Samira Muster hat Endometriose und lässt sich in Schaffhausen behandeln. Wie lebt es sich, wenn der Schmerz zum alltäglichen Begleiter wird? Ein Gespräch unter Geschwistern.
Es ist klirrend kalt an diesem Mittwochnachmittag, als ich Samira Muster, meine Schwester, in der Schwertstrasse treffe. Wir haben uns zum Mittagessen verabredet, die 25-Jährige ist heute zum ersten Mal überhaupt in Schaffhausen. Nicht zum Bummeln, sondern weil sie einen Termin bei den Spitälern Schaffhausen hat. Sie hat Endometriose, eine Unterleibskrankheit, die ausschliesslich Menschen mit Gebärmutter betrifft. Schätzungsweise 280 000 Menschen im gebärfähigen Alter sind in der Schweiz betroffen. Einige davon lassen sich in Schaffhausen behandeln, die Spitäler betreiben eines von schweizweit zwölf Endometriosezentren. Ihre Winterthurer Frauenärztin habe ihr empfohlen, nach Schaffhausen und nicht nach Zürich zu gehen, weil es hier ein wenig persönlicher ist, erzählt meine Schwester, während ich in meinen etwas zu öligen Tagliatelle rumstochere.
Ich frage sie, wie es beim Arzt war. Sie sagt: «Als ich ins Wartezimmer kam, habe ich eine Aktenschublade gesehen, auf der Endometriose geschrieben stand. Da wusste ich: Ich bin endlich am richtigen Ort.»
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Eine Woche nach unserem Treffen in Schaffhausen besuche ich Samira in Winterthur, wo sie als Lehrerin arbeitet. Ihre Neubauwohnung ist hell, viel Sichtbeton, das elektronische Klavier an der Wand erinnert mich an ihre ersten zaghaften Versuche mit «Pour Elise» vor bald 15 Jahren. Wir setzen uns auf die Couch, während Dominik, der Partner meiner Schwester, in der Küche Pasta e Fagioli kocht. Während des Gesprächs werden wir mehrmals von ihrem russischen Bolonka unterbrochen, der stolz sein quietschendes Plüschtier präsentiert.
Hast du jetzt gerade Schmerzen, Samira?
Ja, heute habe ich Rückenschmerzen. Kurz bevor du gekommen bist, habe ich Dominik gesagt, dass heute kein guter Tag ist. Ich trage schon die ganze Zeit meinen Wärmegürtel.
Den hast du auch getragen, als du in Schaffhausen warst.
Der Gürtel gibt etwas Entlastung beim Unterrichten, mildert ein wenig die Beschwerden. Weisst du, ich nehme nicht so gerne Schmerzmittel.
Ich nehme auch selten Schmerzmittel, irrationalerweise habe ich das Gefühl, ich tue mir damit etwas Gutes, wenn ich Schmerzen ertrage.
Ibuprofen nützt bei mir auch gar nichts. Bei akuten Schmerzen nehme ich zwar eine 600 Milligramm-Tablette, maximal drei pro Tag – ohne, dass es etwas ändert. Dann denke ich mir: Das war jetzt unnötig. Aktuell probiere ich auch CBD, aber das ist sehr teuer.
Gibt es Momente, in denen du keine Schmerzen hast, oder stehst du morgens auf und sie sind schon da?
Jeder Tag ist unterschiedlich. Meistens sind die Schmerzen von Anfang an da. In der Schule kann ich sie meistens ausblenden, weil ich gestresst bin. Bei der Arbeit muss ich mich viel bewegen, deshalb ist es meistens nicht so schlimm. Wenn ich jedoch rumstehen muss, zum Beispiel, wenn ich auf den Bus warte, beginnen die Schmerzen sofort. Letztes Wochenende war besonders schlimm. Wir waren auf einem Konzert und ich bereute bereits nach wenigen Minuten, dass ich mitgegangen war. Ich hatte erst dann realisiert, dass ich ja die ganze Zeit stehen muss. Aber es ist unterschiedlich. Ich weiss auch nicht immer, was gerade den Schmerz ausgelöst hat.
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Woher kommt der Schmerz? Das will ich von Dr. med. Nicolas Samartzis wissen, Leitender Arzt der Frauenklinik und Leiter des Endometriosezentrums am Kantonsspital Schaffhausen. Rund 300 Sprechstunden führt das Zentrum jedes Jahr durch, dazu kommen rund 120 Operationen.
Ich erreiche ihn an einem Donnerstagabend per Zoom in seinem Hotelzimmer in Bordeaux, wo er gerade in einem der führenden Institute für Endometriose zu tun hat. Von dort aus erklärt er mir die Grundlagen. «Von Endometriose spricht man, wenn sich Gewebe, das der Gebärmutterschleimhaut ähnelt, insbesondere im Unterleib festsetzt. Diese Zellnester führen zu einer starken Entzündung, welche wiederum die Bildung von bindegewebigen Verklebungen und das Einwachsen von sensiblen Nervenfasern stimulieren. Diese Vorkommnisse sind hauptverantwortlich für die Schmerzen.»
Bis heute wisse man nicht genau, was Endometriose auslöse. Die gängigste Theorie sei die sogenannte retrograde Menstruation, wenn also Menstruationsblut nicht nur über die Scheide austritt, sondern sich auch rückwärts über die Eilleiter im Bauchraum verteilt. «Das sieht man häufig bei jungen Frauen. Wenn dann im weiteren Verlauf des Lebens die Schleimhautzellfragmente, die sich darin befinden, eine Fehlprogrammierung erlitten haben, können sie sich am falschen Ort einnisten.» Es gebe auch Hinweise, dass die Veranlagung für Endometriose zu einem gewissen Teil vererbt werde, die genitale Flora einen Einfluss habe und sogar Umwelttoxine eine Rolle spielen würden, aber: «Es gibt noch viel zu erforschen.»
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Ein erstes Mal sagte mir meine Schwester im vergangenen Sommer, dass sie Endometriose habe, kurz nachdem sie die Diagnose erhalten hatte. Im Oktober reisten wir zu Zweit für ein verlängertes Wochenende nach Berlin. Dort liess sie sich auf der Rückseite ihres Oberarms einen floralen Uterus stechen, ein Symbol für die Krankheit. Schnell fiel mir auf, dass sie, während wir von einem Ort zum nächsten zogen, immer wieder Pausen einlegen, sich hinsetzen und ihren Rücken halten musste. Das Bild meiner zusammengekauerten Schwester prägte sich in meine Erinnerung ein.
Hast du unser Wochenende in Berlin geniessen können?
Ich erinnere mich gar nicht, dass ich besonders starke Schmerzen hatte, nur, dass du aufgewühlt warst.
Wir sind für einen Kaffee bei einer Bäckerei angestanden und du musstest dich nach wenigen Minuten schmerzverzerrt auf eine Mauer setzen. Das hat mir Angst gemacht.
Das kann sein, ja. Ich glaube, ich verdränge solche Situationen aktiv, damit mir die positiven Dinge in Erinnerung bleiben.
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Erinnerst du dich an den ersten Moment, als du solche Schmerzen spürtest?
Der Arzt im Endometriosezentrum hat mich das auch gefragt. Ich erinnere mich nur daran, dass ich im Alter von 13 Jahren mit starken Unterleib- und Rückenschmerzen zur Frauenärztin musste. Davor erinnere ich mich nur an den Moment, als ich meine erste Periode hatte. Menstruation ist ja auch nicht das Wichtigste, was dir in deinem Leben passiert, das speicherst du nicht jeden Monat in deinem Grosshirn ab. Erinnerst du dich an unseren Ausflug an den Aegerisee in unserer Jugend?
Sehr vage. Wir waren zelten, oder?
Genau, wir haben Ausflüge ins Verkehrshaus gemacht, waren am Strand beim Seebad. Ich hatte meine Periode und war mit Rücken- und Unterleibsschmerzen völlig ausgeknockt. Ich konnte mich kaum noch bewegen. Ich bin dann mit unserer Mutter nach Hause, du bist noch geblieben.
Ich mag mich erinnern, dass du früher zurückgereist bist. Aber nicht, dass es dir nicht gut ging.
Ich hatte das auch vergessen. Erst, nachdem ich unserer Mutter von meiner Diagnose erzählt habe, hat sie mir die Episode nochmals erzählt.
Konntest du damals offen mit unseren Eltern über deine Menstruationsbeschwerden sprechen? Das ist ja auch schambehaftet.
Ich habe zuerst versucht, es vor unserem Vater zu verstecken. Es war mir peinlich, dass ich bereits mit 10 Jahren meine Tage bekommen habe. Niemand in meiner Klasse war so früh dran. Später war das für mich aber kein Problem mehr. Es war für mich jedoch schon einfacher, mit unserer Mutter darüber zu sprechen. Vielleicht, weil ich das Gefühl hatte, sie könne sich besser in mich hineinversetzen. Sie begleitete mich auch zum Frauenarzt und gab mir Schmerzmittel, wenn es schlimm war. Wenn du nicht weisst, was los ist, bist du als Eltern verloren. Möglicherweise ist dein Kind einfach wehleidig.
Dabei war ich ja das wehleidige Kind …
Ausser einmal, als du dir aus Versehen ein Sackmesser ins Bein gesteckt hast. Da bist du ganz ruhig geblieben, weil du das Sackmesser eigentlich nicht im Zimmer hättest haben dürfen. [lacht]
Stimmt. Obwohl wir damals im selben Haus lebten, habe ich nicht viele Erinnerungen daran, dass du starke Menstruationsschmerzen hattest.
Ich weiss auch nicht, ob man das mit seinem pubertierenden Bruder teilen will. Wie du sagst, Menstruation ist sehr schambehaftet. Du hast mir nie das Gefühl gegeben, dass ich mich dafür hätte schämen müssen, aber ich hatte auch keinen Bedarf, mit dir darüber zu sprechen.
Du hast mir mal gesagt, dass unsere Mutter sich seit deiner Diagnose Vorwürfe macht.
Ja, ich habe schon das Gefühl. Sie sagte kürzlich, dass sie früher hätte reagieren können, wenn sie gewusst hätte, was Endometriose ist und dass eine frühe Menstruation ein Hinweis dafür sein könnte. Ihr tut es leid, dass man das nicht früher diagnostiziert hat.
Machst du ihr einen Vorwurf?
Nein, absolut nicht. Als meine Frauenärztin vergangenen Juni sagte, meine starken Schmerzen seien womöglich auf eine Endometriose zurückzuführen, wusste ich auch nicht genau, was das ist. Heute wird öffentlich mehr über das Thema gesprochen, aber vor zehn Jahren wusste kaum jemand Bescheid.
Ich muss zugeben: Bis vor kurzem wusste ich über Endometriose nur, dass es eine Frauenkrankheit ist, die besser erforscht werden muss. Als Mann kommt man gut durchs Leben, ohne sich tiefergehend zu informieren.
Absolut. Ich hoffe, ich tue Dominik nicht unrecht, aber ich glaube nicht, dass er vor meiner Diagnose gewusst hatte, was Endometriose ist.
Dominik streckt seinen Kopf aus der Küche hervor: «Das stimmt.»
Man kann ja auch niemandem wirklich einen Vorwurf machen, solange in der Schule und in der Öffentlichkeit nicht genügend Aufklärung geschieht.
Und deiner damaligen Frauenärztin, machst du ihr Vorwürfe?
Bevor ich in der Endometriose-Sprechstunde in Schaffhausen war, machte ich ihr schon Vorwürfe. Da kommt eine 13-Jährige mit starken Schmerzen zu dir und das einzige, was du machst, ist ihr eine Pille in die Hand zu drücken und tschüss. Und ich war nicht nur einmal bei ihr, sondern alle zwei Jahre für die Kontrolle, nie hat sie den Schmerz näher untersucht. Aber der Arzt in der Sprechstunde hat mir erklärt, dass besonders ältere Frauenärztinnen und Frauenärzte in ihrer Ausbildung die Endometriose gar nicht behandelt haben und in ihrer Praxis auch nicht für eine Untersuchung, etwa durch einen vaginalen Ultraschall, ausgestattet sind. Wahrscheinlich war es also keine böse Absicht, dass sie meinen Schmerz nicht ernst nahm.
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Samira, war es eine Erleichterung, als du die Diagnose erhalten hast?
Es war ein Zufallsfund, völlig unerwartet. Nach meinem Umzug nach Winterthur habe ich auch meine Frauenärztin gewechselt. Mit den Schmerzen hatte ich mich längst abgefunden. Eigentlich wollte ich mir eine Spirale einsetzten lassen. Als die Frauenärztin das Wort Endometriose aussprach, war ich geschockt. Sie hat mir dann auch nicht viel Informationen auf den Weg gegeben, nur, dass man nicht viel dagegen tun könne, dass man es mit einer Pille versuchen kann, vielleicht mit einer Operation, und dass es schwierig sein kann, ein Kind zu bekommen. Alles sehr stichwortmässig, ich hatte nicht das Gefühl, alle nötigen Infos erhalten zu haben.
Hast du auch eine Erleichterung verspürt, endlich einen Begriff für die Schmerzen zu haben?
Ja. Wenn über Jahre kein Grund für den Schmerz gefunden wird, denkt man sich: Dann bin ich vielleicht zu schmerzempfindlich. Jetzt weiss ich: Nein, es ist nicht normal.
Wie du gesagt hast, kann deine Krankheit bedeuten, dass du vielleicht keine Kinder bekommen kannst. Solange ich mich erinnere, warst immer du diejenige von uns beiden, die einen Kinderwunsch hatte.
Wir zwei hatten ja eine schöne Kindheit, sind behütet aufgewachsen, das hat sicher dazu beigetragen, dass ich mir immer vorstellen konnte, Kinder zu bekommen. Aber ich hatte es mir bisher immer offen gehalten. Seit der Diagnose hat sich alles gekehrt: Jetzt kann ich mir mein Leben ohne Kinder nicht mehr vorstellen.
Ist das auch eine Trotzreaktion gegen deinen Körper oder ist das Thema wegen der Diagnose stärker in den Vordergrund gerückt?
Letzteres. Meine Frauenärztin sagt zwar, es ist nicht ausgeschlossen, dass ich schwanger werden kann, aber es sei deutlich schwieriger. Ich folge auf Instagram einer Influencerin mit Endometriose, die elf künstliche Befruchtungen durchführen musste, bevor sie schwanger wurde. Erstens muss man sich das leisten können, sie hat dafür über 60 000 Euro ausgegeben. Plötzlich fängst du an, zu rechnen: Muss ich jetzt schon jeden Monat Geld auf die Seite legen? Und die Zeit, die dabei vergeht… Mein Kinderwunsch ist nicht aktuell, aber wenn ich erst mit Mitte Dreissig versuche, schwanger zu werden und es ein paar Jahre nicht klappt, dann bin ich irgendwann 40. Und umgekehrt: Wenn ich es jetzt versuche und es sofort klappt, bin ich zu jung und kann mir das Kind nicht leisten. Dominik hat vorgeschlagen, wir könnten Eizellen einfrieren. Klingt gut, oder? Bis ich geschaut habe, wie viel das kostet, dann fand ich das keine gute Idee mehr. Und die Krankenversicherung übernimmt nichts.
Von aussen habe ich das Gefühl, dass dich die Erfahrung gerade politisiert. Erst kürzlich hast du eine Petition gestartet, adressiert an das Bundesamt für Gesundheit. Du forderst, dass die Krankenkasse die künstliche Befruchtung von Endometriose-Betroffenen übernehmen soll, wenn sie nicht auf natürliche Art schwanger werden können.
Ich finde es schade, dass ich mich erst mit Endometriose auseinandersetze, seit es mich selbst betrifft. Aber es ist doch ein Witz, dass es für die meist verbreitete Unterleibserkrankung, die bereits 1690 ein erstes Mal entdeckt wurde, keine richtige Therapieform gibt. Dass der Ständerat im Dezember entschieden hat, nicht mehr Geld für die Erforschung von Endometriose zu sprechen, ist eine verpasste Chance. Ich fühle mich schon verarscht, dass man eine Krankheit, die so viele Menschen betrifft, einfach als unwichtig abtun kann.
Du haderst gerade, oder?
Es geht mir halt nahe. Nach der Diagnose hatte ich einen Tränenausbruch, auch wenn ich heute mit Freundinnen darüber spreche, fliessen immer wieder mal die Tränen. Der Kinderwunsch, die Schmerzen, das ist alles sehr belastend. Ich möchte mich durchbeissen, aber es ist nicht einfach.