Die Akte Ulli S.

8. Dezember 2023, AZ-Redaktion
Illustrationen: Mattia Mastroianni
Illustrationen: Mattia Mastroianni

Wie ein schillernder Waffenproduzent von Schaffhausen aus internationale Sanktionen umging, um millionenschwere Geschäfte mit der russischen Rüstungsindustrie zu machen.

von Ivan Ruslyannikov und Marlon Rusch

Während sich ukrainische Truppen und die Schergen des russischen Söldnerführers Jewgeni Prigoschin im Frühsommer 2023 erbitterte Kämpfe um die Stadt Bachmut liefern, taucht in einem russischen Telegramkanal ein kurzes Video auf. Ein Kämpfer der Wagnertruppen erklärt darin einem russischen Presseoffizier vor der Kamera sein Arbeitswerkzeug, ein Hochleistungs-Scharfschützengewehr des Typs Orsis T-5000. «Das Gewehr hat sich sehr gut bewährt», schwärmt der junge, etwas scheue Söldner. «Es durchschlägt leichte Panzerung und trifft den Feind in offenem Gelände auf eine Entfernung von 1500 Metern.»

Drei Monate später klicken 3000 Kilometer westlich von Bachmut Handschellen. Französische Polizeibeamte vollstrecken einen internationalen Haftbefehl, nehmen den deutschen Unternehmer Ulli S. fest und übergeben ihn einige Tage später am Frankfurter Flughafen an Beamte des Zollfahndungsamtes Stuttgart. Am 13. November 2023 teilt die deutsche Generalbundesanwaltschaft mit, dass sie gegen Ulli S. Anklage wegen mutmasslicher Verstösse gegen das Aussenwirtschaftsgesetz erhoben habe. Nach der russischen Annexion der Krim hatte die Europäische Union 2014 Handelssanktionen über Russland verhängt. Der deutsche Unternehmer soll diese Sanktionen wissentlich verletzt haben, um Millionengeschäfte mit der russischen Rüstungsindustrie zu machen. Und er soll versucht haben, diese Geschäfte zu verschleiern. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Es ist gut möglich, dass Teile des Scharfschützengewehrs Orsis T-5000 in den Händen des jungen Wagnersöldners in Bachmut mit vollautomatischen Metallfräsemaschinen hergestellt wurden, die Ulli S. völkerrechtswidrig nach Russland geliefert hatte. Der Deutsche wohnte damals unbehelligt in einer Villa in Schaffhausen, wo auch vier seiner Firmen domiziliert waren. Die Geschäfte florierten. Doch Jahre später begannen sich plötzlich Schweizer Bundesbehörden für seine Geschäfte zu interessieren; und dann tauchten sein Name und der Name seiner Schaffhauser Holdinggesellschaft auch noch in einem verräterischen Urteil des Moskauer Schiedsgerichts auf.

Dies ist die Geschichte eines Emporkömmlings, der nun tief fallen könnte.

«Irrsinnig viel Geld verdient»

Ulli S. ist ein diskreter Mann. Keine Medienberichte, keine Accounts in sozialen Medien, keine Fotos. Presseanfragen an seine Firmen bleiben unbeantwortet, ein Rechtsanwalt, der den Unternehmer vor einigen Jahren vertreten hat, wimmelt die Schaffhauser AZ ab. Auf Handelsregisterämtern aber hat Ulli S. Spuren hinterlassen, und spricht man mit Leuten, denen er während seiner Zeit in Schaffhausen begegnet ist, mit Verwaltungsräten seiner Firmen, mit Rechtsberatern, Wirtschaftsprüfern und Menschen aus seiner Nachbarschaft, zeichnen sich im Schatten des Mannes Konturen ab. 

Eine Kopie des Ausländerausweises von Ulli S. tauchte in den Akten des Schaffhauser Handeslregisteramts auf.

Ulli S. kam 1968 in Stuttgart zur Welt. Er soll in einfachen und belastenden familiären Verhältnissen ohne Vater aufgewachsen sein und sich früh für die Metallverarbeitung interessiert haben. Danach habe er sich zielstrebig nach oben gearbeitet. Laut eigenen Angaben begann er nach seiner Ausbildung bei Bosch im Jahr 1990 auf gebrauchten CNC-Maschinen Bauteile für eigene Kunden zu produzieren. 1996 gründete er bei Stuttgart ein Präzisionstechnik-Unternehmen, das heute auf 3000 Quadratmetern Produktionsfläche 100 Mitarbeitende beschäftigt und gemäss Firmenwebsite «einer der führenden Zerspaner von Präzisionsbauteilen» in Süddeutschland ist. Die Firma arbeitet im Bereich Motorenbau als Zulieferer für grosse Konzerne wie Rheinmetall, Porsche oder ZF Friedrichshafen. Laut Ulli S. hat sie auch an Schusswaffen für die deutschen Streitkräfte mitgebaut und hält «zahlreiche Patente», etwa für das «umstrittene Gewehr HK G36», die Ordonnanzwaffe der Bundeswehr. Ausserdem ist Ulli S. laut Handelsregister Direktor oder Partner von mehreren Immobilienfirmen und Vermögensverwaltern in Süddeutschland. 

Ehemalige Weggefährten, die sein Werk bei Stuttgart besichtigt haben, erinnern sich an einen vorbildlich geführten Betrieb, der «irrsinnig viel Geld» gemacht habe, in dem der Patron seine Mitarbeitenden aber auch gut behandelt habe. Ulli S. sei ein grosser, gutaussehender Mann mit dunklem Teint und hellem Gemüt gewesen, ein charmanter Verkäufertyp, der schnell Netzwerke knüpfen konnte. Was sie alle sagen: Ulli S. war technisch sehr begabt. Und er hatte eine geradezu nerdige Faszination für Schusswaffen. Diese führte ihn zuerst nach Schaffhausen. Und nun in Untersuchungshaft.

Der Glücksritter

Um die Jahrtausendwende ging ein Ruck durch die SIG in Neuhausen am Rheinfall. Mit der Produktion von Pistolen und den Sturmgewehren 57 und 90 für die Schweizer Armee hatte der Traditionskonzern weltweit Bekanntschaft und Ansehen erlangt, nun aber bekam das Geschäft mit Schusswaffen immer grössere Imageprobleme und geriet unter Druck. Schliesslich verkaufte die SIG im Jahr 2000 einen Grossteil ihrer Waffensparte mit 700 Mitarbeitenden weit unter Wert an zwei Unternehmer, die dafür die Firma SAN Swiss Arms AG gründeten. 

Einige Jahre später tauchte Ulli S. erstmals in Neuhausen auf. Ob ihn der Geschäftssinn oder sein Faible für Schusswaffen anlockte, ist unklar. Vermutlich spielte beides eine Rolle. Jedenfalls übernahm der Deutsche einen Teil der Maschinen von der SAN Swiss Arms und gründete dafür 2004 in Schaffhausen ein eigenes Präzisionstechnik-Unternehmen, gewissermassen einen Ableger seiner Homebase bei Stuttgart.

In den folgenden Jahren kamen weitere Gesellschaften und eine Holding hinzu, die seinen Namen trug und dem Firmenkonstrukt ein Dach gab. 2006 teilte die Schaffhauser Wirtschaftsförderung freudig mit, dass das Präzisionstechnik-Unternehmen von Ulli S. erste Mitarbeitende der SAN Swiss Arms übernommen habe. 2007 konnte man in der lokalen Presse lesen, die neue Firma habe nicht nur die gesamte Fertigung von Sturmgewehrteilen übernommen, der Unternehmer Ulli S. plane ausserdem, mehrere Millionen Franken in Neuhausen zu investieren, um zum «Systemlieferanten der Schweizer Armee» zu werden und die Schweiz «als Kompetenzzentrum für den Waffenbau» zu etablieren. 

Der Deutsche kam als Heiland nach Schaffhausen. Doch es gab auch Probleme. 2009 verliessen mehrere Verwaltungsräte abrupt mehrere seiner Firmen. Einer schrieb in seinem verärgerten Rücktrittsschreiben, welches der AZ vorliegt, Ulli S. habe nicht informiert, er habe Termine nicht eingehalten und unvollständige Unterlagen abgegeben. Über eine der Schaffhauser Firmen von Ulli S. eröffnete das Kantonsgericht im selben Jahr den Konkurs, und auch seine Holdinggesellschaft wurde beinahe «wegen Organisationsmangel» vom Gericht in den Konkurs geschickt. Laut einem damaligen Verwaltungsrat ging es darum, dass der Patron AHV-Beiträge nicht bezahlt habe. 

Dieselben Gesprächspartner, die seinen Charme und seine technische Begabung herausstreichen, nennen Ulli S. auch einen «Glücksritter». Dieser habe durchaus hohe Ansprüch an sich selber gestellt, sei aber nicht immer fähig gewesen, diesen Ansprüchen auch gerecht zu werden. Einer, der ihn gut kannte, erinnert sich an einen «grossen Geschäftsmann, dem die Grösse fehlt». Mehrere Gesprächspartner geben gegenüber der AZ an, sie seien von Ulli S. übers Ohr gehauen worden. Offenbar konnte man ihm in Schaffhausen aber wenig anhaben. Seine Geschäfte führte der Deutsche weiter und sah auch keinen Grund, sich von der Region abzuwenden. Im Gegenteil.

Weisser Marmor und ein Waffenkeller

Gemäss seinem damaligen Ausländerausweis reiste Ulli S. 2006 offiziell in die Schweiz ein. Offenbar plante er, sich in Schaffhausen niederzulassen. Ein Mann, der ihm damals eine Villa auf der Breite gezeigt hatte, erinnert sich, wie zuerst die bedeutend jüngere, attraktive Partnerin von Ulli S. in einem weissen Porsche Carrera vorgefahren sei und wenig später er selber in einem schwarzen Porsche Carrera. 

Schliesslich kaufte der Unternehmer Ende 2007 auf dem Geissberg eine stattliche alte Villa, die er aufwändig und mit viel weissem Marmor umbaute. Den Keller verwandelte er in einen High-End-Tresor-Ausstellungsraum mit diversen Monitoren und Unterbodenbeleuchtung für seine exquisite Waffensammlung. Ein ehemaliger Bekannter erzählt, wie Ulli S. einmal bei einer Führung durch den Waffenkeller mit seiner Kollektion und seinem Fachwissen den ehemaligen Chefkonstrukteur der SIG und Vater des Sturmgewehrs 90 beeindruckt habe. Warum sich der Deutsche in der Schweiz niedergelassen habe? «Wohl wegen der Steuern», antworten mehrere alte Bekannte.

Der Umzug sollte sich tatsächlich lohnen. Denn auch abseits der tieferen Steuerlast und der Geschäfte in Neuhausen ergaben sich für Ulli S. in der Schweiz offenbar überaus attraktive business opportunities. Auch wenn er dafür mehr als ein Auge zudrücken musste.

Die ohnmächtige Bundesanwaltschaft

2019 veröffentlichte Radio SRF eine brisante Recherche mit dem Titel «Russische Waffenfirma erhielt Hightech aus der Schweiz». Die Geschichte handelte von einem Geschäft, das mutmasslich Ulli S. orchestrierte. Doch dieser schaffte es, im Schatten zu bleiben.

Im Zentrum der SRF-Recherche stand die Zürcher Firma Biostrom International AG. Das Unternehmen, das zwei russischen Staatsbürgern gehörte und eigentlich aus Biomasse Strom und Wärme herstellte, hatte 2015 ein etwas merkwürdiges Exportgesuch beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) eingereicht: Die Biostrom wollte fünf Werkzeugmaschinen an einen russischen Stahlkonzern im Uralgebirge exportieren. 

Da es beim Gesuch um Maschinen ging, mit denen auch Waffen produziert werden können, und kurz vor dem Exportgesuch internationale Sanktionen gegen die russische Rüstungsindustrie erlassen worden waren, schaltete das Seco den Nachrichtendienst des Bundes ein, welcher jedoch keine Hinweise auf eine militärische Verwendung der Maschinen fand. Also erteilte das Seco 2015 der Biostrom die gewünschte Bewilligung. Der Bund verlangte jedoch, dass nach Inbetriebnahme der Maschinen beim Stahlkonzern im Ural ein entsprechender Bericht eingereicht wird.

Doch einen solchen Bericht erhielt das Seco auch auf wiederholte Nachfrage jahrelang nicht. Dafür erhielt das Staatssekretariat 2018 von einem Informanten einen Hinweis: Mindestens zwei der Maschinen seien nicht etwa bei besagtem Stahlkonzern im Einsatz – sondern beim russischen Rüstungsbetrieb Prommekhanika. Das Unternehmen gehört zur Firmengruppe Promtech und produziert in seinen Werken etwa das Scharfschützengewehr Orsis T-5000. 

Die Kugeln des Scharfschützengewehrs sollen auf eine Entfernung von 100 Metern Nägel einschlagen können.

Das Seco schaltete die Bundesanwaltschaft ein. Diese begann zu ermitteln und konnte den Verdacht auch bestätigen, doch sie konnte «nicht anklagegenügend nachweisen», dass die Biostrom wusste, dass die Maschinen eingesetzt wurden, um Waffen zu produzieren. Schliesslich wurde lediglich der technische Direktor der Biostrom verurteilt, weil er eine Auflage des Seco missachtet und nicht nachgewiesen hatte, wo sich seine Maschinen nach dem Export befinden. Seine Strafe: eine Busse von 1800 Franken. Alle anderen Strafverfahren wurden eingestellt.

Der AZ liegen die entsprechenden Entscheide der Bundesanwaltschaft vor. Einerseits spricht aus ihnen eine Ohnmacht darüber, dass den Strafverfolgern aus formaljuristischen Gründen die Hände gebunden gewesen seien. Andererseits wurde die Bundesanwaltschaft damals von Michael Lauber geleitet, und dieser Lauber pflegte ganz allgemein eine irritierende Nähe zu Russland, die ihm später noch zum Verhängnis werden sollte (siehe Box unten). 

Bei einem der Verfahren hatte die Schweizer Bundesanwaltschaft gegen einen Mann ermittelt, der mit der Biostrom offiziell nichts zu tun hatte und der auch in den Recherchen von SRF nicht auftauchte. Gegen einen Mann, der in einer Villa auf dem Schaffhauser Geissberg wohnte.

Keine «rechtsgenüglichen» Hinweise

Als Ulli S. am 6. November 2018 von Beamten der Bundeskriminalpolizei befragt wurde, hatte er ein Problem. 2015 hatte er einen Vertrag unterschrieben, in dem er sich verpflichtete, technische Informationen zur Herstellung von Sturmgewehren nach Russland zu liefern, dort einen entsprechenden technologischen Prozess auszuarbeiten und die dafür notwendigen Werkzeugmaschinen in Betrieb zu nehmen. Ausserdem hatte sich Ulli S. verpflichtet, Personal auszubilden und Garantiefälle zu übernehmen. Kurz: Er sollte der Mann hinter Maschinen sein, die nach Russland geliefert wurden, um Waffen zu produzieren. Es wäre ein klarer Verstoss gegen internationale Sanktionen. 

In der Befragung relativierte der deutsche Unternehmer: Was in den Verträgen klar erschien, sei in Wahrheit viel unklarer gewesen. Schliesslich seien die im Vertrag erwähnten Gewehre ohne seine Mithilfe hergestellt worden. Er habe bloss «Kapazitätsberechnungen» für die Produktion gemacht und Personal für die «generelle Bedienung» der besagten Maschinen ausgebildet. 

Diese Argumentation erscheint in den Entscheiden der Bundesanwaltschaft in ihrer Kürze hilflos und ungelenk, doch sie verfing. Auch in diesem Fall fand die Bundesanwaltschaft «keine rechtsgenüglichen Hinweise», wonach der Deutsche die im Vertrag beschriebene Serienproduktion eines halbautomatischen Gewehrs unterstützt hätte. Das Verfahren SV.18.0793-SKA der Bundesanwaltschaft wurde am 29. Januar 2019 eingestellt.

Der Fall schien abgeschlossen, der Glücksritter Ulli S. schien einmal mehr ungeschoren davongekommen zu sein. Doch nun, fast vier Jahre später, haben in Frankreich Handschellen geklickt. Und die deutsche Generalbundesanwaltschaft macht in ihrer Medienmitteilung vom 13. November 2023 den Anschein, dass sie für ihre Vorwürfe gegen Ulli S. auch Hinweise habe, die durchaus «rechtsgenüglich» sein könnten. 

Die Kaufverträge vordatiert

Die Generalbundesanwaltschaft schreibt, Ulli S. habe 2015 mit einem russischen Waffenproduzenten drei Verträge über die Lieferung von sechs Werkzeugmaschinen samt Zubehör abgeschlossen. Die Maschinen würden für die «Serienproduktion von Scharfschützengewehren» benötigt. Zur Verschleierung der Geschäfte habe der Deutsche ein Firmenkonstrukt aufgebaut. Die Lieferung sei 2015 mit Hilfe eines Drittunternehmens über die Schweiz (und in einem Fall über Litauen) erfolgt. Es gehe um Maschinen im Wert von rund zwei Millionen Euro. Zu Testzwecken habe Ulli S. über sein Unternehmen ausserdem vier Scharfschützengewehre aus Russland nach Deutschland importiert. Um vorzugeben, dass ein «Altvertrag» vorliege, der vor Inkrafttreten der Russlandsanktionen unterzeichnet wurde, habe der deutsche Unternehmer den Kaufvertrag vordatiert. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Die Vorwürfe der deutschen Strafverfolgungsbehörden legen den Schluss nah, dass nicht die Biostrom die Urheberin der Deals mit der russischen Rüstungsindustrie war, sondern dass die Zürcher Firma nur von Ulli S. zwischengeschaltet wurde, dem eigentlichen Drahtzieher. 

Einen Hinweis darauf liefern auch Daten einer internationalen Zolldatenbank: Am 10. Dezember 2015 meldete die Biostrom International AG unter anderem die Lieferung von gebrauchten Werkzeugmaschinen vom Typ DMU 80 EVO und DMC 60H Linear nach Russland. Bei den Werkzeugmaschinen handelt es sich um sogenannte «Bearbeitungszentren», in denen mit mehrachsigen Fräsen Werkstücke produziert werden können. Das Präzisionstechnik-Unternehmen von Ulli S. bei Stuttgart besitzt exakt solche Maschinen. 

Der technische Leiter der Biostrom, der sich in der Zwischenzeit in der Schweiz einbürgern liess, sagt auf Anfrage der AZ, ihm sei «ein völliges Rätsel», wer Ulli S. sei. Einen Deal mit diesem könne er deshalb «weder bestätigen noch dementieren». Man solle ihn bitte in Ruhe lassen, nach der Recherche von SRF im Jahr 2019 seien die Bankkonten von Biostrom gesperrt worden, weshalb die Firma schliesslich habe liquidiert werden müssen. 

Ulli S. befindet sich derzeit mutmasslich in Untersuchungshaft und ist für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Die deutsche Generalbundesanwaltschaft erteilt auf Anfrage der AZ keine weiteren Auskünfte. Dennoch ist es möglich, gewisse Hintergründe ihrer Vorwürfe zu beleuchten.

Ein verdeckter Dreieckshandel

Am 23. September 2023 berichtete das auf investigative Recherchen spezialisierte russische Onlinemedium The Insider über die mutmasslichen Waffengeschäfte von Ulli S. und über die Ermittlungen der deutschen Generalbundesanwaltschaft. The Insider zitierte dabei russische Gerichtsurteile, welche auch der AZ vorliegen und den Schleier über den Geschäfte von Ulli S. ein Stück weit lüften können.

Das Urteil A41-69022/18 des Moskauer Schiedsgerichts vom 27. Juni 2019 verweist auf drei Verträge, die nicht nur davon handeln, wann welche Maschinen nach Russland gelangen sollen. Die Verträge zeigen auch einen Dreieckshandel auf: Am 8. Mai 2015 unterzeichnete die Zürcher Firma Biostrom einen Vertrag mit der Schaffhauser Holdinggesellschaft von Ulli S.. Am 27. Mai 2015 unterzeichnete das russische Unternehmen Promtechnologia aus dem Rüstungskonzern Promtech einen Vertrag mit der Schaffhauser Holding von Ulli S.. Und am ­­­4. Juni­ unterzeichnete die Zürcher Biostrom einen Vertrag mit der russischen Promtechnologia. 

Das russische Gerichtsurteil, welches Ulli S. nun schwer belastet, wurde nur ein halbes Jahr nach der Entlastung von Ulli S. durch die Schweizer Bundesanwaltschaft erlassen, welcher damals noch die Hände gebunden schienen. Die Ironie daran: Das Moskauer Schiedsgericht tagte nur, weil der Rüstungskonzern Promtech offenbar nicht zufrieden war mit der Lieferung aus der Schweiz und deshalb zivilrechtlich Schadenersatz und Entschädigungen von fast 50 Millionen Euro verlangte. Angeklagt waren neben der Biostrom auch Ulli S. als Privatperson, seine Schaffhauser Holdinggesellschaft und sein Präzisionstechnik-­Unternehmen bei Stuttgart. Schliesslich wurde die Biostrom dazu verurteilt, der Promtech 2 074 324 Euro zurückzuzahlen. 

Für einmal ist der Glücksritter also nicht ungeschoren davon gekommen. Es scheint, als hätte sich Ulli S., der «grosse Geschäftsmann, dem die Grösse fehlt», für einmal mit Leuten angelegt, die ein paar Schuhnummern zu gross für ihn waren.

Als in Frankreich die Handschellen klickten, lebte Ulli S. nicht mehr in Schaffhausen. 2017 hatte er in Zürich eine neue Villa gekauft, «eine Festung par excellence» für angeblich rund 30 Millionen Franken, wie Bekannte sagten, mit einer Tiefgarage für seinen feudalen Fuhrpark, die tief in den Zürichberg gegraben wurde. 2019 verkaufte er die Villa auf dem Geissberg. Seine Holdinggesellschaft wurde gleichentags von Schaffhausen in den Kanton Schwyz verlegt. Die Partnerin von Ulli S. sagte damals zu einer Nachbarin, sie ziehe weg, weil sie in Schaffhausen keinen Platz für ihre Pferde finde.

Dieser Text entstand mit finanzieller Unterstützung des AZ-Recherche­fonds «Verein zur Demontage im Kaff». Der Fonds fördert kritischen, unabhängigen Lokaljournalismus in der Region Schaffhausen. Spenden an den Recherche­fonds: IBAN CH14 0839 0036 8361 1000 0

Die Nähe zum Kreml

Als die Schweizer Bundesanwaltschaft 2019 die Ermittlungen gegen den technischen Direktor der Biostrom und Ulli S. einstellte, wurde sie von Michael Lauber geleitet. Der umstrittene Lauber geriet kürzlich einmal mehr in die Kritik. Im Juli 2023 hat die Helsinki-Kommission des US-Kongresses öffentlich Sanktionen gegen Lauber gefordert.

Der Vorwurf: Der ehemalige Bundesanwalt und seine Leute seien von den Russen bestochen worden, damit sie sanktionierten Russen helfen, an deren Gelder zu kommen, die in der Schweiz eingefroren sind. Lauber und seine Leute hätten ausserdem Geschenke und Reisen von russischen Beamten und Oligarchen erhalten, damit sie heikle Strafermittlungen einstellen. So tauchten etwa Bilder von Lauber am sibirischen Baikalsee oder von einem seiner Mitarbeiter bei einem Bärenjagd-Ausflug auf der Halbinsel Kamtschatka auf.

Lauber weist die Vorwürfe als «unwahr und ehrenrührig» zurück. Klar ist jedoch, dass Lauber die Strategie verfolgte, diplomatische Probleme mit Russland nicht mit Distanz, sondern mit Nähe zu lösen. Im erwähnten Artikel vom September 2023 über die mutmasslichen Geschäfte von Ulli S. mit der russischen Rüstungsindustrie titelte das Medium The Insider: «Die humanste Staatsanwaltschaft der Welt».

The Insider behauptet, die aktuellen Ermittlungen der deutschen Generalbundesanwaltschaft gegen Ulli S. seien ins Rollen gekommen, nachdem die russische Investigativplattform Proekt über die Waffengeschäfte eines Mannes namens Konstantin Nikolaev berichtet habe, eines russischen Oligarchen, der ein Haus in der Schweiz und dessen Kinder die Schweizer Staatsbürgerschaft besitzen sollen. Demnach müsste in den Recherchen zu den Geschäften von Nikolaev irgendwo ein Link zu Ulli S. aufgetaucht sein.

Nikolaev ist ein mächtiger Mann und der Kopf hinter dem Scharfschützengewehr Orsis T-5000. Seine Frau, die waffenbegeisterte Swetlana Nikolajewa, traf eines Tages auf Alexej Sorokin, der ein neuartiges hochpräzises Scharfschützengewehr entwickelt hatte. Konstantin Nikolaev gefiel die Idee, eine solche Waffe zu produzieren, also investierte er 2010 umgerechnet etwa 30 Millionen Franken in eine entsprechende Rüstungsfabrik.

In der Folge wurden nicht nur weitere regierungsnahe Investoren gefunden, das privatwirtschaftliche Projekt wurde in Russland bald auch mit öffentlichen Geldern unterstützt. Als 2012 der tadschikische Präsident Emomalij Rahmon seinen 60. Geburtstag feierte, brachte ihm Wladimir Putin als Geschenk ein Exemplar des neuartigen Scharfschützengewehrs Orsis T-5000 mit. Bald darauf wurde der Entwickler Alexej Sorokin zum CEO der Rüstungsfirma Promtechnologia ernannt.

Diese Promtechnologia hat nicht nur Verträge mit der Zürcher Biostrom und der Holdinggesellschaft von Ulli S. unterzeichnet, um dessen Maschinen zu importieren; ihr gehört etwa auch eine Munitionsfabrik in der russischen Stadt Tula. 2017 kaufte der Oligarch Igor Rotenberg rund die Hälfte dieser Munitionsfabrik. Rotenberg ist ein langjähriger Geschäftspartner von Nikolaev – und ein Freund von Putin. Über ein Gerüst von Firmenbeteiligungen waren Nikolaev und Rotenberg Teil von Putins wichtigstem Bauprojekt: dem Bau der Krimbrücke nach der Annexion der Halbinsel im Jahr 2014.

Sowohl Nikolaev als auch Rotenberg sind mit internationalen Sanktionen belegt. 2019 verkaufte Rotenberg seine Anteile an der Munitionsfabrik in Tula zwar offiziell wieder, laut Recherchen der russischen Antikorruptionsinitiative Scanner Project kontrolliert die Familie Rotenberg das Rüstungsunternehmen Promtechnologia aber nach wie vor. Das russische Medium The Insider untertitelte im September 2023 den Artikel über Ulli S. mit den Worten: «Wie die Schweiz bei der Lieferung von Werkzeugmaschinen für das Militärwerk Rotenberg ein Auge zudrückte».