Iren Eichenberger ist aus dem Grossen Stadtrat zurückgetreten. Wie geht es weiter mit ihr? Ein Gespräch über Haltung, Verzicht und darüber, wie man die Courage behält.
Wir stehen vor dem Eingang zum Ratssaal in der Schaffhauser Altstadt. Iren Eichenberger versucht, für die Kamera trotz Eiseskälte etwas mit ihren Händen zu machen. Währenddessen fällt mir das Soldatendenkmal auf. Ich erinnere mich an den Chäschüechli-Apéro, den der Kantonsrat traditionellerweise Ende Jahr vor diesem Denkmal abhält und dafür seine Sitzung vorzeitig abbricht, und muss lachen: Schweizerischer, als Käse Politik vorzuziehen, geht es eigentlich nicht.
Als ich das Iren Eichenberger sage, blickt sie mich irritiert an. «Das ist doch normal», sagt sie. «Irgendwann ist halt Schluss mit Politik.»
Schluss ist für Iren Eichenberger nun auch, wenigstens fast. Im Kantonsrat hat sie noch mindestens bis zu den Wahlen im Herbst einen Sitz; jenen im Grossen Stadtrat hat sie per Ende 2023 jedoch abgegeben. Eichenberger war Gründungsmitglied des Umweltforums wie auch der Ökoliberalen Bewegung Schaffhausen (ÖBS) und lange deren Präsidentin; über Jahrzehnte hinweg leitete die Sozialarbeiterin die Schaffhauser AIDS-Hilfe; und sie ist Vorstandsmitglied der Schaffhauser Sektion des Verkehrsclubs Schaffhausen.
Man fragt sich: Was wäre – und was wird – Iren Eichenberger, wenn sie dereinst keine Politik mehr macht?
AZ Iren Eichenberger, Sie gaben per Ende letztes Jahr Ihren Sitz im Grossen Stadtrat ab – und drei Jahre zuvor die Leitung der AIDS-Hilfe Schaffhausen. Ziehen Sie sich allmählich ins Private zurück?
Iren Eichenberger Das ist jetzt etwas hoch gegriffen. Mein Rücktritt im Grossen Stadtrat war für mich von Beginn der Legislatur an absehbar: Die Jungen Grünen waren bei den vergangenen Wahlen enttäuscht darüber gewesen, dass sie den Sprung ins Stadtparlament nicht geschafft hatten. Darum sagten wir, dass es im Verlauf der Legislatur sowieso einen Wechsel geben wird. Wann dieser stattfinden würde, liess ich aber bewusst offen – auch, weil ich mit dem Vorstoss zu den Gastarifen sowie der Spezialkommission zu Tempo 30 auf Hauptstrassen noch Themen am Laufen hatte, die sich in die Länge zogen.
Wie steht es denn um den Kantonsrat, wo im Herbst ebenfalls Wahlen sind?
Meine Kandidatur ist noch offen, und ich will mir das erst genau überlegen, bevor ich dazu etwas sage.
Dass jetzt mit Lena Jaquet eine junge Frau Ihren Sitz im Stadtparlament übernimmt, ist eigentlich logische Konsequenz Ihrer Politik, nicht?
Warum?
Als Sie vor zehn Jahren als Präsidentin der damaligen ÖBS zurückgetreten sind, sagten Sie in den Schaffhauser Nachrichten: Sie wären lieber Präsidentin geblieben, als einen Macho ans Ruder zu lassen.
Das Zitat ist verkürzt, so wie der Journalist es damals geschrieben hat. Mein Nachfolger bei der ÖBS war Jörg Biedermann und keineswegs ein Macho, das will ich an dieser Stelle betonen. Viel wichtiger war mir damals die Entscheidung, ob wir von der ÖBS zu den Grünen oder zur neu gegründeten GLP stossen sollen. Bis diese Entscheidung gefallen war, wollte ich keinen Präsidialwechsel provozieren. Und betreffend Lena Jaquet: Es ist super, dass sie dran ist – aber sie ist einfach die nächste auf der Wahlliste.
Mir kam es oft so vor, als hätten Sie einen guten Draht zu jüngeren Generationen und ihren Themen.
Ich war auch im Beruf stets gefordert, mich mit der Welt der Jungen auseinanderzusetzen. Heute stelle ich vor allem fest, dass für die Generation der Jungen Anderes selbstverständlich ist als damals für uns. Die Debatte ums Rheinufer und die Rhybadi ist dafür symptomatisch.
Wie meinen Sie das?
Ich glaube, wir haben in diesem Alter mehr aufs Ganze geschaut und auch auf unser Umfeld. Das war unsere Erziehung, unsere Prägung. Die junge Generation heute will mehr mitbestimmen und gestalten. Nur ist dies am Rheinufer eben in der freien Landschaft. Und da finde ich, müsste man mehr miteinander reden; schliesslich gibt es noch andere, die auch dort sind und ein Anrecht darauf haben.
In der jetzigen Debatte um den Lärmpegel und die Anzahl Veranstaltungen in der Rhybadi haben Sie aber eine Position zwischen den Stühlen eingenommen. Sie verorten das Problem vielmehr darin, dass die Rhybadi finanziell überhaupt auf so viele Anlässe angewiesen ist.
Ja, dass die Rhybadi auf rentable Veranstaltungen angewiesen ist, finde ich eine Schweinerei. Sie hat eine derart hohe Bedeutung in Schaffhausen – und es ist absehbar, dass diese Bedeutung zunimmt, je heisser es wird. Darum ist es nicht okay, ihnen zu sagen: Arrangez-vous, erfindet irgendetwas, um Geld zu machen.
Nochmals zur Generationenfrage: In Klima-, aber auch in Geschlechterfragen waren Sie immer up to date, nicht?
Ob ich heute noch up to date bin, weiss ich nicht. Aber ich war durch meine Arbeit bei der AIDS-Hilfe Schaffhausen laufend mit Fragen der sexuellen Diversität konfrontiert. Die Schwulenbewegung war treibende Kraft, sie hat die AIDS-Hilfe Schweiz aufgebaut, weil sie wusste, dass man etwas unternehmen muss. Und weil sie wusste, dass man diese Krankheit nur bekämpfen konnte, wenn man Homosexualität als Teil der Gesellschaft akzeptiert.
Sie haben Soziale Arbeit studiert. Haben Sie diese Arbeit von Beginn weg als politisches Programm verstanden?
So programmatisch will ich nicht unterwegs sein, das ist mir zu nahe an Ideologie. Meine Motivation war, in der Gesellschaft mitzureden und im besten Fall etwas beizutragen. Das fiel für mich zusammen mit dem, was ich beruflich wusste und erlebte: Soziale Arbeit funktioniert nur mit einer politischen Haltung dazu, schlicht weil es Antworten darauf braucht, was man in dieser Arbeit erlebt.
Woher kam dann der Wunsch, selber Politik zu machen?
So wie bei allen: Ich bin hineingerutscht. Ich kannte ein paar gute Leute, mit denen ich die ÖBS gründete. Da wollte ich nichts auslassen. Bei anderen Parteien ist das vielleicht eine einzelne Generation oder eine Schulklasse, wir waren altersmässig etwas breiter aufgestellt.
Sie fuhren also zweigleisig: über die ÖBS und auch über den Beruf.
Darum hat es mir in der ÖBS so gefallen! Ihr ökologisches Denken entsprach dem, was ich in der Sozialen Arbeit an systemischem Denken gelernt habe.
Danach waren Sie Teil jeder Station der Schaffhauser Grünen. Sind die Grünen der 90er-Jahre dieselben wie die heute?
Der Auftritt ist heute schon ein anderer als zu Beginn. Früher hat man den Grünen Chrütli-Fröschli-Partei gesagt, und manche solche Leute habe ich schon auch gesehen, wissen Sie, mit den Birkenstock-Sandalen. Wenn man heute an eine Schweizer Delegiertenversammlung geht, sieht man Menschen, die in ihrem ganzen Habitus modern und selbstbewusst sind. Wobei: Selbstbewusst waren die Grünen wohl schon immer. Aber man versucht nicht mehr, sich über die Garderobe abzugrenzen.
Was hat sich thematisch geändert?
Erneuerbare Energien zum Beispiel waren bei uns von Anfang an Thema, weil uns das CO2-Problem schon vor 30 Jahren bewusst war. Heute sieht man deutlich, wie unter den Stichworten Solarexpress und Mantelerlass (Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien, Anm. d. Red.) auch Grenzwertiges beschlossen wird. Wir müssen bei solchen Express-Massnahmen aber aufpassen.
Inwiefern?
Dass die Biodiversitätsfrage in alldem nicht unter die Räder gerät. Sicher, ich höre ab und an den Einwand, ob man wegen jeder Mücke gerade eine Schutzzone einrichten muss. Ich finde, ein Stück weit sollte das in einem vernünftigen Mass bleiben. Andererseits hat diese Mücke eine Funktion, und wenn sie fehlt, kommt eine Entwicklung in Gang. Franz Hohler hat dies mit seinem Käfer in «Der Weltuntergang» schon lange thematisiert! Zum Glück ist mit der wissenschaftlichen Dokumentation dieser Zusammenhänge eine Rationalität in die Debatte gekommen. Das gibt uns ein grösseres Argumentarium.
Mit der Pandemie und zwei Kriegen ist die jüngste Welle der Klimabewegung stark unter Druck. Im Fokus der Öffentlichkeit steht die Angst um Energiesicherheit, nicht mehr per se erneuerbare Energie.
Ich finde das menschlich. Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Für mich ist in all das aber auch eine Wertfrage gekommen: Wie viel Energie benötigen wir überhaupt, müssen wir sie blödsinnig verschleudern? Es tut doch in den Ohren weh, wenn Airlines jubilieren, sie haben dieselbe Auslastung wie vor der Pandemie.
Sie waren nie nur grün, sondern der Typ Wassermelone: aussen grün, innen rot. Wie ist man Ihnen damals im Politbetrieb begegnet, als Sie angefangen haben?
Das Klima war typisch für die 90er-Jahre. Und wer in den Parlamenten sass, tat dies teils seit zehn oder mehr Jahren. Heisst: Der Betrieb war geprägt von einer männerdominierten Gesellschaft und von autoritärem Denken. Vor allem, wer eine Funktion als Fraktionssprecher oder Parteipräsident hatte, nahm für sich gern in Anspruch, das Sagen zu haben. Das konnte auch mal aggressiv zu und her gehen, ich hatte das Gefühl, manchem ging es um die Ehre. Dabei ist das doch abstrus, es geht in der Politik um die Sache, nicht um die Person. Das hat sich geändert, die Gesellschaft ist durchlässiger geworden. Niemand muss mehr einen militärischen Grad haben, damit er oder sie irgendwo mitreden darf.
Haben Sie sich in diesem Klima ernstgenommen gefühlt?
Das weiss ich nicht mehr genau. Mir kam sicher die ÖBS zugute. Das war eine neue Partei, alle konnten mitmachen, und die Männer hatten nicht so einen Ehrgeiz wie anderswo.
Vergangenes Jahr gab die Gesprächskultur im Stadtparlament zu reden. An Ihnen scheinen sich die Bürgerlichen, die dabei kritisiert wurden, viel weniger abzuarbeiten.
Entwertung geht gar nicht. Und das ist das Problem von Zwischenrufen, egal woher. Warum ich weniger eine Zielscheibe bin, finde ich schwierig zu beantworten.
Vielleicht ist es die Art, wie Sie selber Politik machen?
Ich glaube, besonders in der grünen Politik muss man sich gut überlegen, ob ein möglicher Verzicht auf etwas ein persönlicher Entscheid sein soll oder eine Vorschrift für alle.
Wie meinen Sie das?
Ich meine: Lebe ich die Politik, für die ich stehe, in meinem persönlichen Umfeld, oder will ich, dass alle anderen das auch machen? Nehmen wir die Mobilität: Ich selber brauche kein Auto, weil ich den öffentlichen Verkehr direkt vor dem Haus habe. Und ich fliege nicht, weil ich das nicht brauche. Aber ich verdamme nicht jeden, der ein Auto fährt. Oder jemanden, der Familie auf einem anderen Erdteil hat und sie mit dem Flugzeug besucht.
Sie wollen nicht erziehen?
Nein. Alles Pietistische, Sektiererische geht mir auf den Pelz.
Sie leben die grüne Politik, für die Sie eintreten, einfach äusserst konsequent.
Vielleicht. Aber ich stehe auch nicht frühmorgens auf und überlege mir, was ich alles nicht darf. Ich lebe nach meinen Bedürfnissen. Und das Wichtigste ist für mich der Austausch mit Menschen. Klar, es gibt Machos und Tyrannen, die finde ich uninteressant, weil sie Entwicklungen blockieren. Aber sonst kann ich mit jedem einen Austausch haben, jeder Mensch ist spannend und wertvoll.
Beliebt ist Iren Eichenberger noch aus einem anderen Grund: ihrem Auftritt. Wenn sie ans Rednerinnenpult tritt, wittert man bereits, dass man etwas Scharfzüngiges zu hören bekommen wird. Vor zwei Jahren etwa mahnte sie im Zuge der Transparenz-Initiative: «Den Käse, den wir schon im Schnabel halten, werden wir uns nicht von einem schlauen Fuchs abschwatzen lassen.» Zu den bürokratischen Bürden beim Einbürgerungsprozess sagte sie 2011 trocken: «Pasta, Pizza und Kebab haben sich auch eingebürgert, ganz ohne formelles Gesuch.» Und zu tiefen Steuern, welche die Wirtschaft ankurbeln sollten, sagte sie 1999, sie könne «diesen Wetterfröschen für das Steuerklima nicht glauben».
AZ Frau Eichenberger, ist Humor eine bewusste Strategie von Ihnen?
Iren Eichenberger Das klingt etwas manipulativ. Ich bemühe mich, meine Statements konzentriert zu bringen, die Leute sind ja nicht aus reinem Spass in den Parlamenten. Und ein Stück weit macht die Werbung ja dasselbe: Sie setzt irgendwo einen Eisbär oder sonst einen Blickfang aufs Plakat. Wenn es einem gelingt, etwas in einem Bild zu vermitteln, dann hilft das mehr als hundert Erklärungen. Und etwas Selbstdistanz hilft wohl auch.
Das heisst?
Manche nehmen sich wahnsinnig ernst und haben das Gefühl, alles hänge von ihnen ab, damit ihr Standpunkt durchkommt. Ich glaube aber, dass das ein Irrweg ist. Man beginnt so, andere zu verurteilen: «Die bösen Bürgerlichen!» Dabei muss ich doch davon ausgehen, dass meine Position infrage gestellt wird. Das ist nicht schlimm, man kann ja darüber sprechen.
Ist Ihr Humor also Ihr Naturell, eine Art, um diese Distanz zu wahren?
Wenn Sie so fragen – klar, bei uns zuhause wurde geredet, auch über gesellschaftspolitische Fragen. Und meine Eltern waren Leute, die gern gelacht haben, wenn mein Vater von seiner Bude erzählt hat oder vom Militär. Diese Prägung habe ich mitbekommen. Und es hilft definitiv, wenn man entspannter ist und eine Situation auch mal lustig sein darf.
Als ich mich mit Ihrem Werdegang vertraut gemacht habe, musste ich tief durchatmen. Sie haben 30 Jahre lang die Schaffhauser AIDS-Hilfe geleitet. Das muss ein toller, aber auch ein emotional anspruchsvoller Job gewesen sein…
Nein. Es war ein mega toller Beruf, in dem viel Gutes zusammenkam, das politische Denken, das Bedürfnis, etwas für Gerechtigkeit zu tun. Andere studierten aus diesem Grund Jura, ich wollte einfach etwas Handfestes.
Aber Sie müssen doch manch schwierigem Schicksal begegnet sein.
Zu Beginn waren da viele traurige Geschichten, ja. Ich habe lässige Leute kennengelernt mit interessanten Biografien, und ich dachte: Die werden alle irgendwann sterben. Tatsache war aber: Die Leute sind nicht gestorben, die haben hartnäckig gelebt. Und 1996 kamen die Medikamente und damit wieder eine Perspektive. Die Leute konnten mit der Zeit Kinder haben und sogar ungeschützten Sex, wenn nicht andere Geschlechtskrankheiten im Spiel waren. Und die Begleitung dieser Menschen mit ihren sozialen Problemen fand ich immer interessant.
Okay. Aber auch die grüne Politik braucht Durchhaltevermögen, angesichts einer Klimakatastrophe erst recht. Wie haben Sie da die Courage behalten?
Da haben Menschen einfach eine Grundausrichtung. Die einen glauben, dass es möglich ist. Die anderen sind Pessimisten. Manchmal habe ich das Gefühl, als Pessimist hat man es leichter, weil man eigentlich immer Recht hat: Es passiert immer etwas Schlimmes. Aber es passiert ab und an auch etwas Gutes. Das muss man auch sehen. Ich glaube, die Menschheit hat in der Geschichte immer gelernt, rechtzeitig noch die Kurve zu kratzen. Ob das dieses Mal auch so ist, kann ich natürlich nicht sagen. Aber es gibt wahnsinnig viele gute und kluge Menschen.
Sie haben die vergangenen Jahrzehnte für die Politik gelebt. Auch mit dem Kantonsrat haben Sie insgesamt nun mehr Zeit zur Verfügung. Wie wollen Sie die nutzen?
Der Kantonsrat gibt noch zu tun. Ansonsten habe ich einen grossen Haufen Papier zuhause, den ich entsorgen kann, dafür habe ich jetzt auch die Zeit. Und es ist einfach auch schön, jetzt einen Abend pro Woche frei zu haben. Vorläufig habe ich nicht das Gefühl, dass mir langweilig wird.