FDP-Präsident Stephan Schlatter will den letzten verbleibenden Sitz seiner Partei im Stadtrat verteidigen. Wäre er dem Amt gewachsen?
Vermutlich war sich FDP-Grossstadtrat Martin Egger der tragischen Komponente seines eigenen Witzes nicht bewusst. An einem Dienstagabend im Januar feierte das Stadtparlament seinen neuen Präsidenten Stephan P. Schlatter. Egger sagte auf der Bühne vergnügt, das Mittelinitial P. seines Parteikollegen Schlatter stehe für Patrick – nicht für Parkplatz.
Tatsächlich wird der Politiker Stephan Schlatter vor allem mit dem Auto assoziiert. Damit steht er sinnbildlich für die Themenverengung der Stadtschaffhauser FDP, die er seit 2015 präsidiert und die unter ihm immer mehr den Boden unter den Rädern verliert (ein ausführliches Psychogramm der taumelnden städtischen FDP lesen Sie hier).
Gleichzeitig ist der 53-jährige Stephan Schlatter die Allzweckwaffe seiner Partei. Er ist nicht nur Parteipräsident und als Präsident des Grossen Stadtrats für ein Jahr der formell höchste Schaffhauser, nun möchte er auch noch den letzten verbleibenden Sitz seiner Partei im Stadtrat verteidigen, den Raphaël Rohner Ende Jahr abgeben wird. Von einer Gegenkandidatur aus den Reihen der FDP ist nichts bekannt, viel eher scheint es, als werfe sich Schlatter in die Bresche. Aller Voraussicht nach wird er am heutigen Donnerstagabend an der Nominationsversammlung offiziell zum Stadtratskandidaten gekürt. Damit lastet das ganze Gewicht des städtischen Freisinns auf der Schlatter’schen Hinterachse.
Zeit für einen Belastungstest.
Wird Schlatter falsch verstanden?
Auf den Parkplätzen vor Stephan Schlatters Haus im Villenquartier auf der Breite stehen drei Autos: Ein Lieferwagen, den die Maler fahren, die gerade bei Schlatter arbeiten. Ein sündhaft teures BMW-Sportcoupé seines Sohnes, der noch bei den Eltern wohnt. Und eine Mercedes-Limousine des Typs A200, an deren Steuer sich ein gut gelaunter Stephan Schlatter an einem frühen Freitagabend setzt. Auf die Anfrage, ob er bereit wäre, vor der Nominationsversammlung mit der AZ auf eine Spritztour zu gehen, sagte er sofort zu. Stephan Schlatter ist kein Mann, der lange zaudert.
Zügig kurvt er in die Stadt und findet beim Museum zu Allerheiligen auf Anhieb einen Parkplatz. Wir wollen einen kurzen Rundgang durch die Stadt machen, die er regieren will, und bald zeigt sich: Beim Thema Verkehr fühlt sich Schlatter, dessen bisher einziges Postulat als Grossstadtrat eine «grüne Welle» bei den städtischen Ampeln forderte und der einst sagte, Parkplätze seien «der Lebensnerv jeder Innenstadt», missverstanden. Wie wir in der Neustadt stehen, schlägt er ganz andere Töne an und sagt, Parkplätze seien für die FDP kein Kernthema: «Parkplätze können einem ja nicht am Herzen liegen.»
Aber Herr Schlatter, wieso beschäftigen Sie sich denn die ganze Zeit damit?
Es geht uns darum, dass das Gewerbe funktioniert. Und die Leute wollen nun einmal möglichst nah an ihr Ziel heranfahren. Wenn sie das nicht können, kommen sie nicht mehr.
Beim Schuhgeschäft Ihres Parteikollegen Diego Faccani kann man nicht mit dem Auto vorfahren. Die Kunden kommen trotzdem.
Dort ist man es halt gewohnt, dass man nicht vorfahren kann.
Wird die FDP einfach falsch verstanden?
Ja, wir schaffen es nicht, unsere Themen so zu transportieren, dass man versteht, was wir meinen.
Wo wird die FDP falsch verstanden?
(überlegt lange) Da fällt mir jetzt kein konkretes Beispiel ein.
Mit welchen Themen werden Sie in den Wahlkampf ziehen?
Ich werde sicher keine konkreten Versprechen machen.
Was qualifiziert Sie für das Amt des Stadtrats?
Ich habe lange berufliche Erfahrung.
Auf den Einwand, dass die meisten Menschen seines Alters über ähnlich lange Arbeitserfahrung verfügen, geht er nicht ein. Stephan Schlatter ist ein ungewöhnlicher Politiker. Während seine politischen Vorstösse und offiziellen Verlautbarungen mitunter wie rechtsbürgerliche Kampfparolen klingen, wirkt er hier im Gespräch auf der Gasse erstaunlich unbeholfen für einen langjährigen Parteipräsidenten. Parlamentarier, die mit ihm in der Baufachkommission sassen, sagen, er ändere manchmal diametral seine Meinung, wenn jemand aus seiner Partei das möchte.
Als wir durch die Vorstadt gehen, ruft uns ein Mann aus dem Fenster eines wunderbar bemalten Hauses zu. Es ist Raphäel Rohner, der zufällig seinen Freund Schlatter erspäht hat. Wenig später sitzen wir im Stadtratsbüro, das Stephan Schlatter beerben will. Alle Tische sind voll mit Aktendossiers und Rohner sprudelt sofort los, wirbelt durch sein Büro, erklärt: vorne, die Fassade: Renaissance; die Wand bei der Tür: Rokoko; die Decke im Vorzimmer: Barock.
Herr Rohner, Stephan Schlatter will Sie beerben und Bildungsreferent werden. Welche drei Eigenschaften braucht er für dieses Amt?
(antwortet sofort) Erstens: Freude am Menschen. Zweitens: Interesse an der Bildung. Drittens: Das Wissen, dass die Demokratie ohne eine gut gebildete Bevölkerung schlecht funktionieren kann.
Bald reden wir über Rohners Lieblingsgemälde in seinem Büro, ein Porträt des Malers Albert Georg Merckling, das den legendären einbeinigen Landstreicher «Begginger Schudel» zeigt, der vor genau 100 Jahren verstorben ist. Dann mäandert das Gespräch weiter zum Maler Caspar David Friedrich. Kürzlich haben Rohner und Schlatter zusammen in Hamburg eine Werkschau des grossen Deutschen Romantikers besucht, Schlatter habe unbedingt hingewollt, sagt Rohner.
Stephan P. Schlatter pflegt ein Image als Bildungsbürger. Als Jugendlicher besuchte er das Internat Lyceum Alpinum in Zuoz, er trägt zum Anzug gern Fliege, zu Hause hört er klassische Musik, auf dem Nachttisch liegt gerade Theodor Fontane. Doch als Schlatter und Rohner jetzt gefragt werden, warum die Deutschen eigentlich dermassen auf diese Sehnsucht in Friedrichs Naturbildern abfahren, ist es Magister Rohner, der ad hoc eine Gesellschaftsanalyse herunterrasselt. Schlatter nickt ab und an zustimmend wie ein höflicher Schulbub. Dabei fällt auf, dass Stephan Schlatter eine wunderbare Eigenschaft besitzt, die anderen Männern mit seinem Standesbewusstsein und seinen Ambitionen selten eigen ist: Es scheint ihm völlig gleichgültig zu sein, dass gerade ein anderer den Ton im Raum angibt.
Zurück beim Auto entrichtet Schlatter der Parkuhr 2 Franken 65, steigt ein und fährt los. Als das Auto neben dem Mosergarten steht, die Ampel auf grün schaltet und Schlatter in die Bachstrasse einbiegen will, stehen dort die Kolonnen, der Weg ist versperrt. «Da hat Baureferentin Katrin Bernath einen Volltreffer gelandet», sagt er, bleibt aber höchstens eine Millisekunde lang verärgert. Dann versucht er kurzerhand, sich durchzuschlängeln, doch sein Mercedes bleibt zwischen den beiden Spuren stecken, und als der Verkehr fliessen könnte, blockiert Schlatter beide Spuren. Kurz darauf werden wir durchgewunken.
Zu ehrlich für die Politik?
Zurück von der Spritztour holt Stephan Schlatter eine Flasche vorzüglichen Klettgauer Sauvignon Blanc aus dem Kühlschrank und öffnet die Tür zum Rebhäuschen aus dem Jahr 1680, das in seinem Garten steht, wo der Hobbygärtner Schlatter naturnah gärtnert und auch Kartoffeln anbaut. Im ersten Stock des Rebhäuschens zündet er die Kerzen des Leuchters an.
An der Wand hängt ein Porträt von Kaiser Franz Joseph, monströser Backenbart, die Augen himmelblau wie die ordenbehangene Uniform. Stephan Schlatter ist Fan der Habsburger Monarchie. Als das Parlament im Januar den neuen Ratspräsidenten feierte, sagte Stadtrat Raphaël Rohner, Stephan Schlatter sei einer der wenigen distinguierten Herren in Schaffhausen, und überreichte ihm in Anlehnung an die Österreichische Kaiserkrone eine goldene Krone aus Karton. Schlatter, der nicht im leisesten Ansatz die Autorität des «ewigen Kaisers» Franz Joseph ausstrahlt, der das Kaiserreich 67 Jahre lang regiert hatte, setzte sich die Krone auf der Bühne selber auf wie einst Napoleon. Es war ein seltsames Spektakel, das mit einem Spürchen zu wenig Selbstironie aufgeführt wurde.
Hier oben im Rebhäuschen aber ist kein elitärer Dünkel zu spüren, nein, es entwickelt sich ein angenehmes und interessantes Gespräch. Schlatter schenkt ein und sagt: «Ich bin ein grosser Weinfan. Aber ich bin kein Weinkenner.» Er erzählt vom Parfümerie-Unternehmen, das seine Eltern, zwei Drogisten, in Baden aufgebaut hatten und das bis zu einem Dutzend Mitarbeitende beschäftigte. Stephan Schlatter gefiel die glamouröse Welt, nach Militär und Handelsmatur stieg er ins Unternehmen ein, lernte während eines Praktikums in London englische Edelmarken kennen und war der erste, der Penhaligon’s und Molton Brown in die Schweiz importierte.
Schlatter hat eine gute Nase. An der Ratspräsidentenfeier im Januar musste er aus drei Kräuterlikören den Appenzeller Kräuterbitter herausriechen und bestand die Prüfung locker. Jetzt, im Rebhäuschen, trägt er L’Occitan: Moschus, Lavendel, Holz, Schwarzer Pfeffer, Muskat. «Würzig, maskulin, aber nicht zu schwer», sagt er. Als Anfang der 90er-Jahre die grossen Parfümerieketten in die Schweizer Innenstädte drängten, wurde es eng für die Schlatters. Sie beschlossen, den Laden an Marionnaud’s zu verkaufen und der Spross liess sich anstellen.
Während Schlatter erzählt, kommt seine Frau Yoschie ins Rebhäuschen und bringt ein kleines kaltes Plättchen vorbei. Die beiden lernten sich in den 90er-Jahren in England kennen, sie eine Apothekerin aus der japanischen Grossstadt Kumamoto, er mit Bürgerort Hemmental. 1998 zog sie zu ihm in die Schweiz, die beiden bekamen zwei Söhne und als Stephan Schlatter 2006 als geschäftsführender Exportleiter bei der Schweizerischen Zweigniederlassung einer deutschen Medizinaltechnikfirma einstieg, zogen sie in seine Heimat Schaffhausen. Schlatter fährt meist mit dem Velo zur Arbeit im Kleinbetrieb auf dem Neuhauser SIG-Areal.
Fragt man ihn danach, wie er sich selber beschreiben würde, sagt Schlatter: «Engagiert, fleissig, konziliant, geerdet, offen.» Man könnte hinzufügen: arglos. Die AZ hat wiederholt über ihn gespottet, etwa als er den Medien vor eineinhalb Jahren ohne Not in den Notizblock diktierte, die FDP werde bei der Suche nach einem Nachfolger für Stadtrat Raphaël Rohner auch ausserhalb der Partei suchen. Damit gestand der Parteipräsident freimütig ein, dass er in seinen eigenen Reihen niemanden sehe, der das Prestigeamt der Partei ausführen könnte. Eine solche Aussage widerspricht allen parteistrategischen Grundregeln. Jetzt, im Rebhäuschen, bestätigt er das und sagt: «Ich bin nicht so der Taktiker.»
Herr Schlatter, Sind Sie vielleicht eine zu ehrliche Haut für das Strategiespiel Politik?
Ich glaube nicht. Ich finde, Ehrlichkeit muss in der Politik möglich sein.
Ich war ehrlich gesagt etwas erstaunt, dass Sie gleich zugesagt haben für dieses Treffen, nachdem wir uns ein paar Mal über Sie lustig gemacht haben.
Ach, ich bin kein nachtragender Mensch. Zumindest solange nicht wirklich etwas kaputt gegangen ist. Ich habe auch eine gewisse Distanz und Selbstironie.
Schlatter ist nicht der Dogmatiker, den man aufgrund seiner politischen Statements in ihm vermuten könnte. Bei der Arbeit im Kirchenstand der Kirchgemeinde Steig, wo er sehr viel Zeit investiert, gehe es ihm «mehr um unsere Kultur als um eine tiefe Religiosität». Und auch als im Rebhäuschen erneut seine FDP zur Sprache kommt, klingt Schlatter um einiges reflektierter als zwei Stunden zuvor in der Stadt: «Wir brauchen einen gewissen Staat, wir brauchen eine gewisse Zuwanderung, aber dafür politisch einzustehen, ist schwierig», sagt er.
Schlatters erste Kleine Anfrage als Grossstadtrat befasste sich 2016 mit der «Flüchtlingsproblematik» und begann mit dem Satz: «Europa wird von einer Völkerwanderung überschwemmt.» Heute sagt Schlatter, er sei zwar konservativ und streng liberal, von der Volkspartei wolle er sich aber abgrenzen. Für eine Listenverbindung wie bei den nationalen Wahlen im vergangenen Herbst würde er nicht mehr eintreten: Er sagt: «Die Welt hört doch nicht in Jestetten auf.»
Schlatter weiss, wovon er spricht. Er ist im Export tätig. Er reist regelmässig zu Kundinnen im Ausland, die Laparoskopie-Geräte seiner Firma besitzen.
Was machen Sie dort bei den Kunden?
Ich löse ihre Probleme.
Wie machen Sie das?
Manchmal wirkt ein vermeintliches Problem nur wie ein Problem. Aber man muss die Leute auch ernst nehmen. Und man darf nicht zuerst den Schuldigen suchen.
Würden Ihnen diese Fähigkeiten auch als Stadtrat helfen?
Klar.
Was machen Sie, wenn es nicht klappt mit Ihrer Kandidatur und die FDP den letzten Sitz im Stadtrat verliert?
Dann muss ich mir überlegen, ob ich statt der Politik etwas anderes machen soll.
Werden Sie Stadtrat?
Ich glaube schon.