Die Regierung will das Amtsblatt nach 173 Jahren abschaffen. Niemand lese das Heft mehr in der Beiz, heisst es. Aber stimmt das? Die Expedition Amtsblatt soll uns aufklären.
Der Bus rast durch ein verschneites Tal. Der Tag grüsst scheu, und wir fahren nordwärts, immer weiter nordwärts, im Namen unserer Mission «Amtsblatt». Zielperson ist eine Gattung Mensch, die angeblich ausgestorben ist: der Amtsblattleser in der Beiz.
Das Amtsblatt ist ein kleines Heft, langweiliger gestaltet als eine Apothekerzeitschrift. Aber an Stammtischen ist das Amtsblatt gross und aufregend.
Alle amtlichen Neuigkeiten im Kanton Schaffhausen werden darin gesammelt: Baugesuche, Firmengründungen, Konkurse, Betreibungen, Stelleninserate und so weiter. Jede Woche geht das Amtsblatt an 850 Abonnentinnen und Abonnenten. Aber jetzt, nach 173 Jahren, will der Regierungsrat den Druck einstellen. Ab 2024 soll es nur noch digital erscheinen.
Untergangsprophet Bilger
Ein paar Tage vor unserer Busfahrt war Staatsschreiber Stefan Bilger, juristisches Gewissen der Schaffhauser Regierung und darum quasi sechster Regierungsrat, als Untergangsprophet aufgetreten. Bilger sass vorne im Saal des Kantonsrats und sprach dem Parlament direkt ins Gewissen. «Ich kann Ihnen versichern», sagte er, «bis in fünf Jahren wird kein Kanton mehr eine gedruckte Ausgabe des Amtsblatts haben.»
Auch Erich Schudel schritt ans Rednerpult. Schudel, 39 Jahre alt, SVP-Kantonsrat aus Beggingen, Stoffnastuch-Besitzer, Gruppenführer in der Feuerwehr, Mitglied im Schützenverein, im Motocrossverein und Passivmitglied im Turnverein, hat das Amtsblatt schon seit Langem abonniert. Die Abschaffung der gedruckten Ausgabe sei eine «Nacht-und-Nebel-Aktion», sagte er und forderte die Regierung auf, das Amtsblatt weiterhin auf Papier zu veröffentlichen. «Eine blosse Digitalisierung um der Digitalisierung Willen ist das Gegenteil einer bürgernahen Verwaltung», schloss er.
«Das Amtsblatt ist nicht kostendeckend», erwiderte Staatsschreiber Bilger. Dann erinnerte er daran, dass Leute ohne Internetzugang das Amtsblatt künftig beim Amt bestellen und sich nach Hause schicken lassen können (für 125 Franken pro Jahr; heute kostet ein Abo 71 Franken).
«Die Regierung ist hier ausnahmsweise etwas vorschnell», warf Matthias Freivogel ein, Anwalt und SP-Kantonsrat. «Ich tendiere zur Meinung meines Kollegen Schudel. Nicht zuletzt, weil wir einen grossen Anteil einer älteren Bevölkerung haben. Ich gehöre auch dazu, notabene. Ich gehe gegen die siebzig.»
Langsam wurde Staatsschreiber Bilger ungeduldig. Er holte zu einem längeren Monolog aus. «Also», begann er streng, «wir haben das schon mitbedacht: Was löst das aus bei den Kunden … Ich kann Ihnen einfach sagen: In allen Kantonen, ausnahmslos, war das [gedruckte Amtsblatt] kein Bedürfnis. Wir produzieren doch nicht eine Drucksache, die nicht nachgefragt wird. Beziehungsweise: die schon nachgefragt wird, aber in der Art und Weise, wie das heute eben nachgefragt wird. Das wird im Internet nachgefragt … Lassen Sie es uns so machen … Es wird nichts passieren …» Er hob den Zeigefinger seiner linken Hand in die Luft. «Und die Person, die heute in ein Restaurant geht, um ein Glas Wasser und das Amtsblatt zu bestellen, die müssen Sie mir zuerst zeigen. Die gibt es nämlich nicht mehr.» Den Kopf schüttelnd, wiederholte Bilger: «Die gibt es nicht mehr.»
Damit war der Untergang des gedruckten Amtsblatts beschlossen (FDP und GLP stimmten geschlossen für die Abschaffung, SP, Grüne und SVP waren gespalten).
Abendfüllendes Amtsblatt
Wie unser Bus weiter nordwärts fährt, ziehen Bäume vorbei, die stumm unter schwerem, eisigen Schnee leiden. Die Aussage, der Amtsblattleser in der Beiz sei ausgestorben, machte uns skeptisch.
Vor der Abfahrt hatten wir mit Erich Schudel telefoniert. «Jeden Freitag liegt das neue Amtsblatt in der ‹Sonne› in Beggingen auf», erzählte Schudel. «Als Erstes schaut man meistens: Ist was über uns drin? Wo ist Land ausgeschrieben? Wer baut? Das ist oft Thema am Stammtisch, und es war auch schon abendfüllend, wenn man nicht herrwärts tat.»
Wir schwiegen rätselnd.
«Wenn man es nicht pressant hatte, nach Hause zu gehen», erklärte Schudel. «Und wenn die Regierung behauptet, dass man viel Geld spart, ist das dummes Zeug.»
Der Druck des Amtsblatts kostet 85 000 Franken. Eine Person mit 50-Prozent-Pensum erstellt Layout und Text. Dank Abos und Inseraten nimmt der Kanton 136 000 Franken ein. Unter dem Strich ist das Amtsblatt dennoch knapp nicht rentabel.
«Es wird von der Politik komplett unterschätzt, dass zwanzig Prozent der Bevölkerung nicht alltag vor dem Computer sitzen», fuhr Erich Schudel fort. «Auch in meiner Fraktion haben einige die Hände verworfen, als ich auf die Bedeutung des Amtsblatts hinwies. Manche Politiker kommen halt aus Gegenden, wo es seit vierzig Jahren keinen Stammtisch mehr gibt.» Schudel schnaufte tief durch. «Die Anzahl Leute, die sich informieren, wird zurückgehen, wenns nicht mehr gedruckt wird, und das ist nicht gut für unsere Demokratie.»
Eine Woche nachdem Staatsschreiber Bilger gesagt hatte, in ausnahmslos allen Kantonen sei das Amtsblatt kein Bedürfnis, kam es im Zuger Parlament zu einer emotionalen Debatte. SVP-Kantonsrat Emil Schweizer forderte die Wiedereinführung des gedruckten Amtsblatts. Die Regierung hatte es Anfang 2023 eingestellt.
«Unsere Regierung», begann Emil Schweizer mit priesterlichem Ernst, «die immer wieder verkündet, wie stolz wir hier in Zug auf unsere Traditionen, Werte und Kulturgüter sein dürfen, und den achtsamen Umgang damit fordert, hat eiskalt und ohne Not ein Stück dieser Zuger Geschichte zur Schlachtbank geführt.» Er machte eine kurze Pause. «Während hässliche und ökologisch fragwürdige Plattenbauten unter Schutz gestellt werden, wirft man eine über 160-jährige Zuger Tradition auf den Abfallhaufen der Geschichte.» Diese Worte waren überzeugend. Das Amtsblatt erscheint demnächst wieder auf Papier. Gegen den Willen der Regierung.
«Es wird all schöner»: Das Beweisfoto
An der Endstation der Buslinie steigen wir aus. Nicht in Beggingen, sondern in Bargen, dem nördlichsten Ort der Schweiz. Es ist kurz vor neun Uhr morgens. Eine Brücke führt über die Autobahn, die das Dorf entzweit. In einem Café, das zu einer Migrol-Tankstelle gehört, steht der lokale Stammtisch. Von der Titelseite des Blick grinst Gölä. Nebenan liegt das Amtsblatt.
Ein Mann im Handwerkertenue betritt die Tankstelle, bestellt ein Fleischkäsebrötchen und einen Kaffee und setzt sich an den Stammtisch. Er blättert im Amtsblatt.
«Ich muss schauen, ob ich bei den Konkursen drin bin», sagt der Mann und lächelt diebisch. Er stellt sich als Hans Leu vor, 71 Jahre alt, früher 40 Jahre lang Mechaniker und Chauffeur bei den Verkehrsbetrieben. «Mein Elternhaus steht in der Nähe, ich chluttere dort jeden Tag ein bisschen», sagt er. «Als ich gelesen habe, dass die Regierung das Amtsblatt nicht mehr drucken will, dachte ich: Die sind doch nicht bei Trost. Ich werde es nicht mehr lesen können. Bei der Maschine komme ich nicht draus. Seit vierzig Jahren bin ich bei den Sportfischern, und da wäre ich fast ausgetreten, als sie beschlossen, die Nachrichten nicht mehr per Brief zu verschicken. Zum Glück lässt meine Frau die Sachen aus dem Kasten raus.»
Die Kellnerin Séverine Hafner stösst hinzu. «Wenn in Bargen mal wieder jemand ein Haus gekauft hat und niemand weiss, wer, warten alle neugierig, bis das Amtsblatt da ist», sagt sie. «Dann diskutiert man. Ohne gedrucktes Amtsblatt wird das wegfallen.»
«Ich sitze den ganzen Tag vor dem Computer», sagt Pius Amrein, ein Mann Anfang 60, der sich an den Stammtisch gesetzt hat. «Da gehe ich doch am Abend nicht nochmal rein, um das Amtsblatt zu lesen.»
«Es wird all schöner», sagt ein Mann mit SIG-Cap namens Egon Jung, 84, sein Leben lang Plattenleger.
«Ich finde es gut, dass Sie sich diesem Thema annehmen», sagt Hans Leu. Bevor er sich verabschiedet, um weiter zu werken, willigt er ein, sich fotografieren zu lassen.
Das Foto beweist, dass die Menschengattung Amtsblattleser in der Beiz noch lange nicht ausgestorben ist. Die Aussage von Staatsschreiber Bilger, den Amtsblattleser gebe es nicht mehr, ist damit widerlegt.
Wie wir mit dem Bus wieder südwärts fahren, durchs verschneite Tal Richtung Stadt, denken wir an die emotionale Kraft des Amtsblatts. Vielleicht liegt die Kraft darin, dass das Amtsblatt keinen Unterschied macht zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Stadt und Land. Im Amtsblatt ist alles gleich wichtig.
In der Stadt angekommen, schicken wir das Beweisfoto mit Amtsblattleser Hans Leu per E-Mail an Staatsschreiber Bilger. In der Antwort geht Bilger nicht aufs Foto ein. Wir flüchten uns auf die Webseite eines Antiquariats, wo das erste Schaffhauser Amtsblatt aus dem Jahr 1850 (674 Seiten) für 94 Franken zu kaufen ist.