Wie ein Acker in Feuerthalen das Dorf spaltet. Und dabei die Demokratie stärkt.
In der Turnhalle Stumpenboden in Feuerthalen ist jeder Platz besetzt. Hinten an der Sprossenwand stehen Menschen in mehreren Reihen. Vorne sitzt der Gemeinderat, sieben Männer, an Tischen. Bis auf den Gemeindepräsidenten Jürg Grau haben alle den Arm erhoben. Gerade werden die Nein-Stimmen ausgezählt. Es murmelt im Saal. «Ou, das wird heiss», raunt der Sitznachbar.
Kurz darauf hält Jürg Grau einen Notizzettel in der Hand. «Sölemer nomal zelle?», flüstert er dem Chef-Stimmenzähler zu, was der ganze Saal hört, weil er ein Mikrofon trägt. «Wir machen die Abstimmung noch einmal», sagt er schliesslich. Aus dem Publikum kommt lautstarker Protest. «Es ist so knapp. Ich will einfach, dass wir keinen Fehler machen», sagt Jürg Grau, «also ich kann die Zahl auch sagen.»
«Gültig oder nid gültig», ruft ein Mann aus dem Publikum. Ein anderer wiederholt: «Gültig oder nid gültig.» Jürg Grau besteht darauf, die Abstimmung zu wiederholen. «Es haben schon Leute den Saal verlassen», ruft jemand. «Abgestimmt ist abgestimmt.»
«Das stimmt nicht, die Versammlung ist nicht geschlossen», sagt Grau, sichtlich nervös. «Ich suche jetzt eine Lösung.»
An diesem Freitagabend geht es weder um eine grosse Investition, noch um den Steuerfuss, noch um Wahlen oder sonst etwas, dem man als Aussenstehender weitreichende Konsequenzen zuschreiben würde. Es ist ein Acker, der für die rekordverdächtigen Teilnehmerzahlen (über 350) an der Gemeindeversammlung sorgt. Und der das Dorf auf der anderen Seite des Rheins in zwei Lager spaltet. Ein Dorf, das mit dem Wachstum hadert, mit der Überalterung, mit finanziellen Sorgen, mit dem zunehmenden Verkehr. Der Acker ist zur Projektionsfläche geworden. Und zur Kampfzone.
Es treten an: Ein SVP-Unternehmer, der sich plötzlich um die Biodiversität sorgt. Ein Raumplaner und Alt-Regierungsrat, der mit dem Gemeinderat eine Rechung offen hat. Und ein Gemeindepräsident, der es sich nicht leisten kann, die zweite Abstimmung in Folge zu verlieren.
Der Acker
Der Acker liegt am oberen Dorfrand von Feuerthalen, zwischen dem Pflege- und Altersheim und dem Kohlfirstwald. Ein braunes Dreieck, auf dem noch die Resten der Zuckerrübenernte liegen. An drei Seiten ist das Feld vom Quartier umschlossen. Gegen den Wald hin steigt das Gelände an, dort hat es einen Wiesenstreifen mit Sträuchern und alten Obstbäumen, zwischen denen in wärmeren Jahreszeiten Tiere weiden.
Die Landwirtschaft ist hier allerdings nur ein Platzhalter. Denn der Acker, Katasternummer 2166, Flurname «Toggenburg», ist eine der wenigen grösseren zusammenhängenden Baulandreserven Feuerthalens. Einer Gemeinde, die gemäss Schätzungen des Zürcher Statistikamtes in den nächsten 15 Jahren um 15 Prozent wachsen wird. Der Acker ist seit Jahrzehnten im Besitz der Gemeinde und mindestens so lange ist klar, dass die Gemeinde auf dem «Toggenburgäcker», wie er unter Feuerthalern genannt wird, einst auch etwas zu bauen gedenkt. Was genau, das ist noch unklar.
Seit mehreren Jahren klar ist immerhin, dass der Gemeinderat entlang der Grundstücksgrenze, also zwischen Acker und Sträuchern, eine Einbahnstrasse bauen will. Vor einem Jahr hat er deshalb in einer «Teilrevision Richt- und Nutzungsplanung» vorgesehen, den Streifen mit den Sträuchern, der einer Pensionskasse gehört, ebenfalls als Bauland einzuzonen.
Der Angreifer
Das Problem, aus Sicht der Gemeinde, befindet sich unmittelbar neben dem Acker und heisst Paul Amsler. Er bewohnt die Dachwohnung eines Mehrfamilienhauses an der Toggenburgerstrasse, das ihm gehört. Paul Amsler ist ein Spross der Feuerthaler Unternehmerdynastie, die vor 150 Jahren mit Feuerlöschern und Nähmaschinen ihren Anfang nahm. Heute stellt die Amsler & Co. Mofas her, vertreibt Velos und Velo-Teile, Paul Amsler führt das Unternehmen in dritter Generation. Er ist Artillerie-Leutnant, passionierter Mountainbike-Fahrer und Mitglied der örtlichen SVP. In der Gemeinde kennt man ihn einerseits als Wohltäter, 2015 sponserte er etwa der Feuerwehr ein neues Einsatzfahrzeug. Andererseits hat er sich als Bekämpfer von Bauprojekten einen Namen gemacht, vorwiegend von solchen in unmittelbarer Nähe zu seinem Wohnsitz. So hat er etwa (vergeblich) versucht, das neue Alters- und Pflegeheim neben dem Acker zu verhindern, zuerst politisch, dann juristisch.
Zusammen mit anderen Anwohnern hat Paul Amsler eine Einwendung gegen den neuen Richtplan eingereicht, gegen die Einzonung des Streifens und gegen die neue Strasse. Die Einwendung wurde abgewiesen. Und so holte er im Sommer zu einem Rundumschlag aus. Er reichte eine Initiative mit drei wesentlichen Forderungen ein: Erstens soll auf den Bau der Strasse verzichtet werden. Zweitens sei auf die Einzonung des Sträucher-Streifens zu verzichten. Und drittens soll der ganze «Toggenburgäcker» nicht mehr Bauzone sein.
Amsler verschickte mehrfach Flyer an alle Feuerthaler Haushalte, schrieb Leserbriefe im Lokalblatt und nutzte das Narrativ seiner Partei von der «Zubetonierung der Schweiz» und dem angeblich unkontrollierten Wachstum seiner Gemeinde. Seine Flyer unterschrieb er mit «Interessensgemeinschaft nachhaltiges Feuerthalen».
Eine Interviewanfrage der AZ lehnte Paul Amsler ab. Er werde in keiner Zeitung ausserhalb Feuerthalens zu seiner Initiative Stellung nehmen.
Der Verteidiger
Der Gemeinderat nahm Paul Amslers Vorstoss offenbar von Anfang an als ernste Bedrohung wahr. Allen voran Gemeindepräsident Jürg Grau, IT-Unternehmer und Parteikollege von Amsler. Er ist ein guter, unterhaltsamer Redner und strahlt eine gewisse Vertrauenswürdigkeit aus, was ihm etwa auch das Präsidium der Atomendlager-Regionalkonferenz eingebracht hat – ein Mann der Konsensdemokratie. Grau ist seit 2017 Gemeindepräsident und wurde zweimal komfortabel wiedergewählt. Doch jüngst scheint ihm etwas von seiner Volksnähe abhanden gekommen zu sein. Am 19. November haben die Feuerthalerinnen und Feuerthaler eine Vorlage mit fast 60 Prozent Nein-Stimmen abgeschmettert, in der es um Tempo 30 im Dorfkern ging. Grau hatte die Vorlage mit Vehemenz vertreten. Noch so eine Niederlage könnte eine zu viel sein.
Kaum erstaunlich also, dass Grau und die sieben Männer vom Gemeinderat bereits vor dem Showdown an der Gemeindeversammlung eine massive Gegenkampagne auffuhren. Im Feuerthaler Anzeiger, dem amtlichen Publikationsorgan, nahm Amslers Initiativtext samt Begründung nicht einmal eine Seite ein. Die Gegenargumente des Gemeinderats füllten hingegen mehr als drei Seiten. Darin war von einem «massiven Eingriff in die Entwicklung und das Volksvermögen» die Rede, die die «Optimierung des öffentlichen Verkehrs und der Schulwegsicherheit», mindere.
Noch ungleicher ist das Verhältnis an der Gemeindeversammlung. Amsler tritt mit einem beidseitig in fetter Schrift bedruckten A4-Blatt ans Mikrofon und betet mit ruhiger Stimme seine Argumente herunter. «Wir vom Toggenburg sind keine Egoisten, wie uns auf unsägliche Art unterstellt wird. Wir sind Bürger, die seit 20, 30, 40 Jahren in der Gemeinde Steuern zahlen, und damit auch den Lohn des Gemeinderats», beginnt er. Eine Überbauung und eine neue Strasse würden zu einem Verkehrskollaps führen, so Amsler. Und es gebe noch genügend andere Bauparzellen in Feuerthalen. «Der Gemeinderat reitet mit dem Toggenburg seit vielen Jahren ein totes Ross. Es ist Zeit, abzusteigen. Aufzuhören mit dem Zubetonieren der Schweiz — dass das im eigenen Dorf anfängt, sollte eigentlich selbstverständlich sein.» Als er mit «Ich habe geschlossen» endet und die Menge applaudiert, sind keine fünf Minuten vergangen.
Dann übergibt Jürg Grau das Wort seinen Gemeinderatskollegen. Den Anfang macht Markus Späth-Walter, Bildungsreferent und als Präsident des Alterszentrums neben dem Acker in der Sache nicht ganz unbefangen. Er leitet her, dass der Anteil der Über-65-Jährigen in Feuerthalen innerhalb der nächsten 15 Jahre um einen Viertel zunehmen, der Ü80-Anteil sich sogar verdoppeln wird. Und dass das Gebiet Toggenburg ideal wäre für betreute Alterswohnungen in unmittelbarer Nähe zum Alterszentrum. Über ein konkretes Projekt könne dann an der Gemeindeversammlung abgestimmt werden. «Auszonen wäre ein Schuss in den eigenen Fuss. Lehnen Sie im Sinne einer vernünftigen Alterspolitik diese Initiative ab.»
Finanzreferent Matthias Huber rechnet vor, dass eine Auszonung des Grundstücks einen Wertverlust von mehr als vier Millionen Franken bedeuten würde, womit sich die Gemeinde verschulden müsste. «Das wird Einfluss haben auf Ihre Steuern. Das wird Sie einen Haufen Geld kosten, wenn Sie dieser Auszonung zustimmen», droht er.
Schliesslich erklärt Grau, wieso es die Strasse unbedingt braucht, nämlich um das Quartier besser an den ÖV anzuschliessen und damit die Schulkinder nicht mehr mit dem Velo durch den berüchtigten «Chilerank» fahren müssen.
Alle gegen Amsler
Seit Amslers fünfminütigem Votum ist mittlerweile mehr als eine halbe Stunde vergangen. Amsler zieht einen Mundwinkel hoch und schaut auf seine Armbanduhr.
Vorne hat Grau derweil Amslers Flyer, Vor- und Rückseite auf separaten Folien, auf die Leinwand projiziert und erklärt en détail, was an den Aussagen alles nicht stimme.
Schliesslich dürfen auch noch die Bürgerinnen und Bürger (es melden sich ausschliesslich Bürger) etwas sagen. Der pensionierte Reallehrer Werner Ganz erklärt, wie gefährlich der Chilerank sei und dass schon 1968 einer seiner Schüler dort verunfallt sei. «Stellen Sie sich vor, dort oben knallt es, und wir haben diese Initiative angenommen. Können Sie dann noch ruhig schlafen, wenn es dort einen Toten gibt? Also ich könnte es nicht.» Eine bemerkenswerte Aussage in einem Dorf, das gerade Tempo-30-Zonen abgelehnt hat.
Ein Enddreissiger namens Florian wirft Amsler vor, Stichworte wie «Biodiversität» und «Naherholungsgebiete» für seine Zwecke zu missbrauchen. «Es tut mir leid, aber da muss ich einfach lachen. Das ist etwas vom Heuchlerischsten und Scheinheiligsten, was ich seit langem gelesen habe. Anmassend. Das kann unmöglich angenommen werden.»
Dass diese Initiative unmöglich angenommen werden kann, zu diesem Schluss hätte man auch als Zuschauer kommen können, wenn man sich die erste Dreiviertelstunde dieser Diskussion angehört hat. Alle gegen Amsler, keine Chance.
Doch dann tritt Herbert Bühl ans Mikrofon.
Alt-Regierungsrat ex machina
Herbert Bühl ist studierter Geograf und war bis 2004 Schaffhauser Regierungsrat für die ÖBS, die sich später in Grüne und Grünliberale aufspaltete. Bis 2017 war er ausserdem Präsident der Eidgenössischen Natur- und Heimatschutzkomission, heute betreibt er ein eigenes Raumplanungsbüro. Kurz: Der Mann hat ein gewisses Standing, ihm kauft man die ökologischen Argumente viel eher ab als Amsler. Und er ist offenbar höchst unzufrieden mit der Arbeit des Gemeinderats bei der «Richt- und Nutzungsplanung».
Die Gemeinde müsse Rücksicht nehmen auf «vorhandene Naturwerte», sagt er. Doch das Naturinventar sei seit 25 Jahren nicht mehr revidiert worden, weshalb es gar keine vernünftige Planungsgrundlage gebe. «Die Baumhecke beim Toggenburg ist wahrscheinlich einer der Biodiversitätshotspots, die wir in der Gemeinde haben. Das war dem Gemeinderat bisher völlig egal, hat er in seine Interessensabwägung nicht einbezogen», so Bühl. Der Gemeinderat habe «wider besseres Wissen» darauf bestanden, den Heckenstreifen als Bauland einzuzonen. Er könne gut verstehen, wieso Paul Amsler die Initiative eingereicht habe. «Wenn man fast alle Einwendungen mehr oder weniger kommentarlos ablehnt, löst man halt so eine Initiative aus. Ich stimme dieser heute zu.»
Bühls Votum hört sich an wie ein Nein aus Protest. Und der Protest resoniert offenbar mit einem grossen Teil des Publikums, das laut und lange applaudiert.
Auch Jürg Grau scheint den Kipppunkt zu spüren und zu ahnen, dass es knapp werden wird. Als ein paar Minuten später die Abstimmung folgt, enthält er sich. «Ich habe dann den Stichentscheid», bemerkt er.
Die Gewinner
Auf dem Zettel, den Jürg Grau vom Stimmenzähler erhält, steht das ungünstigst mögliche Resultat, das diese Versammlung hätte hervorbringen können. 163 Stimmen für die Initiative, 162 Stimmen dagegen. Mit der Nein-Stimme des Präsidenten eine Pattsituation. Und was ist, wenn sich einer der Stimmenzähler verzählt hat?
Alt-Gemeindepräsident Werner Künzle schlägt vor, die Abstimmung zu wiederholen, aber diesmal mit Aufstehen statt mit Hand-Heben. Er geht in Protestrufen unter.
Die Rettung bringt schliesslich ein Mann um die 60. «Guete Abig mitenand», sagt er seelenruhig ins Mikrofon, «ich stelle den Antrag auf Urnenabstimmung». Er erhält den wohl lautesten Applaus des Abends. Das nötige Drittel-Quorum wird mühelos erreicht, der gesamte Gemeinderat samt Präsident stimmt zu.
Geht man davon aus, dass Amsler praktisch alle seine Unterstützerinnen und Unterstützer für die Gemeindeversammlung mobilisiert hat, dürfte der Gemeinderat im März an der Urne bessere Chancen haben. Die wird er auch brauchen, denn will er seine Glaubwürdigkeit behalten, darf er nicht schon wieder verlieren.
Paul Amsler und Herbert Bühl haben hingegen sowieso schon einen Teilsieg eingefahren. Wie der Gemeinderat an der Versammlung bekannt gab, will er aus dem Heckenstreifen nun doch keine Bau- sondern nur eine «Reservezone» machen. Ausserdem wird bald an einer Gemeindeversammlung die revidierte Richt- und Nutzungsplanung vorgelegt. Von Amsler und Bühl sind dazu Anträge zu erwarten, für die sie nun bereits Unterstützer mobilisiert haben.
Letztendlich ist ein Streifen Land, ja auch ein ganzer Acker, wohl nicht entscheidend für die Zukunft der Gemeinde. Er wird nicht auf einen Schlag alle Verkehrsprobleme lösen. Auch den erwarteten Zuwachs wird er nur zu einem kleinen Teil auffangen. Mit ein paar Prozentpunkten höheren Steuern würde Feuerthalen andererseits auch die Rückzonung verkraften. Der Acker scheint an diesem Abend vor allem als Raum gedient zu haben, um über Sorgen und Ängste zu sprechen. Für die Bevölkerung, und vielleicht auch für die Gemeinderäte.
Und als solcher hat er funktioniert. Wie man die Gemeindeversammlung an diesem Freitagabend verlässt, hat man das Gefühl, dass der Acker heute nicht nur gespalten hat. Sondern dass in dieser Turnhalle vielleicht sogar gerade die Demokratie gestärkt worden ist. Nach den gehässigen Zwischenrufen bei der Abstimmung herrscht eine gelöste Stimmung. «Das ist jetzt gut, dass wir eine Urnenabstimmung beschlossen haben, dann können wir danach draussen friedlich zusammen den Apéro nehmen», flüstert der Sitznachbar.