Hell’s Angels: Eine seltsame Dorfsaga

29. März 2024, Kevin Brühlmann
Pit, seit 28 Jahren ein Motorrad-Outlaw, zeigt sein Hell’s-Angels-Tattoo. © Robin Kohler

Die berüchtigten Hell’s Angels sind in ein Wohnquartier in Feuerthalen gezogen. Um Freunden die schöne Region zu zeigen, sagen sie.

«Die Hell’s Angels sind sich ihres Rufs als tollwütige Hunde so sehr bewusst, dass sie eine perverse Freude daran haben, freundlich zu sein.»
– Hunter S. Thompson in «Hell’s Angels», 1966

Als stünden wir in einem Aufzug, wo man streng aneinander vorbeischaut, schaut der Mann durch mich hindurch. Er scannt den Raum mit seinen Laseraugen, die Arme über seiner schwarzen Lederkutte verschränkt. Vielleicht erwartet er im nächsten Moment einen Angriff. Vielleicht würde er mir auch am liebsten eine verpassen.

Auf seiner Lederkutte steht: Motorradclub Red Scorpions, Supporters. Supporter wovon?, hatte ich gefragt.

«Supporter eben, Hell’s Angels, steht da doch», knurrt er, und der Strahl seiner Laseraugen schlägt irgendwo hinter mir ein. Ich schaue ihn fragend an. Aber er schweigt und scannt. Es ist düster im Raum. Von der Decke leuchtet schwaches rotes Licht. An einer Wand ist ein grosser Totenschädel mit Flügeln aufgemalt, das Logo der Hell’s Angels. An der Bar reihen sich ein paar Leute ein, um Getränke zu bestellen. Auf den Tischen stehen Aschenbecher und mit Chips gefüllte Pappteller.

Das Gebäude steht inmitten von Wohnhäusern in Feuerthalen. Auf den Strassen gilt Tempo 30. Die Gärtchen und Hecken sehen so aus, als warten sie nur darauf, jährlich vom Bauamt der Gemeinde kontrolliert zu werden.

Der Blick des Lasermanns fliegt immer wieder über einen drahtigen Mann mit weissgrauen Haaren, die ihm bis über die Schultern reichen. Unter seiner schwarzen Hell’s-Angels-Kutte trägt er einen Armypullover, und er trinkt Weisswein in kleinen Schlucken. Der Mann sieht aus wie ein Hippie, der die falschen Kleider ausgesucht hat. In diesem Moment überreicht ihm ein Kuttenträger aus Deutschland eine Tasche mit Geschenken, Brot und Salz, auf dass die neue Ortsgruppe der Angels, das Charter North Town, sich hier gut einleben möge.

Vor ein paar Tagen hatten die Hell’s Angels ein Papier an die Nachbarinnen und Nachbarn verteilt, um über ihr neues Klublokal im Dorf zu informieren und zu einem Apéro einzuladen. «Wir werden stets bemüht sein, um ein angenehmes Nachbar-Verhältnis zu erfüllen», hiess es im Brief. Was die schweren Maschinen der Angels betrifft, die Harley-Davidsons mit ihren Knallmotoren, stand weiter, man erwarte «ein gesittetes, ruhiges An- und Abfahren». Unterzeichnet war das Papier mit dem Namen Sivel, und Sivel, sagt nun der Lasermann knapp, sei der Mann mit den langen weissgrauen Haaren.

Inzwischen haben sich Journalisten zu Sivel an den Tisch gesetzt, um zu fragen, wie das alles komme, die berüchtigten Hell’s Angels im schönen Feuerthalen, in einer 30er-Zone, und Sivel sagt: Alles halb so wild. Man wolle hier internationale Freunde empfangen und ihnen die schönen Orte der Region zeigen. Ein Fotograf bittet ihn, vor dem Totenschädel zu posieren. Sivel hebt einen Cowboystiefel aufs Ledersofa und blickt ernst in die Kamera.

Dann erkundigen sich zwei Männer nach Sivel. Wie alle Zivilpolizisten sind sie daran zu erkennen, dass alles an ihnen zu unauffällig ist, Jacke und Hose, Frisur, Schuhe. Sivel notiert Telefonnummer und Adresse auf ein Papier. Einer der Polizisten steckt es zu seiner Dienstmarke. Dann verabschieden sie sich.

Die Behörden waren beunruhigt über den Zuzug der Angels (wie auch Anwohner, die sich beim Gemeinderat meldeten). Man befürchtet Revierkämpfe. Denn eines lassen die Angels niemals zu: dass ihnen jemand die Vormachtstellung in der Schweiz streitig macht. In der Rockerszene sind die Angels Gesetzgeber, Regierung und Richter in einem. Wer sich ihnen nicht unterordnet, wird eingeschüchtert, verprügelt, vertrieben, und zwar alles unter der Oberfläche. Die meisten Konflikte tauchen nie in einer offiziellen Statistik auf. Beim Hausarzt oder bei der Versicherung heisst es dann: die Treppe heruntergefallen.

Eine Sprecherin der Bundespolizei sagte den Schaffhauser Nachrichten, das Lokal in Feuerthalen sei eine Reaktion auf die Ausbreitung der Bandidos, eines Motorradclubs aus Deutschland, den Todfeinden der Angels. Vor einigen Jahren hatten sich die Bandidos nach Bern gewagt. Zu ihrer Gründungsfeier tauchten die Angels auf. Es kam zu einer Schiesserei. Dann fackelten die Angels ein Lokal der Bandidos ab.

Es passierte etwas, was die Angels noch mehr hassen als das Vordringen der Bandidos: Die Sache kam an die Öffentlichkeit. Die Staatsanwaltschaft schaltete sich ein. Im Juni 2022, als der Prozess in Bern stattfand, lieferten sich Hunderte Bandidos und Angels eine Strassenschlacht.

Die Bruderschaft

«Was meinst’n du mit ‹Recht›? Uns interessiert nur, was uns recht ist. Wir ham ‘ne eigene Definition von dem Wort ‹Recht›.»
– Ein Angel (aus: «Hell’s Angels»)

Sivel geht nach draussen, vorbei an einem Boxautomaten, auf einen Kiesplatz. Er zündet sich eine Zigarette an. Zwei jüngere Kuttenträger, bärtig, tätowierter Hals, stehen hinter einem Hightechgrill. Die Würste verteilen sie gratis. Ungefähr zwanzig Nachbarinnen und Nachbarn aus dem Quartier sind gekommen. Väter mit Kindern, ältere Ehepaare, junge Frauen. Bei den meisten Anwesenden handelt es sich jedoch um Kuttenträger, Angels und befreundete Rocker wie die Maniacs, die ein Lokal in Neuhausen besitzen. Wenn sie sich die Hand geben, schwingt immer etwas Verschwörerisches mit.

Für Nachbarinnen und Nachbarn gab es Gratiswürste: «North Town»-Angels und ein Supporter der Red Scorpions am Grill. © Robin Kohler

Sivel hat sich bereiterklärt, ein paar Fragen zu beantworten, nachdem ich ihm erzählt hatte, dass ich für die Arbeiter-Zeitung arbeite. Der Name gefiel ihm.

«Mit 17 war ich schon im Motorradclub», sagt Sivel in mein Tonbandgerät. Seine Stimme klingt rau. «Ich erkannte früh: Bei uns gilt ein Handschlag. Ein Wort ist ein Wort. Das ging in unserer Gesellschaft immer mehr verloren. Der Zusammenhalt, die Bruderschaft, zog mich an. Das lebte ich von Anfang an. Wir sind keine Pfadfinder. Wir sind kein Kegelclub. Wenn du einmal ein Angel bist, bleibst du es auch ein Leben lang.»

Seine bürgerliche Identität als Silvio Reinhard liess er vor vielen Jahren hinter sich. Er wurde Sivel, der Motorrad-Outlaw. Ende der Achtzigerjahre war er gerade auf Hafturlaub, er sass mal wieder wegen verschiedenen Kleinigkeiten, wie er es nennt, als er sich überreden liess, den Anker zu übernehmen, eine Rockerkneipe in Frauenfeld. Bis heute ist er dort Wirt.

«Früher kamen sie von Zürich, von St. Gallen, von überall her, um sich im Anker zu prügeln», sagt Sivel. «Am Anfang musste ich brutal aufräumen.»

«Was heisst: aufräumen?»

«Die, die blöd taten, mussten verschwinden. Dann sagten sie: Was, jetzt wirfst du mich raus, gerade du, der früher am blödsten von allen tat?» Sivel lacht heiser. «Ich musste einfach meine Linie durchziehen.»

«Was sind denn deine Taten, mit denen du dein Image als Rocker aufgebaut hast?»

«Da müsste ich den Strafregisterauszug bestellen. Den zu lesen, würde etwas länger dauern. Müsste man wohl eine neue Tintenpatrone in den Drucker einsetzen. Ärger gesucht habe ich nie. Aber wenn jemand Ärger haben will, kann er ihn haben.»

«Auch heute noch?»

«Ja, sicher. Ich bin einundsechzig und topfit. Sport hier, Sport da. Bin viel mit dem Hund unterwegs. Ich mache nicht unbedingt Kampfsport. Aber ich weiss, wies geht … Wenn sich jemand mit einem Angel anlegt, hat er ein Problem mit uns allen. Das muss einem bewusst sein. »

«Dann kreuzt ihr vor seinem Haus auf?»

«Ja, und dann schauen wir mal.» Sivel lächelt und zieht an seiner Zigarette. «Aber das kommt nicht mehr oft vor. Früher wars viel einfacher, weisst du. Früher ging es härter zu und her, aber fairer. Da habt ihr euch auf die Fresse gehauen. Der Verlierer stand auf und sagte: ‹Du hast gewonnen, ich zahl’ dir ein Bier.› Wir stiessen an, und die Party ging weiter. Heute provozieren sie dich, bis du es wirklich nicht mehr ignorieren kannst. Dann geht halt mal die Ohrfeigenbüchse herum. Und was machen sie? Sie rufen die Polizei. Das passiert immer öfter.»

«Dann geht halt mal die Ohrfeigenbüchse herum»: Angel und Wirt Silvio «Sivel» Reinhard. © Robin Kohler

Bevor ich nach Feuerthalen kam, um mich mit einer perfekt gegrillten Bratwurst bestechen zu lassen, hatte ich wieder einmal «Hell’s Angels: eine seltsame und schreckliche Saga» ausgegraben, ein Buch des Reporters Hunter S. Thompson. Mitte der 1960er-Jahre begleitete er eine Reihe Angels in Kalifornien. Er kaufte sich eine Harley, fuhr mit ihnen herum, und zusammen soffen sie die Biervorräte ganzer Supermärkte leer. Die Angels hingen in seiner Wohnung herum, verwüsteten seine Einrichtung, und später verprügelten sie ihn, was ihn nicht daran hinderte, sich mit ihnen geistig zu verbrüdern, wenn es ums Niedermachen von Frauen ging.

Die Lektüre war verblüffend. Die Angels rekrutierten sich schon immer mehrheitlich aus Leuten, die Schwielen an den Händen nicht nur aus der Zeitung kennen, und darum wollen sie nichts mit einer Gesellschaft zu tun haben, die nichts für sie bereithält. Im Gegensatz zu den radikalen Studenten von 1968 oder auch den radikalen Klimaaktivistinnen heute, die sich gegen die Vergangenheit auflehnen, bekämpfen die Angels die Zukunft. Ihre einzige Gemeinsamkeit ist die Verachtung für die Gegenwart, den Status Quo.

Im Kern scheinen die Angels noch immer gleich zu funktionieren wie vor sechzig Jahren. Die Erzählung, die Hunter S. Thompson und die Angels selbst verbreiteten, blieb dieselbe. Die Erzählung besagt: Die Hell’s Angels, so abscheulich sie auftreten mögen, leben nach ihren eigenen Gesetzen, die Aussenstehende nicht verstehen, und man muss sie bloss in Ruhe lassen, mit ihrem Bruderschaftskodex regelt sich alles von selbst, solange die Polizei sich raushält.

Auch Sivel sagt jetzt, im Wissen um die absolute Dominanz der Angels in der Schweiz: «Wir haben alles geregelt. Im Juni 1983 hatten wir die erste grosse Versammlung aller Schweizer Rockerclubs. Jeder meinte, es handle sich um eine Falle. Alle hatten den Kofferraum vollgeladen, durchgeladen –»

«– mit Waffen?»

«Natürlich. Das war früher normal. Nach dem Meeting schnauften alle aus. Seither treffen sich alle Motorradclubs ein- oder zweimal pro Jahr. Die Schweiz ist ein Vorzeigeland. Wir haben keine Rockerkriege. Wir haben alles geregelt. Wir wollen keine Rockerclubs vom Ausland.»
«Was ist mit den Bandidos?», frage ich.

«Bandidos gibt es nicht in der Schweiz», sagt Sivel, und plötzlich klingt er sehr, sehr feindselig.

Rote Vorhänge
Das Gebäude, in dem die Angels ihr neues Lokal eingerichtet haben, ist eine Mischung aus Lagerhalle und Altbau mit Giebeldach. Im Erdgeschoss befindet sich eine Velo-Werkstatt. Der düstere Clubraum der Hell’s Angels liegt im ersten Stock. Die Fenster sind mit roten Tüchern oder Tapeten verdeckt. Vom Innern des Raums sieht man die Fenster allerdings nicht. Zwischen Clubraum und Fenstern muss es also ein geheimes Zimmer geben.

Das neue Klublokal der Angels in Feuerthalen liegt in einer Tempo-30-Zone. © Robin Kohler

Auf dem Vorplatz steckt sich ein grosser, massiger Mann mit Glatze und Schnauz neue Munition in seine Elektrozigarette. Er muss Ende fünfzig sein. Den Reissverschluss seines Pullovers hat er so weit geöffnet, dass man das Hell’s-Angels-Tattoo auf der Brust gerade noch so erkennt. Vorsichtig nähere ich mich.

Der Mann stellt sich als Pit vor, Chef des Charters Riverside im St. Galler Rheintal. Von irgendwoher kommt mir sein Gesicht bekannt vor. Aber mein Gedächtnis lässt mich im Stich.

«Bin auf Anstandsbesüchlein bei meinen Brüdern», sagt Pit. Seine Laune ist hervorragend, und er hat nichts dagegen, dass das Gespräch aufgezeichnet wird. «Bin mit dem Auto hergekommen. Bei uns oben hats geregnet, und ich bin aus dem Alter draussen, dass ich den harten Kerl spielen muss.»
«Was passiert da oben?» Ich deute auf das Geheimzimmer im Klublokal.

«Wenn einer unserer Brüder müde ist, kann er sich dort ausruhen. Gibt Gelegenheiten, um ein Schläfchen zu machen.»

«Die Angels kontrollieren diverse Rotlichtlokale, zum Beispiel in Zürich.»

«Nein, nein. Der grösste Zuhälter ist der Staat. Heute sind ein paar vereinzelte von uns in diesem Gewerbe. Es lohnt sich nicht mehr.»

Das Angels-Charter in Zürich war die erste Ortsgruppe ausserhalb der Vereinigten Staaten. «Es ist eines der herausragenden Charters in ganz Europa», sagt Chefinspektor Jörg Albrecht, der beim Landeskriminalamt Baden-Württemberg organisierte Kriminalität verfolgt, in einem Interview mit der Aargauer Zeitung. «Rauschgifthandel und Prostitution gehören zum Zürcher Charter.»

Inzwischen ist es manchem Angel in Deutschland zu heiss geworden. Es gab Razzien ohne Ende, die Behörden verboten zahlreiche Charter, und die Rocker durften ihre Kutten nicht mehr öffentlich tragen. Ihnen konnte organisierte Kriminalität nachgewiesen werden. Meist ging es um Drogenhandel, Gewalttaten und Prostitution.

Den Schweizer Behörden hingegen ist es im Gegensatz zu den deutschen nie gelungen, Mitglieder der Hell’s Angels wegen organisierter Kriminalität dranzubekommen. 2004, als es die Bundesanwaltschaft zuletzt versuchte, stürmten 300 Polizisten das Klublokal an der Langstrasse in Zürich. Doch die Razzia verkam zu einem Desaster. Die Ermittlungen mussten eingestellt werden. Am Ende wurden nur ein paar Mitglieder wegen kleinerer Straftaten verurteilt. Dennoch sagt der deutsche Chefinspektor Jörg Albrecht: «Die Strukturen in Deutschland und der Schweiz sind dieselben und ineinander verwoben.»

Pit lädt seine Elektrozigarette nach. Heute scheint ihn nichts aus der Ruhe zu bringen. «Bei uns gibt es viele Unternehmer aus der Baubranche oder der Gastronomie. Bei uns spiegelt sich die ganze Gesellschaft», sagt er, und anstatt über Bandenkriminalität zu reden, rückt er bis auf ein paar Zentimeter an mein Gesicht heran, den Kopf nach unten geneigt. «Ich persönlich», sagt er, «arbeite zwölf bis fünfzehn Stunden. Jeden Morgen bin ich um halb fünf Uhr im Büro. Ich arbeite bei einem Startup, Hightech mit Mikroalgen. Ich arbeite mit ungefähr drei Unis zusammen. Da verstehen die meisten nur Bahnhof. Wir holen Wirkstoffe aus den Algen. Die Algen machen ja Photosynthese. Bei uns wechselt hell und dunkel im Zehntelsekundenbereich. Die Hauptstoffe, die man kennt, sind Astaxanthin, Fucoxanthin, Omega 3-EPA, die kennst du, oder? Die kannst du für Kosmetik, Pharma und so weiter brauchen. Jetzt sind wir drei Wochen unten in Abu Dhabi, um die Anlage zu bauen. Alles bio! Alles Solarenergie!»

Ich nicke tief beeindruckt.

«Du wirst schon noch von uns hören», sagt Pit. «Jetzt gehen wir in Produktion. Das ist genial, ich sags dir.»

«Wie bist du dazu gekommen? Bist du Biologe?»

«Nein, Zimmermann. Ich mache mich halt schlau, wenn mich etwas interessiert … Aber sag mal, was hältst du eigentlich von den Medien?»

P. S. Am Abend, längst zuhause, hilft mir ein Freund auf die Sprünge. Pit kam mir bekannt vor, weil er seit über zwanzig Jahren nationales Kulturgut ist. Er war Gast in der Sendung «Jugend und Gewalt» mit Moderator Dani Fohrler (auch bekannt unter Osman, wie einer der Gäste hiess). Pit, in Angels-Kutte, sagte, er sei «Diskothekenbesitzer», und fuhr einen jungen Mann an: «Wa hesch denn du scho erlebt, du huara Banana!» Dann knurrte er, man könne die Sache auch nach der Sendung klären.