«Das Vertrauen wurde unwiderruflich zerstört»

17. Februar 2024, Marlon Rusch
Kurt Blöchlinger und die frühere Regierungsrätin Rosmarie Widmer Gysel im März 2018. Foto: Peter Pfister.
Kurt Blöchlinger und die frühere Regierungsrätin Rosmarie Widmer Gysel im März 2018. Foto: Peter Pfister.

Erstmals zeigen Akten, welche der Regierungsrat geheimhalten wollte, wieso Polizeikommandant Kurt Blöchlinger konkret entlassen wurde. Die Dokumente sprechen eine deutliche Sprache.

Am 30. Oktober 2018 wird der Schaffhauser Polizeikommandant Kurt Blöchlinger von seiner Chefin, Regierungsrätin Cornelia Stamm Hurter, zu einem Personalgespräch aufgeboten. Als er erscheint, wird er von Beamten seines eigenen Korps nach Waffen durchsucht. Die Verantwortlichen wollen sichergehen, dass Blöchlinger im Verlauf des Gesprächs niemandem etwas antut. Kurz darauf werden ihm eine Trennungsvereinbarung und ein elfseitiger Regierungsratsbeschluss vorgelegt, der beispielhaft aufzeigen soll, warum er als Polizeikommandant «nicht mehr tragbar» sei und das Anstellungsverhältnis aufgelöst werden müsse, «um den Aufgabenvollzug sicherzustellen und das Ansehen der Schaffhauser Polizei nicht zu gefährden». 

Blöchlinger wird per sofort freigestellt und nicht nur verpflichtet, seine Dienstgeräte, Schlüssel und seine Dienstwaffe abzugeben.  Vom ebenfalls anwesenden Regierungsrat Martin Kessler erhält Blöchlinger ein Hausverbot für die Räumlichkeiten der Polizei. «Aufgrund der Unsicherheiten über das Verhalten von Kurt Blöchlinger und der Empfehlung von Kommandomitgliedern» wird das Finanzdepartement ausserdem angewiesen, «eine Herausgabe allfälliger weiterer Waffen inkl. Munition» zu erwirken. 

Noch während des Personalgesprächs unterschreibt Blöchlinger den Regierungsratsbeschluss. Auf seinen Wunsch wird ihm im Gegenzug ein ausgezeichnetes Schlusszeugnis ausgestellt. Ausserdem wird die offizielle Kommunikation angepasst. In der ursprünglichen Version der Medienmitteilung hiess es, der Regierungsrat und Blöchlinger hätten zusammen entschieden, «aufgrund der unterschiedlichen Auffassung in der Auftragserfüllung» das Arbeitsverhältnis zu beenden. In der Version, die am 31. Oktober 2018 tatsächlich an die Medien verschickt wird, ist zu lesen: «Der Kommandant der Schaffhauser Polizei, Kurt Blöchlinger,  hat nach seiner rund 10-jährigen Polizeiarbeit im Kanton Schaffhausen entschieden, eine neue berufliche Herausforderung anzunehmen. Auf Wunsch des Kommandanten wurde er vom Regierungsrat von seinen Aufgaben freigestellt. Über die Einzelheiten der Vertragsauflösung wurde Stillschweigen vereinbart, weshalb keine weiteren Auskünfte erteilt werden.» 

Dass es heute, über fünf Jahre später, trotz einer Verschwiegenheitserklärung möglich ist, nachzuvollziehen, warum Blöchlinger genau entlassen wurde, ist das Resultat eines langen Rechtsstreits. Robin Blanck, der Chefredaktor der Schaffhauser Nachrichten, verlangte gestützt auf das Öffentlichkeitsprinzip Einsicht in die Trennungsvereinbarung und sämtliche Anhänge. Nachdem der Regierungsrat das Gesuch abgelehnt hatte, zog Blanck ans Obergericht, welches ihm teilweise Recht gab. Daraufhin zog der Regierungsrat das Urteil weiter ans Bundesgericht, welches wiederum Blanck Recht gab. Die AZ hat sich Blancks Einsichtsgesuch angeschlossen und nun Einsicht in das Dossier bekommen.

Die neue Chefin räumt auf

Das Kernstück der Akten, die nun vorliegen, ist besagter Regierungsratsbeschluss, den Blöchlinger während des Personalgesprächs am 30. Oktober 2018 unterschrieben hatte. 

Der Regierungsrat schreibt darin, damit die Schaffhauser Polizei den Erwartungen entsprechen könne, sei «ein ungetrübtes Verhältnis zwischen dem Kommandanten und den politisch verantwortlichen Behörden unumgänglich, insbesondere zum Regierungsrat und zur Vorsteherin des Finanzdepartements». 

Dazu muss man wissen: Nachdem die AZ seit 2015 diverse Missstände bei der Polizei aufdeckte – dass mehr Beamte eingestellt wurden als bewilligt, dass illegalerweise zu teures Material beschafft wurde, dass Mitarbeitende von Vetternwirtschaft und einem «Klima der Angst» sprachen und dass es zu vielen Abgängen kam –, wurde der Polizeikommandant jeweils von seiner Chefin, der Regierungsrätin Rosmarie Widmer Gysel, gedeckt. Während Blöchlinger rechtlich gegen die Berichterstattung vorging, verweigerte die Regierungsrätin der AZ zeitweise das Gespräch. 

Nachdem am 1. April 2018 Cornelia Stamm Hurter neue Regierungsrätin wurde und den Sitz der abtretenden Rosmarie Widmer Gysel übernahm, begann ein anderer Wind zu wehen. Die neue Chefin stellte sich nicht mehr pauschal hinter ihren Kommandanten. Was er sich in den sieben Monaten zwischen Stamm Hurters Amtsantritt und der Kündigung von Polizeikommandant Blöchlinger zu Schulden kommen lassen habe, ist im Regierungsratsbeschluss «beispielhaft» aufgelistet. 

Geschäftsautos und 4-Sterne-Hotels

Einige Punkte sind für sich gesehen wenig gravierend. So habe der Kommandant etwa bei heiklen Einsätzen eigenhändig Entscheide gefällt, bei denen er die Regierungsrätin hätte um Erlaubnis bitten müssen, und im Nachhinein falsche Angaben gemacht. Oder er sei ihren Aufforderungen nicht nachgekommen, proaktiv mit Medien zu kommunizieren.

Dazu kommt persönliche Vorteilsnahme im kleinen Ausmass: So nutzte Kurt Blöchlinger sein Geschäftsauto regelmässig für Privatfahrten, gemäss Regierungsrat «namentlich für die Fahrten von und zur Arbeit». Er reichte die regelmässigen Tankstellenrechnungen jeweils beim Staat zur Abrechnung ein. Gleichzeitig hätten Abklärungen ergeben, «dass sich der Kommandant die Nutzung des Geschäftsfahrzeuges bei den Steuern nicht anrechnen lässt, sondern vielmehr einen Fahrtkostenabzug geltend macht.» Ein solches Verhalten sei «zweifellos unlauter».

In dieselbe Kategorie fällt, dass Blöchlinger unberechtigt eine Aussendienstzulage und eine Zulage für erhöhte Bereitschaft bezogen habe; dass er unnötigerweise Übernachtungen und Essen in Vier-Sterne-Hotels abgerechnet habe, obwohl einerseits eine Heimfahrt möglich gewesen wäre und er andererseits in einem Fall gar nicht im Dienst gewesen sei; dass er den Fotoraum der Kriminalpolizei für Aufnahmen der Teakwondo-Schule seines Sohnes und für Musikkollegen der Polizeimusik zur Verfügung gestellt habe.

Im Regierungsratsbeschluss finden sich auch durchaus gravierendere Verfehlungen.

Den Regierungsrat «getäuscht»

Unter «Kompetenzüberschreitung» schreibt der Regierungsrat, Cornelia Stamm Hurter habe nach ihrem Amtsantritt gegenüber Blöchlinger wiederholt moniert, dass zu viele Beamte im Polizeikorps beschäftigt seien, respektive, dass «der Bestand zu hoch sei und nicht überschritten werden dürfe». Blöchlinger habe daraufhin aber weiter neue Mitarbeitende eingestellt und damit «eigenmächtig gehandelt respektive Fakten geschaffen, bevor das Departement einbezogen wurde». 

Unter «Täuschung der politischen Behörden» beschreibt der Regierungsrat, wie Blöchlinger die zu teure Geschwindigkeitsmessanlage «Gina» beschafft habe, die eigentlich auch vom Kantonsrat hätte genehmigt werden müssen. Der Kommandant habe den Regierungsrat über die tatsächlichen Kosten und die Eigenschaften der Anlage «getäuscht». 

Ein anderes Beispiel: Im Rahmen einer Stellungnahme zuhanden eines Ständerats stellte sich die Frage, ob die Zunahme an Asylbewerberinnen in Schaffhausen Einfluss auf die Kriminalität habe. Die Kriminalpolizei antwortete: Nein. Kommandant Blöchlinger habe dies aber abgeändert und einen solchen Zusammenhang fälschlicherweise bejaht, wie ein Kommandomitglied der Regierungsrätin Cornelia Stamm Hurter mitgeteilt habe. 

Ein «Klima der Angst»

Nachdem 2018 bei einer Umfrage unter den Polizeibeamtinnen «unbefriedigende Werte» verzeichnet wurden, die gerade für den Kommandanten äusserst nachteilig waren, gab der Regierungsrat extern eine vertiefte Umfrage in Auftrag. Nachdem der Polizeikommandant mit dem externen Experten die Ergebnisse besprochen hatte, habe er Regierungsrätin Stamm Hurter falsch darüber informiert. Später habe er die Ergebnisse der Studie in Frage gestellt und nicht ernst genommen. 

An der internen Aufarbeitung habe er am 10. Juli 2018 die weiteren Kommandomitglieder aufgefordert, aus dem Dokument zum Workshop «jeweils die letzte Halbseite mit einer Folie zu negativen Bemerkungen (‹Klima der Angst vor Repressalien›, ‹Keine gute Fehlerkultur›) herauszunehmen und dem Kommandanten zum Shreddern zu geben». Somit habe Blöchlinger «berechtigte Anliegen nicht ausreichend ernst genommen, sondern im Gegenteil den vom Departement lancierten Prozess untergraben». 

In der Kommandositzung vom 18. September 2018 sei es zu einem «Eklat» gekommen. Nachdem Blöchlinger erfahren habe, dass Mitglieder seines Kommandos sich mit Regierungsrätin Stamm Hurter ausgetauscht hatten, habe er das Kommando aufgefordert, «Ross und Reiter» zu benennen. Die Stimmung sei «sehr gereizt und bedrohlich» gewesen, wobei den Kommandanten Wortmeldungen nicht interessiert hätten. Er soll gedroht haben, «wenn er gehen müsse, müssten auch andere gehen».

Der Regierungsrat schrieb: «Es geht nicht an, dass Mitarbeitende eingeschüchtert werden, wenn sie sich mit berechtigten Anliegen an die Departementsvorsteherin wenden. Generell ist ein Klima der Angst und Einschüchterungen nicht akzeptabel und mit dem Leitbild des Regierungsrates nicht vereinbar.» 

Kündigung nicht bekämpft

Am 22. August 2019 titelte die AZ «Überführt» und suggerierte, nun sei klar, weshalb Kurt Blöchlinger entlassen worden sei. Damals konnten wir einen Bericht der Finanzkontrolle einsehen, der zeigte, dass Blöchlinger und seine damalige Chefin, Regierungsrätin Rosmarie Widmer Gysel, rund eine Million Franken ohne rechtliche Grundlage ausgegeben hatten. 

Die nun einsehbaren Akten zeigen, dass der damals erwähnte Revisionsbericht nur ein Puzzlestück der Entlassung war. Diese hatte viel mehr und viel schwerwiegendere Gründe. Laut einem weiteren Regierungsratsbeschluss vom 25. Februar 2020 handelte es sich bei den Sachverhalten, die Blöchlinger vorgeworfen werden, um «wiederholte Amtspflichtverletzungen».

Dieser zweite Regierungsratsbeschluss entstand im Rahmen eines Rechtsstreits, bei dem Blöchlinger nach seiner Kündigung eine Abfindung in Höhe von zwölf Monatslöhnen forderte. Eine solche muss unter gewissen Umständen ausgerichtet werden, etwa wenn die Person, welcher gekündigt wurde, kein «überwiegendes Verschulden» an der Kündigung trifft. Der Regierungsrat und später das Obergericht hatten also zu entscheiden, ob Blöchlinger durch sein Verhalten zu einem Grossteil selber Schuld war an seiner Kündigung. Schliesslich entschied das Obergericht am 3. September 2021 zu seinen Gunsten und sprach ihm neun Monatslöhne und eine Abfindung von 10 000 Franken zu. 

Gegen die Kündigung selber jedoch hatte Blöchlinger kein Rechtsmittel ergriffen, deshalb wurde sie rechtlich bindend. 

Mehr als «Petitessen»

Am Personalgespräch vom 30. Oktober 2018 wurde auch vereinbart, dass die beiden Parteien sich zur Verschwiegenheit über den Inhalt der Vereinbarung verpflichten. Kurt Blöchlinger schrieb jedoch ein Jahr später, im Herbst 2019, in einem Brief an Regierungspräsident Ernst Landolt: «Die Vereinbarung und namentlich die darin enthaltene Verpflichtung zur Verschwiegenheit über den Inhalt unterzeichnete ich nur aus Angst vor der ungewissen Zukunft und mit Rücksicht auf meine Familie, zumal man mir in Aussicht gestellt hatte, andernfalls werde eine Medienkampagne stattfinden.» Blöchlingers Anwalt Hans-Peter Sorg schrieb später in einer Eingabe ans Obergericht, sein Mandant habe die Vereinbarung «völlig unvorbereitet und quasi unter Schock» unterschrieben.

Als SN-Chefredaktor Robin Blanck beim Regierungsrat Einsicht in die Trennungsvereinbarung verlangte, argumentierte er, Kurt Blöchlinger habe kein Problem damit, dass seine Akte den Schaffhauser Nachrichten ausgehändigt werde, was Blöchlinger bestätigte. 

Die SN haben sich während der gesamten Zeit hinter Blöchlinger gestellt, in einem Kommentar mit dem Titel «Die verlorene Ehre des Kurt B.» schrieb Robin Blanck am 25. September 2021, der Umgang mit Blöchlinger sei «ein Lehrstück über den Umgang mit einem in Ungnade Gefallenen – und dessen öffentliche Herabwürdigung»: «Augenscheinlich hatte sich die Schaffhauser AZ den Polizeikommandanten früh zum Feindbild erkoren», deshalb habe sie versucht, «Petitessen» zum Skandal hochzustilisieren. 

Wie diametral anders der Regierungsrat die Affäre beurteilte, zeigt ein Satz in seinem Beschluss vom 30. Oktober 2018: «Die wiederholten Verstösse des ehemaligen Polizeikommandanten gegen Weisungen, Vorgaben und rechtliche Normen sowie sein an den Tag gelegtes Verhalten gegenüber Vorgesetzten, Mitarbeitenden und der Bevölkerung haben das Vertrauen in einen Angehörigen der Polizei, der sich klar dazu verpflichtet hat, die Gesetze zu achten und zu deren Durchsetzung in Dienst genommen wurde, unwiderruflich zerstört.»