«Es war, als würde die Welt untergehen»

4. März 2024, Simon Muster
Hussam Magdi, der Bruder der kürzlich verstorbenen Frau. Robin Kohler
Hussam Magdi, der Bruder der kürzlich verstorbenen Frau. Robin Kohler

Vor drei Wochen wurde Hussam Magdis Schwester tot aufgefunden. Jetzt ist er in Schaffhausen. Der AZ erzählt er, wer seine Schwester war.

Am 5. Februar versendet die Schaffhauser Polizei eine Medienmitteilung. Eine junge Frau – Jahrgang 1996, rund 168 cm gross, dunkelbraune Haare – wird vermisst. Sechs Tage zuvor hat sie ihren Wohnort in Schaffhausen verlassen, gekleidet in einen braunen Daunenmantel, graue Turnhosen und beige Sneakers. Seither fehlt jede Spur. 

Vier Tage später folgt eine weitere Medienmitteilung. Die Kantonspolizei Zürich hat den leblosen Körper der Vermissten am Rheinufer bei Laufen-Uhwiesen gefunden. Die Umstände des Todes sind Gegenstand von Ermittlungen der Zürcher Kantonspolizei. Der in Schaffhausen wohnhafte Ehemann der Verstorbenen ist in Untersuchungshaft. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Hussam Magdi sieht sichtlich müde aus, als wir ihn in der Vorstadt treffen. Es ist inzwischen gut drei Wochen her, seit seine Schwester tot am Rheinufer gefunden wurde. Vor einer Woche ist er aus Dubai, wo er wohnt und arbeitet, nach Schaffhausen gereist. Der 33-Jährige ist in eine dicke Jacke und einen Schal eingehüllt – «kalt ist es bei euch». 

Hussam Magdi, womit haben Sie Ihre ersten Tage in der Schweiz verbracht?

Hussam Magdi m Anfang habe ich eine neue Anwältin gesucht. Die Anwältin meiner Schwester muss wahrscheinlich als Zeugin aussagen und kann uns nicht mehr vertreten. Jetzt haben wir in Zürich eine neue Anwältin gefunden. Ansonsten mache ich fast nichts. Neulich war ich mit jemandem aus meinem Hotel joggen. Und ich war am Rheinfall, weil ich sehen wollte, wo sie meine Schwester gefunden haben. Ich versuche, mich zu beschäftigen, damit ich nicht in Gedanken versinke.

Ich habe auch mit Ihrem Bruder Ahmed gesprochen. Er hat mir gesagt, er sei nervös, dass Sie alleine in der Schweiz sind. 

Meine Familie und ich machen uns Sorgen, weil wir immer dachten, die Schweiz sei ein sicheres Land. Aber seit dem, was meiner Schwester passiert ist, fühlen wir uns nicht mehr sicher. Deshalb habe ich auch gezögert, als mich die Polizei gebeten hat, in die Schweiz zu kommen. Wir wissen nicht, was mit meiner Schwester passiert ist, wie sie gestorben ist. Schaffhausen ist eine ruhige Stadt, abends sind die Geschäfte geschlossen, die Gassen leer, ich kenne hier niemanden. Deshalb gehe ich um 19 Uhr in mein Hotelzimmer und bleibe dort. Aber ich rufe jede Stunde meine Eltern an, um sie zu beruhigen. Wissen Sie, ich mache mir auch Sorgen um mich selber, auch ich habe etwas zu verlieren. Ich habe gerade geheiratet.

Gratulation.

Danke vielmal. Aber meine Frau und ich hatten bisher keine Zeit, unsere Ehe zu feiern. Wir haben am 30. Januar geheiratet, also einen Tag, bevor meine Schwester verschwunden ist. 

Hussam Magdis Schwester wurde am 9. Februar tot am Rheinufer gefunden.  Robin Kohler

Ihre Schwester ist im Oktober 2023 in die Schweiz gereist. Hatten Sie damals ein ungutes Gefühl, als Sie hierhin gereist ist?

Nein, sie war glücklich hier. Sie war immer sehr aktiv in den sozialen Medien, hat uns Bilder vom Rheinfall oder aus Zürich geschickt. Und dann natürlich, als sie endlich ihre Kinder wiedersehen konnte. Denn das war ihre einzige Mission in der Schweiz: Sie kam nach Schaffhausen, weil sie ihre beiden Töchter wiedersehen wollte. Die Kinder waren ohne ihr Einverständnis in die Schweiz gebracht worden und über sieben Monate von ihrer Mutter getrennt. Als sie ihre beiden Töchter wiedersah, war sie die glücklichste Mutter der Welt und teilte jeden Moment mit uns. Als sie am 31. Januar aufhörte, in den sozialen Medien zu posten, wussten wir, dass etwas nicht stimmte.

Was haben Sie dann gemacht?

Am nächsten Tag rief ich das Hotel an, in dem sie wohnte. Ich informierte auch die Polizei, die ägyptische Botschaft in Genf, einfach jeden in der Region, den ich im Internet finden konnte. Da meine Schwester Diabetikerin war, dachten wir zuerst, sie sei vielleicht ins Spital eingeliefert worden. Also habe ich alle Krankenhäuser in der Region und sogar in Deutschland angerufen. Lange haben wir nichts gehört, dann erhielten wir einen Anruf. Meine Schwester sei am Rhein gefunden worden. Das war für uns wie ein Weltuntergang. Wie allein sie sich in ihren letzten Stunden gefühlt haben muss … Das werde ich mir nie verzeihen.

In den vergangenen Wochen war Hussams Familie in Ägypten auf den sozialen und traditionellen Medien stark präsent. In Talkshows und Nachrichtensendungen wurde dort auch über den tatverdächtigen Ehemann gesprochen. Vieles lässt sich zurzeit nicht unabhängig verifizieren, weder die zuständigen Schaffhauser Behörden noch die Anwältin der Verstorbenen nehmen während den laufenden Ermittlungen gegenüber der AZ Stellung. Deswegen verzichtet die AZ darauf, aus der bisherigen Berichterstattung zu zitieren. Auf Anraten seiner Anwältin spricht auch Hussam Magdi nicht über die aktuellen Ermittlungen mit der AZ. 

Wer war Ihre Schwester?

Sie war hilfsbereit und fröhlich. Als Kind ist sie mir oft auf die Arme gesprungen, wenn ich das Haus verlassen wollte. Sie hat mich erst losgelassen, wenn wir wieder aus der Stadt zurück­gekehrt waren (lacht). Sie war gern unter Menschen, mochte sich nicht verstecken. Und sie war intelligent. Sie studierte Geschichte und interessierte sich für andere Kulturen. Wir sind keine reichen Leute, mein Vater ist Tischler, und wir haben von unseren Eltern gelernt, dass wir immer zuerst an unsere Mitmenschen denken sollen und erst dann an uns selbst. So hat auch meine Schwester gelebt. Ihr Lebenstraum war dementsprechend bescheiden: für immer mit ihren Kindern zusammen sein zu können.

Die Anteilnahme auf den sozialen Medien in Ägypten ist gross. 

Ja, ich weiss nicht, ob man sich in der Schweiz bewusst ist, wie gross der öffentliche Aufschrei in Ägypten war, als meine Schwester tot aufgefunden wurde. Ihr Tod war wochenlang ein Dauerthema in allen ägyptischen Fernsehsendern und Zeitungen. Wir haben Anrufe von überall bekommen, aus Schweden, Italien und natürlich aus Ägypten. Als wir meine Schwester letzte Woche in unserer Heimatstadt Sherbin beerdigt haben, war fast die ganze Stadt auf den Strassen. Eine Mutter geht allein ins Ausland, um ihre Kinder zu holen, und verliert ihr Leben – diese Geschichte lässt niemanden kalt.

Konnten Sie Ihre Nichten schon besuchen?

Nein, noch nicht. Aber wir wissen, dass sie an einem sicheren Ort sind. Die Schweizer Behörden haben mir gesagt, dass es einen Prozess gibt, den sie erst abschliessen müssen. Dann werden sie sich bei mir melden. Die Kinder sind die wahren Verlierer. Von einem Tag auf den anderen haben sie keine Mutter mehr, ich kann mir nicht vorstellen, wie sie sich jetzt fühlen. Ich möchte alles für das Wohl der Kinder tun, ob das nun bedeutet, dass sie in das Haus meiner Schwester in Shebrin zurückkehren oder dass wir in die Schweiz ziehen und mit ihnen hier leben. Sie sind der letzte Teil von meiner Schwester, den wir noch haben.

Wie lange planen Sie, in der Schweiz zu bleiben?

Ich weiss es nicht. Die Behörden haben mir gesagt, dass das Verfahren sehr lange dauern kann, aber ich habe es nicht eilig. Ich habe in meinem Leben nichts anderes zu tun, auch meine Frau hat mir gesagt: Ich kann auf dich warten, bis der Fall abgeschlossen ist. Egal, was wir tun, meine Schwester kommt nicht zurück. Aber wir können dafür sorgen, dass ihr Gerechtigkeit widerfährt.

Und bis dann?

Bis dann bleibe ich hier.