Am Abgrund

22. Januar 2024, Nora Leutert
Symbolbilder: Evelyn Kutschera
Symbolbilder: Evelyn Kutschera

Chris soll sich plötzlich um seine psychisch kranke Mutter kümmern. Das beansprucht all seine Kräfte – und doch zwingt ihn das System, sie fallenzulassen.

Am 27. September 2017 stand eine zierliche, nicht mehr ganz junge Frau am Flughafen Kloten. Chris holte sie ab. Das war eine Woche nach seinem 32. Geburtstag und die Frau war seine Mutter. Verwandte hatten sie in Kenya ins Flugzeug in die Schweiz gesetzt, sie hatten dem Sohn geschrieben, dass sie mit ihr nicht mehr zu Rande kämen. Nun solle er für sie sorgen.

*

Am Anfang dieser Geschichte steht eine Familie, die viel von der Welt gesehen hatte. Der Vater stammt aus der Schweiz, die Mutter war in Nairobi aufgewachsen. Die beiden wohnten mit ihren Kindern in Seattle an der amerikanischen Westcoast, trennten sich dann aber. Als die Kinder erwachsen waren, zerstreuten sie sich. Eine Tochter blieb in den USA, eine andere ging nach Paris. Der Jüngste, Chris, zog nach Schleitheim, wo der Vater damals wohnte.

Die Mutter blieb in den USA. Doch sie war starken psychischen Schwankungen unterworfen und handelte sich vermehrt Probleme ein. Als sie ihr Dach über dem Kopf verlor, kam sie bei Verwandten in Nairobi unter. Aber auch dort lief es holprig. Schliesslich reichte es den Verwandten: Sie buchten für die Frau ein Flugticket nach Zürich und stellten den Sohn quasi über Nacht vor vollendete Tatsachen. Das zeigen Chatverläufe der Familie, die der AZ vorliegen. Chris’ Vater war höchst alarmiert und warnte seinen Sohn eindringlich: Er fürchtete, die Mutter würde Chris aufzehren, sollte er sie erst einmal bei sich aufnehmen und sie mitfinanzieren. Zusammen suchten Vater und Sohn nach einer Notfalllösung. Sie riefen zahlreiche Fachstellen wie die Caritas oder die Sozialdienste der Gemeinden an, doch wirklich helfen konnte niemand. Es nützte alles nichts: Die Mutter landete bereits zwei Tage, nachdem Chris erstmals von den Plänen erfahren hatte, in der Schweiz.

Er brachte es nicht übers Herz, seine Mutter am Flughafen stehen zu lassen – was den Abklärungen zufolge wohl das Schlauste gewesen wäre, um sich aus der Verantwortung zu nehmen. Chris nahm seine Mutter bei sich in seiner Wohnung in Schaffhausen auf. Er meldete sie beim Sozialamt an, erledigte die Papiere für sie, musste selbst seine Finanzen offenlegen. Als Chris’ Mutter ein paar Jahre später AHV und Ergänzungsleitungen bezog, konnte sie sich eine eigene Wohnung leisten. Im Mai 2020 zog sie dort ein. Eine Zeitlang ging es gut. Und dann nicht mehr.

*

Chris sitzt am Esstisch in seiner stilvoll möblierten Wohnung in der Schaffhauser Altstadt. Wobei, von sitzen kann nicht wirklich die Rede sein. Immer wieder springt er auf, tigert durch die Wohnung, macht Ordnung, legt eine neue Musikplatte auf, raucht eine Zigarette am Fenster, verschwindet in der Küche und lässt sich einen Espresso heraus. «Ich schlafe schlecht, liege in der Nacht oft stundenlang wach», sagt er. Von aussen gesehen ist seine Situation ein Albtraum, der sich langsam anbahnte: Der heute 38-Jährige ist schleichend in eine Situation geraten, die er nicht kontrollieren kann. Und auf einmal musste er sich auch noch mit Behörden herumschlagen und Gesetzesparagrafen studieren, von denen er noch nie etwas gehört hatte. Ein Dossier an Schriftverkehr, Dokumenten und Anordnungen, das der AZ vorliegt, zeugt davon.

Diese Geschichte handelt davon, wie schwierig es sein kann, wenn jemand Nahestehendes psychisch krank wird, sich aber nicht helfen lassen will. Und sie handelt davon, wie der Staat um einen adäquaten Umgang mit solchen Menschen ringt – und was er den Angehörigen dabei abverlangt.

*

Man kennt die 68-Jährige in der Schaffhauser Altstadt. Früher nahm man sie, sie heisst hier M.*, als eine charismatische, herzliche Frau von fast jugendlichem Aussehen wahr, die ihren vielen Bekannten Kusshände zuwirft, wenn sie sie auf der Strasse antrifft. Eine quirlige Frau, die sehr viel redet und auf der Strasse auch mal aufräumt und Bierdosen und Altglas aufsammelt und recycelt. Heute hat M. Phasen, in denen sie hypereuphorisch, überbordend oder aggressiv ist – oder alles zugleich. Und plötzlich flippt sie aus. In letzter Zeit überwiegen diese Phasen.

M. befindet sich seit einiger Zeit in einer sehr schlechten psychischen Verfassung. Wir haben ihre Sicht deshalb in diesen Bericht nicht miteinbezogen. Auch ihr Name und ihre Krankheitsdiagnose bleiben Privatsache.

Die Verschlechterung von M.s Zustand begann vor etwa 15 Monaten. Bislang war sie in psychiatrischer Behandlung gewesen und hatte verschriebene Medikamente gegen ihre psychische Erkrankung genommen. Diese Medikamente setzte sie nun eigenhändig ab und Chris vermutet, dass dies in Verbindung mit einigen Joints zu einer Verschlechterung ihres Zustands führte. M. wurde immer auffälliger. In diversen Geschäften bekam sie Hausverbot.

In einer Kleinstadt geht so etwas nicht an den Verwandten vorbei. Die Leute wissen, das ist Chris’ Mom. Chris wurde von immer mehr Bekannten, Restaurant- und Ladenbetreibern angesprochen. Er beglich die Schulden, die sie hinterliess. Er eröffnete ein neues Konto bei einer anderen Bank für sie, nachdem ihr bisheriges aufgelöst worden war, weil sie in der Filiale ausfällig geworden sei. Er kaufte nicht nur Klo-Papier, Nahrungsmittel, Kaffee für sie, sondern auch ein neues Handy, wenn sie das alte verloren hatte. Er nahm Kontakt zur Wohnungsverwaltung oder zur Bank auf, wenn sie ihren Schlüssel oder ihre EC-Karte nicht mehr finden konnte. Er gab ihr Geld, wenn sie wieder an seiner Tür sturmklingelte. Und er korrespondierte mit den Sozialbehörden.

Auf eine Gefährdungsmeldung hin hatte seine Mutter zwar mit KESB-Beschluss vom 14. Februar 2023 eine Beiständin der Stadt Schaffhausen zur Seite bekommen, aber vorerst nur im Bereich Finanzen und Administration. Bald aber brannte es an allen Ecken und Enden. Die Wohnungsnachbarn von M. meldeten Störungen durch Geschrei, Lärm und weggeworfene brennende Zigaretten bei der Immobilienverwaltung. Mitte des vergangenen Jahres sprach die Verwaltung Verwarnungen aus. Gegen Ende Jahr übermittelte sie die Kündigung, doch M. kam dieser nicht nach und blieb in der Wohnung. Eine langwierige und teure Gerichtsverhandlung kündigte sich an.

*

Für Chris wurde die Situation seiner Mutter und das Verhandeln mit den Ämtern psychisch immer belastender. So sehr, dass er zeitweise selbst krankgeschrieben wurde. Seine Mutter zeigte weder Krankheits- noch Behandlungseinsicht und liess sich nicht helfen. Den einzigen Ausweg, den Chris für seine Mutter irgendwann noch sah: eine fürsorgerische Unterbringung, eine Zwangseinweisung in der Psychiatrische Klinik Breitenau.

Doch mit diesem Anliegen lief er bei den Behörden auf. In zahlreichen Mails schilderte Chris der KESB und dem städtischen Bereich Soziales den mutmasslichen Ernst der Lage. Doch bei den Behörden war die Antwort klar: Man teile zwar die Meinung, dass ein Klinikaufenthalt für M. sinnvoll wäre. Einen freiwilligen Eintritt schätze man aber als unwahrscheinlich ein. Und eine fürsorgerische Unterbringung sei nur möglich, wenn die Polizei oder die Ambulanz zum Einsatz komme.

*

Eine fürsorgerische Unterbringung, bekannt als FU, ist eine schwerwiegende Sache. Sie bedeutet eine Einweisung in eine psychiatrische Klinik gegen den Willen des Betroffenen und damit eine Massnahme zwischen Fürsorge und Freiheitsberaubung. In der Schweiz werden mehr fürsorgerische Unterbringungen angeordnet als in den meisten europäischen Ländern. Und im kantonalen Vergleich ist Schaffhausen ganz vorne dabei (siehe AZ vom 26. Januar 2023).

Damit eine Person fürsorgerisch untergebracht werden kann, muss sie sich selbst oder andere gefährden. Zur Anordnung von FU befugt sind sämtliche niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, meist werden FU in Schaffhausen aber durch die dazu beauftragten SOS-Notfallpsychiater aus Zürich angeordnet: Kommt es zu einem Zwischenfall – rastet eine Person aus und gefährdet andere oder sich selbst – werden die SOS-Ärzte von der Schaffhauser Polizei aufgeboten.

*

Als Chris den Behörden die Probleme mit seiner Mutter schilderte, erklärte er auch, sie sei nicht imstande, grundlegende Hygienestandards aufrechtzuerhalten. Er sagte auch, er fürchte um ihr leibliches Wohlergehen; sie äussere privat Suizidwünsche und Gewalt-Drohungen gegenüber Polizisten. Damit, dachte er, wäre eine Selbst- oder Fremdgefährdung gegeben. Doch laut KESB muss die Gefährdungssituation immer akut sein. Mangelnde Hygiene oder Chaos in der Wohnung allein sind kein Grund für eine FU. Würde M. hingegen im Winter ihre Wohnung verlieren, wäre danach obdachlos und durch den Erfrierungstod gefährdet, könnte dies ein solcher akuter Grund sein.

Dass es hohe rechtliche Hürden gibt, ist wichtig. Sie sollen Betroffene schützen. Gleichzeitig ist das für Angehörige schwer zu ertragen. Ihre Sicht ist nur eine Seite in einem komplexen System. Bevor die Behörden sich zuständig fühlen und eingreifen – bevor ein Beistand etwas als seine Aufgabe erachtet und bevor die KESB Massnahmen trifft – kann aus subjektiver Sicht ein riesiger Leerraum klaffen, in welchem die Angehörigen nicht wissen, was sie tun sollen.

Die Abgrenzung im Familiensystem und die Klärung, welche Rolle man als Angehöriger einnehmen kann, könne einem leider niemand abnehmen, sagt Markus Tanner, städtischer Bereichsleiter Soziales, ohne konkreten Bezug zum Fall: «Letzten Endes nimmt jeder Angehörige die Situation anders wahr.»

*

Kürzlich eskalierte die Lage um Chris’ Mom in der Altstadt. Mitarbeitende der Migros verfolgten sie auf die Vordergasse, die Polizei wurde gerufen. Schliesslich wurde die fragile, 68-jährige, psychisch kranke Frau von einem Polizisten gewaltsam zu Boden gedrückt, wie private Videoaufnahmen zeigen, die der AZ vorliegen. M. wurde auf den Posten mitgenommen, die Notfall-Ärzte aber nicht gerufen: keine Selbst- oder Fremdgefährdung.

Die Szenen mitanzusehen, ist für den Sohn unerträglich. Wie weit muss es gehen? Muss seine Mutter völlig kaputt gehen, bevor die Behörden sich einschalten?

Tobias Wiedmer von der KESB Schaffhausen äussert sich ebenfalls nicht zu konkreten Fällen. Doch er sagt gegenüber der AZ: «Für die Angehörigen sind solche Situationen sehr belastend, wir hören regelmässig: Braucht es denn erst einen Knall? Wir müssen dann sagen: gewissermassen, ja.» In manchen Fällen müsse man den Angehörigen gar die Empfehlung abgeben, sich ganz zurückzunehmen und den Betroffenen nicht weiter zu helfen. Ansonsten könne eine ungesunde Situation verlängert werden. «Personen müssen oft durch alle Maschen rasseln, bis eine akute Gefährdungssituation und die rechtlichen Grundlagen für eine Zwangsintervention gegeben sind.»

*

Chris sagt: «Sie ist meine Mutter! Über sechs Jahre lang habe ich mich um meine Mama gekümmert, und jetzt soll ich sie einfach im Stich lassen?»

Und als Aussenstehende fragt man sich: Wie bestimmt man als Angehöriger den Kipppunkt? Wann und wie soll man von «ich mache alles für dich» zu «ich lasse dich fallen» umschalten?

*

Chris wurde die Entscheidung abgenommen. Vor bald zwei Wochen kam es zum Knall. Nachdem seine Mutter bei ihm zu Hause in der Wohnung in einen Wahn geriet und ausflippte, rief er die Ambulanz. M. ging freiwillig mit. Auf der Notfall-Station des Spitals soll sie erneut ausser sich geraten sein und sich auffällig verhalten haben. Schliesslich wurde eine FU angeordnet und M. in die Psychiatrie Breitenau eingewiesen.

Nun ist alles in der Schwebe. Mittlerweile wurde die Beistandschaft für M. zwar auf den Bereich Wohnen ausgeweitet. Doch was nach dem stationären Aufenthalt passiert, und ob eine Besserung der Situation eintritt, ob M. zur Ruhe kommen kann und ihre Medikamente wieder regelmässig einnimmt und sich vielleicht auch in Behandlung begibt, ist alles andere als klar. Tobias Wiedmer von der KESB sagt zwar, dass die Klinik Belastungsproben durchführt und versucht, für die Zeit nach dem Aufenthalt Unterstützungsmassnahmen zu organisieren. Bernd Krämer, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Psychiatriezentrum Breitenau, fügt an, dass man dies nach bestem Wissen und Gewissen tue: «Doch wenn ein Patient nach ein paar Tagen nicht mehr selbst- oder fremdgefährdend ist und austreten möchte, haben wir keine Handhabe, die Personen dazubehalten.»

Für Chris ist es der Moment, sich zu überlegen, wie es für ihn in dieser Situation zukünftig weitergehen soll. Gerade ist er noch ratlos: «Vielleicht wäre es gescheiter, ich würde mich tatsächlich komplett zurückziehen, aber ich weiss nicht, ob ich das kann und soll.»

Fürsorgerische Unterbringung: Alternativen?

Was für Möglichkeiten gibt es vor einer fürsorgerischen Unterbringung? Die Stiftung Pro Mente Sana führt die hohe Zahl an FUs in der Schweiz auf strukturelle Mängel zurück: Um Zwangsmassnahmen zuvorzukommen, müssten in den Kantonen eigentlich mildere Massnahmen vorhanden sein, schreibt sie in einem Positionspapier von Herbst 2022. Es mangle aber gravierend an niederschwelligen, ambulanten und aufsuchenden Angeboten. Insbesondere Kantone mit hoher FU-Rate, also wie Schaffhausen, müssten das psychiatrische Angebot stärken.
Bernd Krämer, Leiter der Psychiatrischen Klinik Breitenau, sagt, das aktuelle psychiatrische Angebot in Schaffhausen sei ausbauwürdig, denn der Bedarf sei riesig. Das gehe nur, wenn der Kanton mitfinanziere, alleine über die Krankenkasse lasse sich dies nicht bewerkstelligen. Man habe indessen auch bereits einiges gemacht, so Krämer: Er nennt die Triage-Sprechstunde in der Breitenau, auch Kriseninterventionsstelle genannt, wo man kurzfristig Termine kriege, sowie den aufsuchenden Demenzdienst. Ein Thema, das daneben aber auch im Raum stehe, sei die niedergelassene gesamte psychiatrische Versorgung im Kanton. Dort fehle es an psychiatrischem Nachwuchs.
Ein aufsuchender psychiatrischer Dienst besteht somit bis jetzt aber nur für demenzkranke Personen, und ein Angebot, das in der doch eher stigmatisierten Breitenau angesiedelt ist, ist auch nicht unbedingt besonders niederschwellig.

* Name der Redaktion bekannt