Der Kantonsrat verabschiedet fleissig Steuersenkungen. Angeblich im Interesse des Mittelstands. Doch unsere Auswertung zeigt erstmals: Es profitieren vor allem die Topverdiener.
«Denken Sie an den Mittelstand und stimmen Sie der maximalen Steuersenkung zu!», proklamierte FDP-Kantonsrat Severin Brüngger in den Kantonsratssaal. Es war der 20. November, relativ spät am Abend, und das Parlament debattierte gerade darüber, wie stark der Steuerfuss gesenkt werden sollte. Am Ende waren es acht Prozent. Der Entscheid führt die Talfahrt der Kantonssteuern weiter: 2017 lag der kantonale Steuerfuss noch bei 115 Prozent, 2024 wird er effektiv bei 81 Prozent liegen.
Nur: Wer ist überhaupt dieser Mittelstand, dem die FDP mit immer tieferen Steuern helfen möchte? Wer gehört dazu, und wie stark wird er von Steuersenkungen tatsächlich entlastet?
Die Daten, welche die kantonale Steuerverwaltung publiziert, sind zu ungenau, um dieser Frage wirklich nachzugehen, und genauere Zahlen wollen die Schaffhauser Behörden nicht liefern. Aber ein Datensatz (siehe Box), den das Bundesamt für Statistik (BfS) auf Anfrage der AZ erstellt hat, ermöglicht es erstmals, zu berechnen, wer im Kanton Schaffhausen wirklich zum Mittelstand gehört. Und zu klären, ob dieser von Steuersenkungen wirklich so stark profitiert, wie behauptet wird.
Der ominöse Mittelstand
Der Mittelstand gilt als Garant für politische Stabilität, als wirtschaftlicher Motor in der sozialen Marktwirtschaft. Kein Wunder nimmt jede Partei für sich in Anspruch, für den Mittelstand zu politisieren. Die FDP ist damit keineswegs allein. Auch Kantonsrat Mariano Fioretti von der SVP oder Stadtpräsident und Kantonsrat Peter Neukomm von der SP nahmen für sich in Anspruch, für den Mittelstand zu sprechen.
Will man, dass es dem Kanton Schaffhausen gut geht, muss es dem Mittelstand gut gehen. Denn der Mittelstand zahlt einen Grossteil der Einkommenssteuern.
Die Beliebtheit des Mittelstands bei Politikern rührt aber wohl auch daher, dass niemand so genau weiss, was damit eigentlich gemeint ist. Alle von der Ärztin bis zur Putzkraft oder doch nur die Kleinunternehmer?
Zu den Argumenten der Politikerinnen hinzu kommt, dass es auch in der Bevölkerung sehr beliebt ist, sich zum Mittelstand zu zählen. Wie eine Studie aus Deutschland zeigte, ordnen sich rund 80 Prozent der Menschen selbst der Mittelschicht zu. Fehleinschätzungen gibt es zuhauf, und das von beiden Seiten. Die Menschen mit den höchsten Einkommen stufen sich oft zu tief ein, zählen sich zum Mittelstand und reden so ihre Profite klein. Am anderen Ende stufen sich diejenigen mit den geringsten Einkommen ebenfalls häufig falsch, nämlich deutlich zu hoch ein.
So finden die steuerpolitischen Argumentationen für Steuersenkungen Zustimmung bei Menschen, die in der Realität davon nur marginal profitieren. Gegen solche Mittelstandsmythen hilft nur eine klare Definition. Zum Beispiel jene der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Sie liefert einen quantitativen Anhaltspunkt dafür, was den «Mittelstand» ausmacht, um den Begriff greifbarer zu machen. Die Organisation zählt jene Personen zur Mittelschicht, die ein verfügbares Einkommen im Bereich von 75 bis 200 Prozent des Medians zur Verfügung haben.
Das sagt uns aber noch nichts darüber, wieviele Leute zu diesem Mittelstand gehören und was sie von einer Steuersenkung haben.
Der Datensatz des BfS, der die Vermögensverteilung im Jahr 2019 für Schaffhausen abbildet, schafft nun Abhilfe. Er enthält 49 876 steuerpflichtige Personen für den Kanton Schaffhausen und listet diese nach steuerbarem Einkommen auf, gruppiert in 500-Franken-Schritten nach Einkommen. Daraus lässt sich das mediane steuerbare Einkommen im Kanton berechnen – welches sich auf 48 300 Franken beläuft. Median bedeutet: Genau die Hälfte der Steuerpflichtigen haben ein tieferes steuerbares Einkommen als 48 300 Franken pro Jahr, die andere Hälfte eines, das über diesem Betrag liegt. Wendet man nun die Definition des Mittelstandes von der OECD an, können Personen mit einem steuerbaren Einkommen von 36 225 Franken bis 96 600 Franken den drei Kategorien der Mittelschicht zugeteilt werden. In diese Spanne fallen im Kanton Schaffhausen 25 907 Menschen, also ein wenig mehr als die Hälfte der Steuerpflichtigen.
Nur 6518 Personen gehören zur Kategorie der hohen Einkommen, also jene, die mehr als 200 Prozent des steuerbaren Medianeinkommens haben. Im unteren Segment der Einkommensverteilung können 5812 Personen als vulnerabel eingeordnet werden. Diese haben ein streubares Einkommen von 50 bis 75 Prozent des Medians. In die ärmste Einkommenskategorie wiederum, die durch ein steuerbares Einkommen unter 50 Prozent des Medians definiert ist, reihen sich 11 639 Personen ein.
Es profitiert vor allem eine Gruppe
Mit dieser Einteilung in verschiedene Schichten lässt sich nun berechnen, wer wie stark von der achtprozentigen Steuerfusssenkung im Kanton profitiert. Basierend auf den Zahlen des BfS spart die Schaffhauser Bevölkerung im Jahr 2024 insgesamt rund 13,4 Millionen Franken an Einkommenssteuern.
Die Kantonsräte lagen in einem Punkt richtig. Es profitiert vor allem eine Gruppe – doch es ist nicht der Mittelstand. Fast 6 der 13 Million Franken gehen an die Menschen in der obersten Einkommenskategorie. Genauer: Rund 44 Prozent des Steuergeschenks geht an die 6518 Personen mit dem höchsten steuerbaren Einkommen im Kanton Schaffhausen, die nur 13 Prozent der Steuerpflichtigen darstellen. Pro Kopf spart dieser Teil der Bevölkerung durch die erneute Senkung des Steuerfusses im Durchschnitt 903 Franken.
Der Mittelstand spart mit 6,9 Millionen Franken insgesamt zwar mehr, doch er umfasst auch einen weitaus grösseren Bevölkerungsteil. 52 Prozent der steuerpflichtigen Personen bekommen 52 Prozent des Steuergeschenkes. Pro Kopf ergibt das noch eine Einsparung von 266 Franken. Die oberste Einkommensschicht profitiert also mehr als dreimal so stark vom Steuergeschenk des Kantonsrats wie der Mittelstand. Noch schlechter sieht es für Menschen in den tiefsten Einkommensgruppen aus. Die Kategorie der vulnerablen Personen spart noch rund 427 000 Franken, und das obwohl sie mit 5812 Personen fast gleich gross ist wie die oberste Einkommenskategorie.
Der armen Bevölkerungsschicht (11 639 Personen) kommen durch die Steuersenkung noch 151 000 Franken zu. Pro Kopf entspricht dies Einsparungen von 73 beziehungsweise 13 Franken.
Zusammengefasst machen die Vulnerablen und die Armen etwas mehr als ein Drittel der Steuerpflichtigen aus, kriegen aber nur 4 Prozent des Steuergeschenks. Und diese Zahlen betreffen nur die letzte Senkung des Steuerfusses. Wie die Grafik auf der rechten Seite zeigt, liegt die Summe über die letzten Jahre zusammengerechnet noch viel höher.
Würde man auch noch die Vermögenssteuer miteinbeziehen, was auf Grund der Datenlage nicht möglich war, sähe das Bild wohl noch einseitiger zugunsten der höchsten Einkommensschicht aus. Denn: Ihr Lohn reicht aus, um ein Vermögen anzuhäufen und die Besteuerung der Vermögen sinkt ebenfalls mit dem Steuerfuss. Das Steuergeschenk für die durchschnittlichen Angehörigen der obersten Schicht ist also eigentlich grösser als die erwähnten 903 Franken, weil sich diese nur auf die Einkommenssteuer beziehen.
Wieviel profitiert der Mittelstand?
Die Zahlen und die beiden Grafiken zu diesem Text räumen mit Mittelstandsmythen auf. Sie zeigen erstens, dass die Steuersenkungen der letzten Jahre dem Mittelstand zwar die Steuerrechnung stark gesenkt haben – aber ein Vielfaches mehr haben die Reichsten profitiert.
Das ist keine Überraschung. Frappant ist aber, wie ungleich die Steuergeschenke verteilt werden: Die obersten 13 Prozent erhalten fast die Hälfte. Macht man die «Spitzengruppe» noch kleiner, wird der Effekt noch krasser: Die 1460 Bestverdienenden erhalten 2,6 Millionen Franken. Das sind rund 20 Prozent des Steuergeschenks.
Kurz: Der Mittelstand profitiert zwar durchaus von der massiven Steuersenkung. Im Durchschnitt spart er 250 Franken, das reicht fast für ein Jahresabo in der KSS oder deckt rund die Hälfte des VBSH-Jahresabos für ein Kind. Doch die Hauptprofiteurinnen sind andere. Der Kantonsrat hat ganz laut «Mittelstand» gesagt, um dann den reichsten 13 Prozent 900 Franken pro Kopf auszuhändigen.
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Methodik
Der Datensatz des BfS unterteilt die steuerpflichtige Schaffhauser Bevölkerung im Jahr 2019 in rund 200 Einkommensschichten, getrennt nach Zivilstand (ohne Einelternfamilien). Wenn im Text von Menschen und Personen die Rede ist, sind immer steuerpflichtige natürliche Personen gemeint. Die Einkommensschichten umfassen bis zu einem Einkommen von 100 000 Franken für Alleinstehende und 70 000 Franken für Verheiratete jeweils eine Spannweite von 500 Franken. Die erste Einkommensschicht umfasst alle Personen, die ein steuerbares Einkommen von 0 bis 500 Franken haben, die zweite alle, die ein steuerbares Einkommen von 500 bis 1000 Franken haben, und so weiter. Danach werden die Spannweiten kontinuierlich grösser. Für jede Einkommensschicht ist zudem die Anzahl Menschen sowie das mediane steuerbare Einkommen dieser spezifischen Schicht aufgeführt. Mit Daten des Kantons Schaffhausen wurde für jede Schicht der zutreffende Steuersatz sowie die Steuerfüsse für das Jahr 2023 und 2024 ergänzt. So konnte für jede Einkommensschicht errechnet werden, wie sich die Einkommenssteuern verändern auf das Jahr 2024. Folglich konnte die Einkommensverteilung des Kantons berechnet werden. Dadurch wurde es möglich, die Schaffhauser Bevölkerung, beziehungsweise die kleinen Einkommensschichten, gemäss der OECD-Definition in fünf Überkategorien einzuteilen. Für jede dieser Kategorien wurde anschliessend die durchschnittliche Einsparung bei den Einkommenssteuern berechnet.