«Rüeger war ein Geschöpf des Pfarrerfilzes»

23. März 2024, Xenia Klaus
soBisher stand Johann Jakob Rüeger auf einem Sockel. Eine Historikerin will ihn auf den Boden der Tatsachen holen. ©Robin Kohler
soBisher stand Johann Jakob Rüeger auf einem Sockel. Eine Historikerin will ihn auf den Boden der Tatsachen holen. ©Robin Kohler

Johann Jakob Rüeger gilt als der erste Chronist Schaffhausens und als früher Verfechter von religiöser Toleranz. Eine Forscherin sagt nun: Rüeger war ein berechnender, intoleranter Ehrgeizling.

Vor der Stadtbibliothek thront mehrere Meter über dem Boden eine Figur aus rötlichem Sandstein. Sie trägt Umhang, Bart und vier Bücher in den Händen. Auf dem Sockel steht: Dem Andenken des Chronisten Johann Jakob Rüeger. Rüeger lebte von 1548 bis 1606 in Schaffhausen und schuf das, was als erste Chronik von Schaffhausen gilt. Deshalb ist er bis heute populär.

Rüeger pflegte regen Briefverkehr mit mehreren wichtigen Persönlichkeiten der Zeit. Zum Beispiel mit dem Herrn der Burg Randegg: Hans von Schellenberg. Diese Briefe hat Ursula Kampmann ausgewertet. Kampmann ist eine Historikerin und Münzspezialistin aus Lörrach. Sie sagt: Das Bild, das wir von Rüeger haben, ist kompletter Humbug.

Ursula Kampmann arbeitet als Historikerin und Numismatikerin. Foto: zVg

AZ Ursula Kampmann, Sie haben den Briefwechsel von Hans von Schellenberg und Johann Jakob Rüeger transkribiert und ins Hochdeutsche übersetzt. Nächstes Jahr folgt die historische Einordnung mit einer «völlig neuen Biografie» des «ersten Chronisten von Schaffhausen». Was wird drin stehen?
Ursula Kampmann Wenn man anschaut, was für ein Bild wir heute von Johann Jakob Rüeger haben, herrscht immer noch jenes des Historikers in seinem stillen Pfarrerstübchen vor. Sein grosses Netzwerk bis in den Süddeutschen Raum, das auch Katholiken umspannte, wird gerne als Zeichen religiöser Toleranz verklärt. Aber das ist eine Erzählung über Rüeger, die zurechtgelegt wurde, und wenig bis gar nichts mit der Wahrheit zu tun hat.

Wie war er denn wirklich?
Rüeger war ein protestantischer Hardliner, der in der Kirche aufsteigen wollte und die Geschichtsschreibung für seine persönlichen Zwecke nutzte. Und um eine politische Botschaft zu senden. Rüeger wäre gerne oberster Antistes (Kirchenvorsteher, die Red.) von Schaffhausen geworden. Wahrscheinlich war seine Lehre sogar so hardcore reformatorisch, dass er sich für dieses Amt unmöglich gemacht hat.

Ist das nicht ein Widerspruch zur Freundschaft mit Hans von Schellenberg, einem katholischen Gutsherren?
Sagen Sie nicht Freundschaft dazu, das war es nämlich nicht. Das Bild, das wir von Freundschaft haben, entstand erst in der Romantik. Und ganz sicher waren Schellenberg und Rüeger nicht befreundet. Nichts deutet darauf hin, dass sie sich besonders gemocht hätten.

Die beiden haben über Jahre regelmässig Briefe ausgetauscht. Was war das zwischen Rüeger und Schellenberg, wenn keine Freundschaft?
Auch Briefe hatten nicht dieselbe Funktion wie heute. Das war kein strikt privater Austausch. In diesem Briefwechsel finden wir zwei grundsätzlich verschiedene Kategorien. Es gibt lange Briefe, in denen Schellenberg Wissen, Weltläufigkeit und Rang demonstrieren möchte. Solche Briefe waren eine eigene literarische Gattung, die nicht nur für den Adressaten bestimmt war, sondern vorgelesen, abgeschrieben und publiziert wurden. Andere Briefe enthalten Aufträge, die Schellenberg Rüeger erteilt. Das war es, was Rüeger und Schellenberg verband: Dass sie beide einen Nutzen aus der Beziehung ziehen konnten.

Worin bestand dieser Nutzen?
Rüeger brauchte Schellenberg wegen dessen grosser Bibliothek, seinem gesellschaftlichen Einfluss – aus den Briefen können wir lesen, dass er wohl versuchte, Schellenberg dazu zu bewegen, für seine gewünschte Beförderung zum Antistes ein gutes Wort einzulegen – und schlicht wegen Schellenbergs Reichtum, an dem Rüeger teilhaben wollte. Manche von Rüegers Gemeindemitgliedern waren Untertanen Schellenbergs. Für die hat Rüeger dann mit Schellenberg verhandelt, zum Beispiel über die Aufhebung einer schlimmen Ehrenstrafe: Den Säbel in der Kirche nicht mehr tragen zu dürfen. Natürlich hat Rüeger dann wiederum Gegenleistungen von diesen Menschen erwartet.

«Rüeger war ein protestantischer Hardliner, der in der Kirche aufsteigen wollte und die Geschichtsschreibung für seine persönlichen Zwecke nutzte.»

Und was hatte Schellenberg von der Beziehung zu Rüeger?
Schellenberg andererseits nahm Rüegers Dienste in Anspruch. Denn Rüeger war nicht nur Pfarrer, er war auch als Faktor für Adlige tätig. Ein Faktor war ein Vermittler von Gütern, ein Agent. Wenn seine Kunden etwas brauchten, hat Rüeger es besorgt. Für Schellenberg zum Beispiel Zigerkäse oder Rosmarin. Häufig waren das auch Bücher oder Münzen. Schaffhausen war als ein Zentrum der damaligen Post ein exzellenter Standort, um Faktor zu sein. Dafür bekam Rüeger dann grosszügige Zuwendungen von seinen «Kunden».

Was war Schellenberg für ein Typ?
Schellenberg war nach heutigen Standards ein Versager. Seine Erträge brachen in Folge der kleinen Eiszeit ein, er musste viel von seinem Gebiet verkaufen. Anstatt seinen Gütern Sorge zu tragen, hat er sich eine tolle Bibliothek gebaut und sich um seine Reputation gekümmert. Schellenberg stammte mütterlicherseits von den Schaffhauser Fulachs ab. In dieser Zeit war umstritten, inwiefern das städtische Patriziat zum Adel zu zählen war. Seine Herkunft war also nicht ganz lupenrein. Deshalb hatte Schellenberg ein grosses Interesse daran, dass eine für ihn passende Version der Familiengeschichte in Rüegers Werk abgebildet wurde. Seine Versuche der Einflussnahme sind in den Briefen gut dokumentiert.

Ist Rüeger den Bitten nachgekommen?
Wohl schon. Rüeger bekam im Gegenzug dafür wieder Geschenke und Zuwendungen.

Rüeger war also nicht nur ein religiöser Hardliner, sondern auch noch bestechlich?
Das ist zu sehr aus der heutigen Zeit gedacht. Damals waren solche Gefälligkeiten sehr üblich und überhaupt nichts Verwerfliches. Das betraf auch nicht nur Schellenberg: Rüeger hat, wie andere auch, Geschichtsschreibung betrieben und dann dafür Mäzene gesucht, die so wiederum ihren Einfluss gesteigert haben. Rüeger hat zum Beispiel auch im Auftrag des Schaffhauser Patriziers Hans im Thurn eine Familienchronik geschrieben. Die Geschichtsschreibung war für Rüeger eine weitere Quelle von Einkünften.

Und Macht?
Sicher ein Mittel um voranzukommen. Rüeger war ehrgeizig, er wollte gesellschaftlich und in der Kirche aufsteigen. Das ist ihm auch gelungen, er hat eine sehr beeindruckende Karriere hingelegt.

Ein berechnender Typ.
Das kann man so sagen. Aber andererseits muss man fragen: Welche Möglichkeiten hätte er sonst gehabt? Rüeger war wahrscheinlich auch kein besonders schlechter Mensch. Er war einfach ein im Leben verwurzelter Mann, der das Geld ranschaffen wollte, um «angemessen» zu leben. Er lebte nun mal in einer Standesgesellschaft, in der für jeden der Platz im Leben vorgezeichnet war. Er versuchte, innerhalb dieser Ordnung seine Karrieremöglichkeiten auszuschöpfen. Rüeger bekam seine Chancen auch nur deshalb, weil er selber schon Pfarrerssohn war und die Tochter eines anderen hohen Pfarrers heiratete. Er war ein Geschöpf des Schaffhauser Pfarrerfilzes.

«Geld kennt keine Religion.»

Sie haben vorhin erwähnt, dass Rüeger ein reformierter Hardliner war. In welchen Positionen äusserte sich das?
Im Orgelstreit mit der Stadt beispielsweise. Da ging es darum, ob man in den Gottesdiensten wieder eine Orgel würde einsetzen dürfen. Der Stadtrat sprach sich dafür aus. Aber Rüeger scharte Pfarrer um sich, die sich mit ihm dagegen auflehnten. Das muss man sich mal vorstellen: Pfarrer waren Staatsangestellte. Es brauchte viel, bevor sich diese gegen die Stadtregierung stellten.

Waren sie erfolgreich?
Nein, die Orgel kam zurück.

Kostete das Rüeger die Antistes-Wahl?
So genau wissen wir das nicht. Aber es ist gut möglich.

Rüeger war also durchaus ein Idealist, einfach nicht bezüglich religiöser Offenheit, sondern bezüglich streng reformierter Werte.
Das kann man so sagen.

Kam sich das nicht in die Quere mit seinen «guten Diensten» auch für Katholiken?
Geld kennt keine Religion.

Abgesehen von der normalen «Bestechlichkeit»: War Rüeger ein guter Historiker?
Er war sehr intelligent und bewandert. Rüegers erste grosse Historiker-Tat war das Sortieren der Urkunden des Klosters Allerheiligen. Damit hat er Schaffhausen sicher einen riesigen Dienst geleistet. Das machte er nicht zum Selbstzweck, sondern weil die Stadt relativ kurz davor einen Prozess um das Kloster Paradies verloren hat. Man hatte Urkunden nicht mehr gefunden und konnte die Ansprüche nicht mehr hinreichend belegen. Also sollte Rüeger alle Urkunden sortieren. Dafür wurde er mit dem Ausmalen seines Hauses belohnt. Die Schaffhauser Chronik, für die er heute berühmt ist, war sicher auch eine grosse Leistung.

Das heisst: Das Bild vom Menschen Rüeger ist zwar falsch. Aber dass er den Titel «erster Chronist» Schaffhausens trägt, hat durchaus seine Berechtigung?
Das kann man etwa so zusammenfassen. Dass er überhaupt so bekannt ist, hat aber auch sehr viel mit zwei anderen Männern zu tun: Johann Jakob Mezger und Carl August Bächtold.

Sie haben aus dem Hardliner das heutige verklärte Bild geformt?
Ja, das war vor allem Johann Jakob Mezger. Er war im 19. Jahrhundert Pfarrer in Schaffhausen und schrieb die erste Biografie Rüegers, in der er eben das Bild des toleranten, edelmütigen Historikers zeichnete.

Johan Jakob Mezger hat Rüeger berühmt gemacht. Quelle: Stadtarchiv Schaffhausen
Johan Jakob Mezger (1817–1893) hat Rüeger berühmt gemacht. Quelle: Stadtarchiv Schaffhausen

Wieso hat Mezger das gemacht?
Das hatte politische Gründe. Mezger lebte zu Zeiten des Sonderbundkrieges. Er war ein Liberaler, der für religiöse Freiheit einstehen wollte, ein Verfechter der Trennung von Kirche und Staat. Aber die Schaffhauser Regierung machte es ihm nicht einfach. Die Stadt war von Spitzeln durchsetzt, die sofort rapportierten, wenn er von der Kanzel herab etwas Derartiges predigte. Also suchte Mezger wohl subtilere Wege, um seine Botschaft zu transportieren. Wir suchen ja gerne Vorbilder in der Vergangenheit.

Mezger verfolgte tatsächlich das hehre Ziel der religiösen Toleranz und verfälschte dafür das Bild von Rüeger?
Ich würde das Wort «hehr» nicht verwenden, sondern es eher ein «modernes» Ziel nennen. Eines, mit dem wir uns heute identifizieren können. Rüeger wäre es hingegen zuwider gewesen.

Hat Mezger sein Ziel erreicht?
Wir haben heute immer noch dieses Bild von Rüeger, was darauf hinweist, dass Mezger erfolgreich war.

Haben Sie ein Beispiel dafür, wo dieses Bild heute noch verwendet wird?
Zum Beispiel in den «Schaffhauser Biographien», da kommt sehr stark der Rüeger von Mezger durch.

Ist es nicht seltsam, dass sich ein Bild, von dem Sie sagen, es sei falsch, so lange halten konnte?
Es ist wie mit vielen Figuren: Vor langer Zeit wurde eine Erzählung kreiert und es wurde nie hinterfragt, ob die Schreibenden eine bestimmte Motivation hatten. Sehr viel später kam die Quellenkritik als Disziplin auf, aber diese eingängigen Erzählungen wieder aus den Köpfen zu bekommen, ist sehr schwierig. Zudem hatte die Rüeger-Chronik ein grosses Glück: Sie wurde von Carl August Bächtold publiziert. Bächtold hat Rüeger richtig gross gemacht. Er hat Rüegers Chronik editiert und mit allen verfügbaren Quellen eingeordnet. So ist sie ein Nachschlagewerk geworden, das heute noch einen riesigen Wert hat. Wenn heute Rüeger zitiert wird, werden eigentlich häufig Bächtolds Fussnoten verwendet. Bächtold hat wirklich einen Schatz geschaffen.

Hat Rüeger «richtig gross gemacht»: Der evangelische Pfarrer und Lehrer Carl August Bächtold (1838–1921).

Bächtold ist der eigentliche Held in dieser Geschichte?
Es gibt keine Helden in dieser Geschichte.

Kannten sich Mezger und Bächtold?
Ja, aber Bächtold kam etwa eine halbe Generation nach Mezger.

Was war Bächtolds Motivation?
Das kann ich nicht sagen, dafür kenne ich die Figur Bächtold nicht gut genug. Die Chronik hat er im Auftrag des Historischen Vereins Schaffhausen verlegt. Mit Mezgers Biografie und der von Bächtold verlegten Chronik wurde Rüeger in der Folge zu so etwas wie einem Maskottchen des Vereins. Es kam zu einer Ikonisierung.

Die Sie nun rückgängig machen wollen. Sie schreiben selber von einem «vom Sockel Stossen» von Rüeger.
Ich will ihn oder seine Leistung nicht schlecht machen. Ich will nur, dass er als Kind seiner Zeit verstanden wird. So wie wir alle.

Sie wollen ihm also unsere heutigen, quellenkritischen Werte überstülpen.
Sozusagen.

«Schellenberg hatte ein grosses Interesse daran, dass eine für ihn passende Version der Familiengeschichte in Rüegers Werk abgebildet wurde.»

Gibt es auch biografische, harte Fakten zu Rüegers Leben, die Sie neu entdeckt haben?
Wenige, ich nutze ja dieselben Quellen wie auch schon die früheren Historiker, Mezger zum Beispiel. Es gibt ganz kleine Details, die ich noch ergänzen konnte.

Haben Sie ein Beispiel?
Im Briefverkehr zwischen Schellenberg und Rüeger tauchen immer wieder Referenzen an den Palmesel auf. Nach langen Nachforschungen bin ich zum Schluss gekommen: Wahrscheinlich hat Rüeger ein Fasnachtsspiel darüber geschrieben. Das ist zumindest meine These, damit lassen sich alle Bemerkungen Schellenbergs dazu erklären.

Wenn Rüeger doch Fasnachtsspiele geschrieben hat, konnte er kein sehr extremer reformierter Hardliner sein?
Doch, doch, die waren damals auch bei den Reformierten noch absolut üblich. Ihrer erzieherischer Funktion wegen. Sie wurden erst einige Jahrzehnte später verboten.

Sie wurden gemäss Ihrem Vorwort von den wichtigen Schaffhauser Archiven unterstützt. Wieso würde man hier am Sockel dieser Ikone sägen wollen?
Es wusste niemand genau, was für Resultate bei meiner Arbeit herauskommen würden. Ich empfinde es als grosse Ehre, dass man mir die Aufgabe als Nicht-Schaffhauserin anvertraut hat. Aber ich habe schon Respekt davor, wie meine Sicht auf Rüeger hier aufgenommen wird. Die Lokalhistorikerin, die mir die Übersetzung der Schellenberg-Briefe einst übertragen hat, würde sich wohl im Grabe umdrehen. Sie war eine grosse Anhängerin Rüegers.

Wer war diese Lokalhistorikerin?
Sie hat gewünscht, nicht genannt zu werden und ich möchte diesen Wunsch respektieren.

Das Buch besteht fast nur aus den Briefen Schellenbergs an Rüegers. Wo sind die Antworten geblieben?
Das wissen wir nicht. Generell ist ja nur ein winziger, winziger Teil des damaligen Briefverkehrs erhalten.

Ein Brief von Rüeger selber ist aber erhalten. Wieso genau dieser?
Schellenberg hat ihn zurückgeschickt.

Weil sie sich gezofft haben?
Nein, Schellenberg wollte einen Witz machen, für den er sich auf diesen Brief beziehen musste.

Können Sie den Witz erklären?
Ich bin mir aber nicht sicher, ob er heute noch lustig ist.

Versuchen Sie es bitte.
Rüeger schrieb in seinem Brief «Ars Margarethe est mirabile rete». Das kann man nun ins Deutsche übersetzten als «Die Kunst der Margarethe ist ein wunderbares Netz». Schellenberg hingegen hat den Witz gemacht, dass man das auch als «Der Arsch der Margarethe ist ein wunderbares Netz» verstehen kann.