sagt auch der Reitverein Ramsen.

1972 fand der letzte Eierlauf statt. © zVg

Die Zeiten würden sich ändern, sagt Theodor Neidhart, wie er in seinem Zimmer im Altersheim sitzt. «Die Ramser hatten damals keine Autos, an den Sonntagen fuhr man nicht weg und schaute stattdessen, dass man im Dorf Aktivitäten entfalten kann», meint er. «Als ich jung war, hatten wir elf Wirtschaften in Ramsen, heute sind es noch zwei.»

Auch eine Bäckerei gibt es in Ramsen keine mehr. Theodor Neidhart war der letzte Bäcker von Ramsen, genauso wie er der wahrscheinlich letzte Eierritter ist. Zum Glück sind beide Traditionen, das Brotbacken und das Eierwerfen, in seinen historischen Aufzeichnungen dokumentiert.