Selina Gerber mischt die Schaffhauser Theaterszene auf. Sie will etwas leisten – das zeigt auch das aktuelle Weihnachtsmärchen.
Sonntagnachmittag, erster Advent. Die Zuschauerränge des Schaffhauser Stadttheaters liegen verlassen da, die «Kleine Bühne» probt das traditionelle Kindermärchen, das in der Weihnachtszeit aufgeführt wird. Gerade macht die Theatertruppe eine Verschnaufpause. Nur eine schwirrt unentwegt umher: Regisseurin Selina Gerber kümmert sich um Fragen von allen Seiten, richtet den flauschigen Teppich auf der Bühne und lässt sich von den drei Mädels, die am Bühnenrand sitzen, einen Fadenspiel-Trick vorführen. Gut gelaunt hält sie die Energie oben. Zugleich dringt durch, wie klar sie den Takt vorgibt. Selina Gerber weiss, was sie will. Sie hat sich ihren Platz hart erarbeitet in den vergangenen Jahren.
«Hier bin ich!»
Selina Gerber meldete sich vor zwei Wochen mit einer Idee für einen Artikel bei dieser Zeitung. Ihr Pitch: seit 2008 führe zum ersten – und ganz seltenen – Mal wieder eine Frau Regie bei der «Kleinen Bühne», informierte Gerber. Die Kindergeschichte, die sie inszeniere, stecke in den Stereotypen der 1950er-Jahre fest und zeige viele veraltete Frauenbilder, mit denen es einen Umgang zu finden gelte. Gerber hatte sich das offenbar wohl und treffend für die AZ überlegt.
Wir wollten mehr über diese Frau erfahren, die so initiativ in Erscheinung tritt.
Nun sitzt Selina Gerber vor einem reich gedeckten Frühstückstisch in der Parkvilla. Ein diskreter Ort, wie aus der Zeit gefallen und festlich geschmückt, ein weihnachtliches Hide-away. Die 38-Jährige – die sich auf Instagram und auf ihrer Website gerne in Fotoshootings in Szene setzt – bestellt sich Kaffee und wirkt eher schüchtern. Sie sagt, sie sei eigentlich ein introvertierter und zurückhaltender Mensch. «Aber wenn du im Kulturbereich etwas machen willst, musst du ständig auf dich aufmerksam machen und rufen: ‹Hier bin ich!› Sonst kommst du nicht zum Zug», so die Theaterpädagogin, Regisseurin und Schauspielerin.
Plötzlich aufgefallen
Seit 2018 arbeitet Selina Gerber für das Schaffhauser Stadttheater. Sie war damals mit einer Blindbewerbung an die Institution getreten und hatte darauf hingewiesen, dass dieser ein Vermittlungsangebot fehle. Das stiess auf offene Ohren; die Theaterpädagogin arbeitete fortan frei für das Stadttheater und stellte ihre Stunden in Rechnung. Daneben verfolgte sie eigene Bühnenprojekte.
Das erste Mal richtig aufgetaucht und aufgefallen ist Selina Gerber in Schaffhausen, als sie 2019 in einer Kellertaverne auf dem Tisch tanzte. Zusammen mit Walter Millns und Ursula Lipps hatte sie die Regie des Sommertheaters übernommen, die kurzfristig frei geworden war. Sie inszenierte eine der drei Stationen im Stück «Schaffhausen schwer legendär». Und sprang dabei gleichzeitig für die Schauspielerin ein, die als Hübschlerin das Tanzbein schwingen sollte, sich an einer Hauptprobe aber den Zeh gebrochen hatte.
Später fiel Gerbers Name mehrfach in Zusammenhang mit der Bachturnhalle. Die «mittlere Bühne» war ein Desiderat, auf das die lokale Theaterszene unter der Ägide der Kulturgrösse Katharina Furrer jahrzehntelang hingearbeitet hatte und das sie schliesslich mit der Stadt umsetzen konnte. Selina Gerber hätte Geschäftsführerin des neuen Theaterorts werden sollen. Doch offenbar hatten sie und der Vorstand unterschiedliche Vorstellungen. Die Stelle – im Endeffekt mehr eine verwalterische, buchhalterische – war nicht das Richtige für sie. Gerber, die ursprünglich Musicaldarstellerin, dann Kindergartenlehrperson und Theaterpädagogin gelernt hatte und im Hinblick auf das Engagement in der Bachturnhalle noch eine Ausbildung in Kulturbetriebsführung anhängte, setzte fortan ganz auf die gestalterische Schiene. Sie entwarf ihre Website, vermarktete sich mehr als Künstlerin. Und kämpfte um einen Platz in der Schaffhauser Theaterszene.
Der Theaterkuchen
Sie habe sich ihren Raum während ihrer ganzen Karriere aktiv nehmen müssen, sagt Gerber. «Als Frau musst du dich doppelt und dreifach anstrengen. Ich musste mich schon einige Male behaupten und auch schon sagen, wenn es für mich nicht passt. Damit machst du dich nicht unbedingt beliebt, aber das braucht es, um weiterzukommen.»
Die Welt des Schaffhauser Klein- und Laientheaters ist überschaubar. Die bestehenden (und bezahlten) Positionen sind noch überschaubarer – und dadurch natürlich jeweils über lange Zeit besetzt.
Prägende Figuren auf dem Platz heute sind zum einen Walter Millns – der einfallsreiche, klamaukige und lockere Typ, der bei der «Kleinen Bühne» inszeniert (sowie das Kantitheater und Dorftheater begleitet). Und zum anderen Jürg Schneckenburger, der auf Tiefgang setzt, selbst sein grösster Kritiker ist und – im Turnus mit Millns – das Sommertheater inszeniert und sich vor allem mit dem Jugendclub Momoll verdient machte. Auf der Nachhut folgt, einige Generationen jünger und aus Schneckenburgers Momoll-Theater hervorgegangen, das Schauspielensemble Szenario. Dieses fällt mit hochwertigen Produktionen auf, die Ensemblemitglieder sind aber gleichzeitig in ihren regulären Jobs eingebunden. Unabhängig davon in der Theaterszene aufgetaucht ist: Selina Gerber.
2020 stiess sie zum Vorstand des Schaffhauser Sommertheaters, der sich damals verjüngte. Walter Millns seinerseits schied 2021 aus dem Vorstand aus, und Jürg Schneckenburger inszenierte dieses Jahr sein letztes Sommertheater.
Sie habe von Walter Millns wie auch von Jürg Schneckenburger viel lernen können, sagt Gerber. «Die Schauspielerinnen und Schauspieler sagten mir schon, ich bewege mich mit meiner strengen Linie, die auch Freiheiten zulasse, irgendwo zwischen den beiden.»
Jürg Schneckenburger sagt über Selina Gerber: «Ich habe sie als Kollegin bei zwei Produktionen als äusserst kooperativ, gut vorbereitet und der gemeinsamen Sache verpflichtet wahrgenommen.» Und er sagt, er staune über die Schaffenskraft und die vielen unterschiedlichen Projekte, die Selina Gerber auf dem Platz Schaffhausen in Angriff genommen habe.
Tatsächlich: Selina Gerber hat gerade einige Zusagen gemacht und ganz schön Fuss gefasst. Seit September dieses Jahres gibt es eine Stelle für sie am Stadttheater, in der sie in einem 20-Prozent-Pensum als Theaterpädagogin arbeitet. Nicht nur inszeniert sie zudem dieses Jahr das Weihnachtsmärchen im Stadttheater – grosse Vorstellungen, einige davon ausverkauft, mit jeweils an die 700 Gästen. Sie inszeniert es auch im kommenden Jahr. Und zudem das Sommertheater 2025. Alles in allem ein ziemlicher Hosenlupf. Selina Gerber muss leisten.
Genau das hat sie auch vor, wie das aktuelle Weihnachtsmärchen zeigt. Gerber inszeniert «Der kleine Wassermann» von Ottfried Preussler. Sie stützte sich dabei nicht wie sonst oft üblich auf eine Bühnenfassung – sondern schrieb das Stück auf Grundlage des Buches selbst. Sie brachte dabei eine zweite Zeitebene hinein: Der kleine Wassermann kann nicht schlafen und hält seine Familie vom Winterschlaf ab – und wie die Wasserleute in ihrem grossen Bett liegen, schauen sie auf ihre Abenteuer zurück. «Ich hatte die Idee, weil Preusslers Romane durch die Gutenachtgeschichten entstanden, die er abends für seine Kinder erfand», so die Regisseurin. Auch dieser Wechsel der Erzählebene: ambitioniert.
Jedes Detail
Beim Probebesuch merkt man, wie sehr Selina Gerber auf Draht ist. Man hätte es kaum anders erwartet, und die Theaterfrau sagt es von sich selbst: Sie sei eine Perfektionistin. Vielleicht auch – eine Vermutung –,
weil es die Umstände oft so wollen von Frauen in Rollen, in denen sie sich beweisen müssen.
Ensemblemitglied David Zahner, der im Stück einen Frosch spielt, und der schon seit seinem zwölften Lebensjahr bei der «Kleinen Bühne» dabei ist, sagt, die Zusammenarbeit mit Gerber mache Spass. «Die Proben sind aber auch anstrengend und zeitintensiv – nicht im negativen Sinn –, man muss sich einfach bewusst sein, dass Selina einen fordert. Sie kann gut führen und hat es auch mit den Kindern in der Crew im Griff. Was mir besonders gefällt, ist, dass sie Livemusik und Elemente wie Tanz oder selbstgefilmte Videoprojektionen dazunimmt. Das ist sehr aufwändig.»
Wie man in der Probe des «kleinen Wassermanns» sitzt, kommt der Gedanke an Selina Gerbers ursprünglichen Pitch wieder auf: die Stereotypen, die in Ottfrieds Preusslers Buch vorkommen. Das einzige, was hierzu auffällt, ist, wie geschwätzig, schreckhaft und eitel ein Schwarm von Fischfrauen ist – das wirkt nicht wirklich, als würden hier Stereotypen aufgebrochen.
Gerber sagt, sie habe beim Thema Stereotypen vor allem an die Rolle der Mutter des Wassermanns gedacht. «Im Original ist die Mama eine völlig langweilige Figur, die sich um Haus und Herd kümmert. Ich wollte in meiner Bühnenfassung vor allem ihre Rolle stärken und zeigen, dass in einer modernen Familie auch der Vater aufsteht, wenn das Kind nicht schläft.» Und die Fische: Ja, die seien doof, die müssten doof sein. «Ich habe auch Männer für die Rolle angefragt, aber die wollten nicht. Ganz ohne Stereotypen geht es in der Inszenierung überdies nicht. Wir haben ganz viel geprüft und etwa versucht, ob die Fischfrauen auch ohne Stögelischuhe auftreten könnten – aber es hat nicht funktioniert. Gewisse Stereotypen muss man bedienen, damit es witzig wird und bei unserem Publikum ankommt – und gleichzeitig muss man Gegensteuer geben.»
Auch das habe sie sich sehr gut überlegt. So wie sie es bei allen Details tut.