Wenn im Wein die Wahrheit liegt, liegt dann im Glühwein die Erleuchtung? Nein, findet unser Autor: Nur kalte Füsse und ein breit akzeptierterFreipass, sich schon vor Feierabend zu betrinken.
Es ist noch nicht lange her, da war Glühwein illegal. Zumindest in Dasing bei Augsburg. Als ein findiger Weinhändler 1956 Glühwein in Flaschen abfüllte, verhängte das Augsburger Marktamt ein Bussgeld wegen des beigemischten Zuckers. Der Verstoss gegen das Weingesetz sollte sich als smarter Marketingtrick erweisen, denn erstens wurde das Gesetz wenig später angepasst, der Glühwein legalisiert, und zweitens behauptet die Firma des findigen Weinpanschers auf Basis des damaligen Bussgeldes bis heute, den Glühwein erfunden zu haben – zumindest den abgefüllten.
Was man sich an dieser Geschichte merken muss: Glühwein war schon immer ein Verbrechen. Früher gegen das Gesetz, heute nur noch gegen den guten Geschmack.
Zugegeben, diese Zeilen sind reichlich subjektiv. Keinesfalls möchte ich jemandem verbieten, sich den klebrigen Weinsirup über die Finger und in die Kehle zu schütten, und es soll auch niemandem benommen sein, ihn zu verkaufen. Aber ich darf das Ganze im Gegenzug auch doof finden.
Kleines Gedankenexperiment: Würde eine Brauerei im Hochsommer einen Bierstand auf dem Froni eröffnen und die Leute würden ab 12 Uhr Schlange stehen, niemand würde die Bierverkäuferinnen als «Revolutionäre» (Schaffhauser Nachrichten) bezeichnen oder «die schöne Stimmung» (Bock) preisen. Nein, wenn Krethi und Plethi in der prallen Sonne stehend bei 40 Grad stundenlang Bier tränken, Schaffhausen würde von einem gesundheitsgefährdenden Volksbesäufnis sprechen. Aber wenn die Verhältnisse umgekehrt sind, der Froni arschkalt und die Getränke heiss, dann sind diese Gesetze offenbar ausgehebelt. Wegen der Weihnachtsbeleuchtung und der Adventsstimmung, oder so. Ich kann gern auch mal im Sommer eine Lampe anzünden und mir darunter eine füllen, imfall.
Aber ich schweife ab. Im Grunde habe ich mit Glühwein – wie er auf dem Fronwagplatz zelebriert wird – zwei Probleme.
Problem 1, wie Sie unschwer erraten: Glühwein schmeckt mir nicht. Das Konzept Wein ist seit dem 6. Jahrtausend erprobt, es funktioniert recht gut. Man macht es mit Hitze, Zucker und Sternanis nicht besser.
Problem 2: Mir leuchtet bzw. glüht beim besten Willen nicht ein, warum Leute gern in der Kälte stehen, anstatt einfach in der Wärme an einem Tisch oder einer Bar zu sitzen.
Der Heissgetränk-Nichtangriffspakt
Aber man soll ja offen sein und sich auch mal eines Besseren belehren lassen, gerade als Journalist. Darum stehe ich eines Abends auf dem Fronwagplatz und versuche mich für den Tresen eines der inzwischen vier Häuschen zu erwärmen. Ich weiss natürlich, dass der ganz links das Original ist, der Stand von Laura Ferber und Jörg Göldi. Sie haben vor fast zehn Jahren die erste Bewilligung erkämpft – disruptors, denken die einen, Dammbruch, sage ich.
Ich entscheide mich aber für den Stand ganz rechts: Im Häuschen hängt ein Schild der Weinhandlung Felsenkeller, das mich überzeugt. Meinem oben genannten Problem 1 (keine Lust auf Glühwein) folgend, bestelle ich Löhninger Weisswein. Erst beim Zahlen merke ich anhand der Twint-Belastungsanzeige, dass ich aus Versehen die «Bockalp» unterstützt habe, den Saunamarathon unter den Glühweinverkäufern. Jänu. Prost.
Der Schnee, der auf den Dächern wunderhübsch aussieht, presst sich als Pflotsch durch meine Schuhe (vergleiche Problem 2: in der Kälte stehen). Es darf inzwischen als sicher gelten, dass der Fronwagplatz trockengelegt ist, bis ich nach Hause komme – die ganze kalte Nässe hat sich osmotisch in meine Socken verlagert.
Ich nippe und prüfe das Angebot der vier Stände (weil der Weinbecher zwar randgefüllt, aber klein ist). Man hat sich abgesprochen, in Schaffhausen gilt der sogenannte Nordostschweizer Heissgetränk-Nichtangriffspakt (NOCH-HGNAP, die Abkürzung klingt wie jemand, der sich am Glühwein verschluckt hat). Bei näherer Betrachtung schenkt nur das Original Glühwein aus. Die anderen verkaufen Glühmost, Glühaperol, Glühgin und, tatsächlich, Glühmet. Damit Sie nicht müssen, habe ich das alles probiert. Die Geniessbarkeit nimmt in der hier wiedergegebenen Reihenfolge (rapide) ab, wobei der Glühmet als absolute Spitze der Gräusligkeit unschlagbar blieb. Natürlich vertrauen Sie, geneigte Leserinnen und Leser, an dieser Stelle dem Urteil des Glühgetränkverachters nicht – Sie halten mich für nicht qualifiziert, und ich widerspreche nicht. Aber bitte glauben Sie mir zumindest, dass der Glühmet schmeckt wie warmer Putzessig.
Aber halt, ich lasse mich von meinen (natürlich komplett berechtigten) Vorurteilen und meinem (unfehlbaren) Gaumen leiten, das ist natürlich nicht fair. Es geht ja auch um das soziale Erlebnis, um die Experience, wie der Disruptor sagt.
«Ein Glühwein hinter die Rüstung»
Ich entscheide mich für eine spontane und semi-repräsentative Umfrage. Einen Notizblock zücke ich dafür nicht, die Erinnerung muss reichen und ein bisschen Arbeitsverweigerung muss sein, wenn mich die Redaktion in den Kältetod zu schicken versucht.
Besonders oft genannt wird die Atmosphäre als Pluspunkt für den Glühweinstand. Schon nach dem ersten Gespräch schreibe ich triumphierend in den imaginären Notizblock: «Bisher hat noch niemand den leckeren Glühwein als Vorteil des Glühweinstandes genannt.» Doch diese These kommt rasch ins Wanken. Vier Vertreterinnen der Generation Z sagen einhellig, sie seien zwar auch hier, um die Zeit zwischen Feierabend und Verabredung zum Nachtessen zu überbrücken – aber ja, der weisse Glühwein vom Stand Ferber/Göldi, der sei wirklich sehr gut. Neuer Eintrag im inexistenten Notizblock: «Herrgott, den Weissen muss ich auch noch verköstigen.»
Einen Tisch weiter trinken zwei Männer in meinem Alter roten Glühwein. Ich überspringe einige meiner sauber auf dem unsichtbaren Notizblock notierten Fragen und komme zur Sache: «Warum seid ihr hier?» – «Ist doch noch schön, sich ein oder zwei Glühweine hinter die Rüstung zu römern», entgegnet der eine, «ich hab den Glühwein echt gern, und ich schätze auch das Grindweh am nächsten Tag.» – «Macht Glühwein mehr Grindweh?» – «Ich finde schon, ja.» Der andere mischt sich ein: «Du säufst halt auch immer so viel davon!»
Glühende Versöhnung
Ich hole mir einen weissen Glühwein und ziehe Bilanz. Die Leute mögen die Stimmung, und tatsächlich auch den Glühwein. Langweiliges Umfrageergebnis, also muss es stimmen. Eine laute Minderheit kommt, um zu viel zu saufen, sei’s drum. Der Glühwein soll allen unbenommen ihrer Motivation gegönnt sein. Mir ist ganz versöhnlich zumute und ich habe keine Ahnung, woran das liegen könnte.
Mit jähem Schrecken merke ich, dass ich schon lange aufgehört habe, bei jedem Schluck aus meinem Styroporbecher reflexartig das Gesicht zu verziehen. Mist. Der weisse Glühwein schmeckt tatsächlich nicht grusig. Fast gut, muss ich zugeben.
Ich zücke ein letztes Mal den methaphysischen Notizblock und verfasse ein abschliessendes Urteil. Der Glühwein, man kann es ihm nicht nehmen, gibt der Adventszeit das gewisse Etwas. Er ist das Salz in der Suppe, nein: das Gewürz im Wein. Für diejenigen halt, die Gewürz im Wein brauchen.