«Am Ende würde ich tot sein»

24. November 2023, Xenia Klaus

Ein Mann schlägt mutmasslich Frau und Tochter, die Stieftochter vergewaltigt er regelmässig. Er bereut nichts.

Der Angeklagte betritt das Gebäude mit Baseballkappe, Maske und Sonnenbrille und behält sie auch drinnen an. Erst die Intervention seines Anwalts bewegt ihn dazu, sein Gesicht zu zeigen. Er schält einen Bürstenschnitt, kantige Züge, einen silbernen Bart und tief liegende Augen aus der Verhüllung. Er wird sie die kommenden zwei Tage zwischen Staatsanwaltschaft, Verteidigung und dem Gericht hin und her wenden, ohne sie gross zu verziehen. Er wird auch den Mund nicht aufmachen, um etwas zu den Vorwürfen gegen ihn zu sagen.

Dabei ist die Liste, zu der er sich äussern könnte, lang: Versuchte Anstiftung zu vorsätzlicher Tötung, versuchte schwere Körperverletzung, mehrfache einfache Körperverletzung, mehrfache Drohung, mehrfache Nötigung und mehrfache versuchte Nötigung, mehrfache Freiheitsberaubung und Entführung, mehrfache sexuelle Handlung mit Kindern, mehrfache sexuelle Nötigung, mehrfache Vergewaltigung und mehrfache Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht. Die mutmasslichen Opfer dieser Taten: Seine ehemalige Stieftochter, Ex-Frau und Tochter. Der zweite Prozesstag wird damit beginnen, dass die Richterin noch Schändung zu den zu prüfenden Tatbeständen hinzufügen lässt.

«Er kann ganz lieb sein, aber auch ganz brutal»

Die drei mutmasslichen Opfer des Angeklagten und der Staatsanwalt erzählen dem Gericht die Geschichte hinter der Anklageschrift so:

Die ältere Tochter war sechs Jahre alt, als die Mutter den Beschuldigten 2005 kennenlernte. Zwei Jahre danach heirateten die beiden. Er brachte einen Sohn mit in die Ehe. Seine Ex-Frau sagt über die Beziehung des Beschuldigten zu seiner Stieftochter: «Ich habe gedacht, er habe die Vaterrolle übernommen. Er hat ihr alles verboten, aber er hat ja auch seinem Sohn alles verboten.» Bald nach dem Zusammenzug begann er, die Stieftochter mit der Fernbedienung und Kabeln zu schlagen. «Er kann ganz lieb sein, aber auch ganz brutal. Eine Mitte gibt es bei ihm gar nicht», sagt seine Ex-Frau. Mit der Zeit wurde er immer öfter immer brutaler.

«Weil du ihre Mutter bist»

2009 kam die gemeinsame Tochter auf die Welt. Während der Schwangerschaft habe sie ein erstes Mal beobachtet, wie der Stiefvater die Mutter nicht «nur» schlug, sondern «total zusammengeschlagen hat», sagt die Stieftochter. Der Beschuldigte zog fortan ein Terrorregime auf in seinem Zuhause: Er übte totale Kontrolle aus, die Ehefrau und die Töchter durften nichts, was er nicht explizit erlaubte, als Bestrafung setzte er neben Schlägen zum Beispiel auch Schlafentzug ein, der Ehefrau nahm er die Antidepressiva weg, der Stieftochter schüttete er heisses Wasser an. Unter anderem übte er auch Druck aus, indem er mit der Gewalt prahlte, die er anderen Frauen angetan habe. «Ich hatte Angst vor den Schlägen, Angst ums Leben. Sehr grosse Angst», sagt die Ex-Frau. Die Tochter sagt: «Bei meiner Mutter hatte ich das Gefühl, dass er sie hasste. Sie wurde auch geschlagen, weil sie meine Mutter ist. Sie hat gefragt wieso und er hat gesagt: Weil du ihre Mutter bist.» Und die Mutter währenddessen über die Tochter: «Sie hatte Angst, aber sie war ein starkes Kind und eine starke Person, keine Ahnung wieso. Sie konnte alles verkraften und aushalten, dass man nicht merkte, dass sie Angst hat.» Heute leidet die Tochter an einer posttraumatischen Belastungsstörung.

«Ich hatte keine Kindheit und Jugend»

Fröhlichkeit vorzutäuschen wurde ihr vom Stiefvater aufgetragen, sagt sie heute. Für die Stieftochter hatte die Gewalt noch eine Seite, die ihrer Mutter lange verborgen blieb: Als sie acht oder neun Jahre alt war, begann der Beschuldigte, sie sexuell zu missbrauchen. «Ich hatte keine Kindheit und Jugend», sagt sie an ihrer Einvernahme vor dem Kantonsgericht. Die sexuelle Gewalt eskalierte über mehr als ein Jahrzehnt immer weiter. «Wenn ich nicht wollte, dann hat er körperliche Gewalt angewandt. Danach musste ich duschen, er ging duschen und dann war alles wieder normal. Er hat mir gesagt, ich müsse mich so verhalten, als wäre ich glücklich, mir niemals etwas anmerken lassen.» Während er ihr zu Beginn einredete, die Übergriffe seien «ein grosses Geheimnis» und die Mutter würde sie nie mehr sehen wollen, wenn sie davon erführe, griff er später zu noch krasserer psychischer und physischer Gewalt, um die Stieftochter gefügig zu machen. Unter anderem drohte er damit, sie und die Mutter umzubringen, schlug, drohte mit Messern, fesselte, würgte. Einmal habe er ihr gesagt: «Ich bringe dich um, du bist meine Frau.» Als sie ihren späteren Mann kennenlernte und sich zu entziehen versuchte, gab er die Tötung seiner Stieftochter und des Verlobten in Auftrag. Das scheiterte, der Beauftragte schlug sich auf die Seite jener, die er hätte beseitigen sollen.

Innerhalb der Familie die einzige Mitwisserin der sexuellen Gewalt: Die kleine Schwester. Sie hörte verdächtige Geräusche und als sie nachfragte, erzählte ihr die Ältere von den Vergewaltigungen. Die jüngere Tochter war es, die – damals 10-jährig – ihre Schwester – damals kurz vor dem 20. Geburtstag – schliesslich überzeugte, auch die Mutter ins Vertrauen zu ziehen.

Der Zeitpunkt war günstig, der Beschuldigte im Ausland. Die Mutter flüchtete ins Frauenhaus und erstattete Anzeige. Die Frau sagt auf die Frage, wieso sie das nicht früher getan hatte: «Er hat immer wieder gesagt, wenn ich ihn anzeige, dann kommt er raus und findet uns und bringt uns um.» Und die ehemalige Stieftochter: «Er hat gesagt, ich solle es versuchen. Ich würde am Ende tot sein.» Als die Familie 2011 ein erstes Mal ins Frauenhaus geflüchtet war, tauchte der Beschuldigte in der Nähe auf, ausserdem bedrohte er die Eltern und den Bruder seiner Ehefrau.

Soweit die groben Linien des eingeklagten Sachverhaltes. Der Angeklagte bestreitet das meiste daran.

«Leicht sadistische Züge»

Nach seiner Verhaftung machte der Beschuldigte eine Aussage und in dieser identifizierte er ein einziges Opfer: Sich selbst. Die sexuelle Beziehung zur Stieftochter habe zwar ab deren 13. Altersjahr existiert, sei aber durch Erpressung seinerseits durch den Teenager entstanden. In jener einen Einvernahme sagte der Beschuldigte unter anderem: «Männer dürfen nichts sagen, wenn man die Frauen gut durchfickt, ist es gut und wenn das aufhört, sagen sie ciao.» Er bekennt sich schuldig zu sexuellen Handlungen mit einem Kind, Reue hat er nie gezeigt. Ein Gutachten unterstellt ihm eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen und leicht sadistischen Zügen, angefertigt hat es der umstrittene Thomas Knecht (siehe AZ vom 10. August 2023).

Nach jener Aussage bei der Polizei ging er zum Schweigen über. Bezüglich aller anderen Anklagepunkte lässt der Angeklagte über seinen Anwalt ausrichten, dass die drei Frauen Lügnerinnen seien. Weiter gehört es zu seiner Verteidigungsstrategie, auf die Art zu verweisen, wie sich die Stieftochter angeblich gekleidet und die Art, wie sie angeblich für Fotos posiert hatte. Der Beschuldigte bestreitet nicht nur die Gewalt an seiner Stieftochter. Auch der Ex-Frau und seiner Tochter habe er nie ein Haar gekrümmt. Er ist mehrfach vorbestraft, unter anderem hat er eine andere Ex-Frau in einem Restaurant verprügelt. «Das einzige, was er gelernt hat, ist, dass es keine gute Idee ist, eine Frau in aller Öffentlichkeit vor Zeugen zusammenzuschlagen. Also hat er das in der Ehe danach im Heimlichen getan», sagt die Opfervertretung dem Gericht.

Telefonterror bei der Tochter

Währenddessen sitzt der Beschuldigte in der Mitte des Saals, verweigert die Aussage, zieht dafür immer mal wieder lautstark den Rotz hoch und hustet, einmal so lange, bis die Richterin die Verhandlung kurz unterbricht, um ihn zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Sonst scheint er weitgehend desinteressiert, einmal setzt er eine Lesebrille auf, um das Papier vor sich zu überfliegen, er ist mittlerweile 53-jährig. Als die Staatsanwaltschaft nach den vier Stunden Plädoyer seiner Verteidigung nochmals etwas entgegnet, scheint der Beschuldigte plötzlich wacher als davor, fixiert den Staatsanwalt und lächelt kurz.

Der Beschuldigte muss auch nicht sprechen, um zu kommunizieren, dass angeblich er das eigentliche Opfer ist. Er hat dafür einen anderen Weg gewählt: Gegenklage wegen «Störung des Privatbereichs». Sein Privatbereich sieht er durch seine frühere Stieftochter dadurch verletzt, dass er bei einer Überführung vom Gefängnis ans Gericht auf öffentlichem Grund an ihr vorbeigeführt wurde. Sie habe gelacht, behauptet er und sieht darin eine Verhöhnung seiner Person. Der Opfervertreter sagt, er habe seine Klientin kurz nach dem Vorfall aufgelöst vorgefunden, gelacht habe sie sicher nicht.

Auch seine leibliche Tochter liess der Angeklagte laut deren Vertreterin nicht in Ruhe: Er hat sie so lange aus dem Gefängnis angerufen, bis das Gefängnis die Nummer der Tochter auf deren Wunsch hin sperrte.

Diese leibliche Tochter hat mittlerweile einen anderen Namen angenommen, sie wollte jenen ihres Vaters nicht mehr tragen. Auch die anderen zwei Frauen tragen heute andere Nachnamen als zum Zeitpunkt der mutmasslichen Taten. Diese neuen Nachnamen ignoriert die Verteidigung, eine Intervention des Staatsanwaltes, der hierin die «sadistische Ausprägung» des Beschuldigten wiedererkennt, blieb erfolglos, der Verteidiger führt «Praktikabilitätsüberlegungen» an.

«Realitätsfremdes Lügengebäude»

Entsprechend der sehr unterschiedlichen Versionen dessen, was passiert ist, gehen auch die Strafanträge weit auseinander: Die Staatsanwaltschaft fordert vom Kantonsgericht 16 Jahre Gefängnis und 15 Jahre Landesverweis. Die Verteidigung 18 Monate Gefängnis. Das Kantonsgericht unter dem Vorsitz von Andrea Berger macht am Ende eine Mischrechnung: Der Angeklagte soll für 14 Jahre hinter Gitter und 15 Jahre ausser Landes. Das Gericht spricht ihn der mehrfachen grausamen Vergewaltigung, mehrfachen Schändung, mehrfachen einfachen Körperverletzung und einer Reihe der weiteren Anklagepunkte schuldig. Das Lügengebilde, das er den drei Frauen vorwirft, sei realitätsfremd. Die Opfer seien glaubwürdig. Der Angeklagte nicht. Mit einer Atmosphäre von Gewalt habe er den Willen der Stieftochter gezielt gebrochen, das «sehr verwerfliche» Motiv sei das eigene sexuelle Interesse gewesen.

Faktoren, die man zu seinen Gunsten strafmildernd anwenden könnte, gebe es nicht: Der Täter sei nicht nur über weite Teile der Anklage nicht geständig oder zeige Reue, sondern es sei «anzumerken, dass er noch nicht einmal die von ihm eingestandenen sexuellen Handlungen mit seiner 13-jährigen Stieftochter als verwerflich ansieht». Vom Vorwurf der versuchten Anstiftung zur vorsätzlichen Tötung wird der Angeklagte in dubio pro reo freigesprochen, es fehlten eindeutige Beweise. Ebenfalls freigesprochen wird er vom Vorwurf der versuchten schweren Körperverletzung. In einigen Anklagepunkten wird das Verfahren eingestellt.

Das Urteil ist nicht rechtskräftig, der Verteidiger des Angeklagten will Berufung einlegen.