Die Affäre Dora Kiveron ist eine der wenigen ungelösten Mordfälle Schaffhausens. Nun hat ein Autorenteam die Tat vermutlich geklärt.
Am Morgen des Samstags, 18. März 1939, entdeckte ein Passant eine tote Frau in der Fäsenstaubpromenade in Schaffhausen. Die Leiche war mit einer leichten Schicht frisch gefallenen Schnees bedeckt. Sie wies schwere Verletzungen auf. Ihr Herz war zerrissen.
Bei der Toten handelte es sich um die 43-jährige Dora Kiveron, kaufmännische Angestellte der Aluminium-Industrie AG, die mit ihrer Mutter in Neuhausen wohnte. Sie war auf dem Weg zu einem Abendvortrag in der Stadt gewesen, dort aber nie angekommen. Stattdessen wurde sie Opfer massiver Gewalt. Der Fall wurde – als einer von wenigen Schaffhauser Mordfällen oder sogar als einziger – nie aufgeklärt. Bis heute.
Das Recherche-Kommando
In Juristenkreisen gab die Affäre Kiveron bei Apéros oder anderen gesellschaftlichen Treffen immer wieder zu reden. Der frühere Schaffhauser Staatsanwalt Jürg Giger hatte angekündigt, den Fall nach seiner Pensionierung zu lösen. Er verstarb allerdings noch im Amt. Dafür fand sich ein anderer Rechtsgelehrter, der sich ebenfalls für lokale Justizgeschichte und den Fall Kiveron interessierte: Der spätere Oberrichter und Rechtsprofessor Arnold Marti stiess in jungen Jahren als Gerichtssekretär Ende der 70er im untersten Fach seines Büroschranks auf historische Flugblätter – diese verlangten die Aufklärung des Falls Kiverons (dazu später mehr). Nach seiner Pensionierung nahm sich Marti des Falls an. Er holte den ebenfalls pensionierten Staatsanwalt Willy Zürcher und die ehemalige Staatsarchiv-Koryphäe Erika Seeger hinzu, den Historiker Markus Späth-Walter sowie den mittlerweile verstorbenen Mediziner und Forensiker Andreas Wiedmer. Zusammen machte sich die hochkarätige Pensionierten-Taskforce auf, den Fall zu lösen.
Die AZ hatte sie bereits während ihrer Arbeit interviewt (Sommerserie «Cold Cases für heisse Tage», Ausgabe vom 12. August 2021). Nun präsentieren sie Resultate.
Die Presse
Der Fall ist nicht nur spannend, weil er ein Mysterium darstellt. Er hat auch grössere gesellschaftliche Zusammenhänge. So wirft er ein interessantes Schlaglicht auf die damalige Justiz als auch auf die lokale Medienlandschaft, wie das Rechercheteam in seinem Aufsatz im aktuellen Band der «Schaffhauser Beiträge zur Geschichte» des Historischen Vereins aufzeigt.
Die AZ, damals noch Arbeiterzeitung, hatte die Finger stark im Spiel. Sie hatte die Tat als erstes im Blatt – nämlich bereits am selben Tag, an dem die Leiche von Dora Kiveron im Park entdeckt wurde. Die AZ spekulierte, dass es sich um einen Genickschuss handelte und heizte das öffentliche Gerede an. Wenig später revidierte sie dies und ging vom selben Tathergang aus, wie die anderen Zeitungen und wie die Gerichtsmedizin: einem Verkehrsunfall, wobei die Leiche anschliessend an den Fundort im Park geschleppt wurde. Die AZ richtete über den unbekannten Täter: «ruchloser, verbrecherischer Automobilist […], der seine Tat auf eine derart schurkische Weise zu verwischen versuchte». Die Autounfall-These wurde aber immer wieder angezweifelt.
Während Jahren griff die AZ den ungelösten Fall immer wieder auf und kritisierte die Kantonspolizei und die Untersuchungsbehörden scharf für ihre Untätigkeit sowie für einige Fehler, die sie sich zu Schulden kommen liessen.
Die freisinnigen Schaffhauser Nachrichten – die Konkurrenz von der Vordergasse – kanzelten die linke Zeitung für ihren «Sensationsjournalismus» ab. Die SN hätten sich in dieser Zeit als Organ der wichtigsten Regierungspartei und der ebenfalls freisinnig dominierten Justiz verstanden und sich so kaum behördenkritisch geäussert, schreibt Markus Späth-Walter in seinem Recherchebeitrag. Aber auch bei der AZ seien die investigativen, kritischen Tendenzen in den 50er-Jahren verflogen. In dieser Zeit sassen die Sozialdemokraten mit zwei Mann im Regierungsrat. Mit dem mächtigen Walther Bringolf, der die AZ als ehemaliger Redaktor geprägt hatte und zum Teil immer noch dirigierte, gab es zudem einen linken Stadtpräsidenten und Nationalrat. Für Bringolf seinerseits wurde der Fall Kiveron durchaus noch ungemütlich: Der Bruder der getöteten Dora Kiveron deckte den Politiker mit Briefen ein, er solle endlich für Gerechtigkeit sorgen. Während der Nationalratssessionen in Bern warf Kiveron mehrfach die Flugblätter, die später in Arnold Martis Büroschrank lagerten, von der Tribüne ins Parlament hinab und machte Tumult, Bringolf solle den Saal verlassen.
Der Verdacht
In dem Fall gab es zwei Verdächtige, die immer wieder auftauchten: Luca Russo, Besitzer eines Comestibles-Geschäftes und Südfrüchtehandels in der Webergasse, und sein Sohn Mario Russo – im Übrigen stadtbekannte Faschisten (Namen von den Autoren geändert). Gemäss einem frühen Polizeirapport soll Luca Russo am Abend, bevor man Dora Kiverons Leiche fand, mit dem Auto eine Lieferung nach Neuhausen gebracht haben. Am gleichen Abend habe er seinen Sohn wegen eines Unfalls zu sich gerufen. Die Identität des Hinweisgebers ist aus den Akten nicht ersichtlich, jedenfalls aber soll die Leiche Kiverons von den beiden in die Garage des Ladens an der Webergasse gebracht worden sein, um das weitere Vorgehen zu beraten. Vater und Sohn seien eigentlich im Streit wegen einer Geldforderung gelegen, der Sohn als Schuldner soll aber gemäss seinem damaligen Rechtsanwalt plötzlich sehr zuversichtlich gewesen sein, dass sein Vater nicht gegen ihn vorgehe.
Dieser belastende Polizeirapport wurde ans Verhöramt übermittelt. Doch der zuständige mit dem Fall überforderte Verhörrichter Willy Votsch versäumte es, dem Verdacht nachzugehen und schob vor, Mario Russo befinde sich gerade im Scheidungsprozess mit seiner Ehefrau Bertha. Als Verhörrichter sei er davon ausgegangen, dass sich dadurch die familiären Verhältnisse in der Familie Russo klären würden. Deshalb habe er davon abgesehen, gegen den Tatverdächtigen vorzugehen. Eine unverständliche Aussage, die wohl als Ausrede zu verstehen ist.
Mehr als zwei Jahre später wurden die Behörden aber doch noch aktiv: Sie verhafteten den Sohn Mario Russo – sein Vater, der Hauptverdächtige, war zu jenem Zeitpunkt bereits verstorben. Der Gemüsehändler wurde mitten auf dem Markt auf dem Herrenacker festgenommen. Auch dies war fehlerhaft, denn der Polizeikommandant hatte dies eigenmächtig durchgesetzt und damit den angeschlagenen Verhörrichter Willy Votsch übergangen. Der Tatverdächtige war von seiner Frau Bertha Russo, die von ihm getrennt lebte, auf der Polizeistation schwer belastet worden. Als Bertha Russo aber schliesslich durch den Verhörrichter befragt wurde, verweigerte sie die Aussage.
Die Aussagen von Bertha Russo (Name ebenfalls geändert) hätten vor Gericht aber sowieso nicht verwertet werden können. Dies aufgrund einer Besonderheit der damaligen Justiz, die diesen Fall auszeichnet: In Schaffhausen galt damals noch das Unmittelbarkeitsprinzip und zwar in besonders strenger Form. Das heisst, Zeugen mussten ihre Aussagen unmittelbar vor den urteilenden Richtern im Saal vorbringen. Das Gesetz sollte ursprünglich Angeklagte davor schützen, dass sie vor dem Prozess mit inquisitorischen Praktiken zu Aussagen gezwungen werden konnten. Wie Autor Arnold Marti schreibt, ist der Fall Kiveron durch diesen Aspekt von allgemeiner rechtshistorischer Bedeutung: Der Fall zeige, wie das Unmittelbarkeitsprinzip – wie es in Deutschland noch heute besteht – bei uneingeschränkter Geltung verhindern kann, dass offensichtlich schuldige Täter verurteilt werden.
Mario Russo wurde aus der Haft entlassen. Dabei wurde das Verfahren gegen ihn aber lange weder eingestellt noch weiterverfolgt. Auch nachdem dies schliesslich doch noch geschah, wurde der ganze Fall nie korrekt abgeschlossen. Die Akten wurden einfach im Archiv abgelegt und verstaubten dort. Bis das Team um Arnold Marti sie fand.
Die Täter
Für das Recherche-Kommando ist mit hoher Wahrscheinlichkeit klar: Der Südfrüchtehändler Luca Russo war der Täter. Es sei davon auszugehen, dass er Dora Kiveron am Abend des 17. März 1939 bei der SBB-Unterführung bei der Katzensteig überfuhr und tödlich verletzte.
Anschliessend habe er die Leiche mutmasslich auf seinen Lieferwagen geladen und Fahrerflucht begangen. Um den Unfall zu vertuschen, habe er die Leiche zusammen mit seinem Sohn Mario Russo am späteren Abend in der hinteren Fäsenstaubpromenade deponiert, wo sie am frühen Morgen des 18. März 1939 gefunden wurde.
Nach Abschluss des Textes wurde das Rechercheteam auf eine neu entstandene Berner Maturarbeit aufmerksam: Die Maturandin befragte als Experten ihren Vater, einen Zürcher Rechtsmediziner, und zeigte auf, dass dem Tod von Dora Kiveron ein Ereignis vorhergegangen sein musste. Denn bei der Autopsie damals wurde ein angebrochener Eckzahn der Frau in ihrer Lunge vorgefunden, den sie eingeatmet hatte. Laut dem Forensikexperten muss dies vor der Brustkorbzerquetschung stattgefunden haben.
Die Schaffhauser Taskforce deutet das so, dass Dora Kiveron womöglich auf der dunklen, winterlichen Strasse gestürzt ist und von Luca Russo übersehen und überfahren wurde.