Badetempel KSS

6. November 2023, AZ-Redaktion
Erstellt durch Midjourney

Wie aus einer Sanierung das wohl teuerste Hallenbad der Schweiz wurde.
Protokolle, die die AZ exklusiv einsehen konnte, zeigen: Der KSS-Neubau umkurvt jegliche Opposition und stellenweise auch die Realität.

von Simon Muster und Luca Miozzari

Auf den Tischen im KSS-Restaurant liegen mehr Sandwiches, als die anwesenden Medienschaffenden jemals verzehren könnten. Denn nur drei sind zu dieser Pressekonferenz erschienen. Das Thema ist unumstritten. Umso mehr Menschen haben sich dafür auf der Bühne versammelt. Neben Grossstadtrat Markus Leu (SVP) und Simon Sepan von der SP sitzen da sechs Vertreterinnen und Vertreter des Schwimmclubs, des Hockey-Vereins, der Triathleten und der Eiskunstläufer. Auch die Rettungsschwimmerinnen der SLRG und der Curling-Verein engagieren sich im Ja-Kommitee.

Die Menschen auf der Bühne stellen ein Projekt vor, das gegenüber dem heutigen Hallenbad geradezu luxuriös klingt. Sieben Becken, eine bis drei Rutschbahnen, ein Wellnessbereich, ein Restaurant mit 130 Innen- und 150 Aussenplätzen und eine Tiefgarage für 150 Autos. Auf dem heutigen KSS-Parkplatz soll ein Badetempel entstehen, von dem alle profitieren. Den Grossteil der Kosten übernehmen die Stadt (31,7 Millionen), der Kanton (12 Millionen) und die Jakob und Emma Windler-Stiftung (30 Millionen Franken).

Opposition? Inexistent. Der Grosse Stadtrat hat die Vorlage mit nur einer Gegenstimme verabschiedet. Ein Nein-Kommitee gibt es nicht.

Dabei gäbe es durchaus Stoff für politische Diskussionen. Es ist das wohl teuerste Hallenbad der Schweiz. Sicher aber das teuerste städtische Bauwerk der jüngeren Geschichte. Wie das Gebäude einst aussehen soll, ist hingegen noch nicht bekannt. Und die Zukunftaussichten des architektonisch wertvollen bisherigen Gebäudes sehen düster aus.

Per Gesuch und nachfolgendem Rekurs an den Regierungsrat hat die AZ Einsicht in die Protokolle der städtischen Baufachkomission erlangt. Der Blick hinter die ansonsten verschlossene Tür des Sitzungszimmers zeigt, wie aus einer Sanierung der KSS für 28 Millionen Franken ein 80-Millionen-Neubau wurde. Und wie es die Projektverantwortlichen geschafft haben, jeglichen politischen Widerspruch zu umgehen.

Ein Lehrstück der Realpolitik in drei Kehrtwenden.

Die ermutigte Baureferentin

Ein Juniabend 2017 im Stadtratssaal. Die frisch gewählte Baureferentin Katrin Bernath hat zwei Mitarbeitende aus ihrem Stab mitgebracht, neben einem dicken Stapel an Dokumenten und Studien, den sie von ihrem Vorgänger Raphaël Rohner übernommen hat. Und ihre erste eigene Vorlage, die sie heute der Baufachkomission präsentieren wird. Das Papier heisst «Sanierung und Entwicklung der KSS Schaffhausen». Das Hallenbad auf der Breite stammt aus den 1970er-Jahren, leidet etwa unter verkalkten Leitungen und schlechter Isolierung. Bernath präsentiert drei Sanierungsvarianten: «Mini», «Plus» und «Optima», die unterschiedlich viel kosten. Sie und ihre Mitarbeiter empfehlen die teuerste Variante «Optima» für 28 Millionen Franken: neue Becken mit verstellbarer Tiefe, ein eigenes Becken für die Rutschbahn, grössere Garderoben. «Variante Optima würde einen Befreiungsschlag für den Betrieb darstellen», versichert Bernaths Mitarbeiterin der Kommission.

Bauunternehmer Edgar Zehnder (SVP) ist der erste, der sich zu Wort meldet: «Mit den Kosten der Grundsanierung und der Variante Optima könnte man fast eine komplette neue Anlage bauen», wirft er ein. «Ich meine auch, dass das angeschaut werden soll», pflichtet ihm Rainer Schmidig von der EVP bei. Er sehe die Möglichkeit, einen Neubau auf dem bisherigen Parkplatz zu realisieren. Markus Leu, ebenfalls SVP-Bauunternehmer, spricht auch von einem «allfälligen Neubau».

Den Kurs geben in dieser Anfangsphase eindeutig die beiden Baulöwen vor. Und sie halten offenbar nichts von einer Sanierung. «Das heisst, wir gehen politisch davon aus, dass die Variante Neubau gewählt wird?», fragt der damalige AL-Mann Simon Sepan. Die Baulöwen pflichten bei. «Wenn die Fachkommission zum Schluss kommt, es lohnt sich, die Variante Neubau auch genauer anzuschauen, können wir das machen», sagt Katrin Bernath.

«Wir hatten im Stadtrat damals ziemlich Respekt vor dem grossen Wurf. Die Erfahrung aus anderen Hochbauten wie dem Schulhaus Breite war, dass ein Projekt im Parlament nur eine Chance hat, wenn es nicht zu viel kostet», sagt Bernath heute im Interview mit der AZ. Doch nach jener Kommissionssitzung habe sie sich «ermutigt» gefühlt, grösser zu planen. Ein Neubau war nicht mehr undenkbar.

Etwas mehr als ein Jahr nach der ersten Sitzung, im Juli 2018, steht Bernath wieder mit ihren beiden Mitarbeitenden vor der Baufachkomission. «Es handelt sich hier um ein Projekt, bei dem verschiedene Referate involviert sind», beginnt sie die Präsentation. Es habe regelmässige Sitzungen mit dem KSS-Geschäftsleiter und dem städtischen Sportkoordinator gegeben, mehrere Expertenmeinungen seien eingeholt worden, ein «Gremium von Historikern, Rechtsanwälten etc.» habe sich mit dem Gebäude auseinandergesetzt und kürzlich habe ein Workshop mit Vereinen, Pro Infirmis, Pro Senectute, Anwohnern, Quartiervereinen und Sportlehrern stattgefunden. Im Neubau eingeplant sind zu diesem Zeitpunkt offenbar bereits eine «Unterkunft für Trainingslager» und ein Parkhaus. Das Layout beinhalte «sehr viele kreative Inputs von Ueli Jäger», dem KSS-Geschäftsführer. Zum Schluss der Präsentation zeigt Bernath eine Folie mit dem Titel «Finanzen und Finanzierbarkeit». Darin vergleicht sie eine Sanierung («Optima» kostet nun 37 Millionen Franken) mit einem Neubau, der nur «minim teurer» sei.

Jetzt wird es sogar den Bauunternehmern von der SVP unheimlich. Edgar Zehnder sagt, die Sache mit dem Neubau sei ihm «zu weit fortgeschritten», Markus Leu findet: «Grundsätzlich müssen wir entscheiden, gibt es eine Sanierung oder einen Neubau? Wenn wir nicht abreissen können, dann muss gar nicht über einen Neubau diskutiert werden.» Rainer Schmidig von der EVP verteidigt Bernath und sagt, der eingeschlagene Weg – mit dem Neubau als reale Option – sei der richtige. Jeanette Grüniger (SP) schliesst sich an. «Ich finde es gut, so wie es jetzt aufgegleist ist.» Und Simon Sepan spricht von «sehr schönen Plänen und Vorschlägen.» Nun wird auch Zehnder versöhnlich. «Das Resultat ist gut, der Weg hat mich etwas erschreckt. Wie gehen wir nun weiter?» Parteikollege Markus Leu: «Vollbremse jetzt, bis wir wissen, ob wir das bestehende Gebäude abbrechen dürfen oder nicht.»

Rechtsform? Plötzlich egal.

Nur einen Monat später, im August 2018, kommen die Mitglieder der Baukommission wieder zusammen. Im Gepäck haben sie die Rückmeldungen aus ihren Fraktionen. Und schnell zeigt sich: Von links bis rechts sind alle von der Idee eines Neubaus auf der Breite angetan. So sagt etwa Stephan Schlatter (FDP), der Altbau solle nicht mehr saniert werden. Raphael Kräuchi (GLP) schiebt nach, dass man bei seiner Fraktion der Meinung sei, dass jetzt die Zeit für einen Neubau sei. «Es ist nicht unbedingt ein Luxusbad gewünscht mit allen möglichen Sonderwünschen. Es soll ein bodenständiger Bau werden.» Auch der AL-Vertreter spricht von einem «Neubau ohne Luxus».

Die beiden Baulöwen Zehnder und Leu melden, dass die SVP-Fraktion grundsätzlich einen Neubau unterstützt. Aber sie stellen auch eine rote Linie auf: Wenn die Rechtsform der KSS nicht vorgängig geklärt werde, sei man weder für einen Umbau noch für einen Neubau.

Tatsächlich schiebt die städtische Politik die Frage, wie sich die KSS am besten organisieren soll, damals bereits seit Jahren vor sich her. Im Kern besteht seit der Gründung der KSS 1967 eine Machtdiskrepanz: Die Stadt hat zwar 97 Prozent des Genossenschaftskapitals, aber an der Generalversammlung nur eine Stimme unter hundert. Weil die Politiker aber mehr Mitsprache wollen, wurden im vergangenen Jahrzehnt verschiedene Möglichkeiten diskutiert und verworfen: Die Ratslinke liebäugelt mit der Eingliederung der KSS-Genossenschaft in die Stadtverwaltung, die FDP mit einer Umwandlung in eine gemeinnützige Aktiengesellschaft nach dem Beispiel der VBSH. Die rund 600 Genossenschafter wiederum haben wenig Lust darauf, ihren Einfluss freiwillig an die Politik abzutreten.

An diesem Spätsommerabend im Sitzungszimmer Freudenfels machen die beiden SVP-Kommissionsmitglieder klar, dass sie das Problem nicht länger auf die lange Bank schieben wollen. Auch FDP-Vertreter Schlatter sagt: Wenn die Stadt einen Neubau finanziere, müsse sie zukünftig auch mehr Mitsprache haben. Baureferentin Bernath verspricht, dass die Rechtsform parallel zur Vorlage zum Neubau geklärt werden soll. Doch wie ihr das mit all den widersprüchlichen Forderungen gelingen soll, ist zu diesem Zeitpunkt völlig unklar.

Der Befreiungsschlag gelingt dank einer dicken Spende – und markiert die erste Kehrtwende. Im Mai 2021 spricht die Stadt ein erstes Mal mit der schwerreichen Windler-Stiftung aus Stein am Rhein. Vier Monate später legt der Stadtrat dem Grossen Stadtrat eine Lösung des gordischen Knotens vor: Die KSS soll eine Genossenschaft bleiben, einfach mit «besserer Governance». Das hatte praktische Gründe. Die Windler-Stiftung darf laut Stiftungszweck keine staatlichen Aufgaben übernehmen. Eine Genossenschaft, wie es die KSS immer war, jedoch schon. Um die 30 Millionen Franken der Windler-Stiftung nicht zu verlieren, blieb alles beim Alten, und alle gaben sich damit zufrieden.

Abbruch? Nicht so dringend.

Eine andere rote Linie – das Schicksal des Altbaus – hält sich hartnäckiger. Bis heute steht nicht fest, was mit dem denkmalgeschützten Altbau passieren soll. Im Abstimmungsbüchlein steht lediglich, dass eine Nutzung des alten Hallenbads als Schulraum oder für eine Kita grundsätzlich möglich sei. Mehr ist zur Zeit nicht bekannt.

Dabei haben Politiker von links bis rechts in den vergangenen sechs Jahren klar gemacht, das es für sie nur eine Lösung gibt: den Abriss. Schon an der ersten KSS-Sitzung der Baufachkommission sagte Markus Leu, «es soll alles abgerissen werden.» Ein Jahr später, als eine ermutigte Katrin Bernath ihre ersten Abklärungen zum Neubau der Kommission präsentiert, wird er noch deutlicher: «Wenn wir nicht abreissen können, müssen wir gar nicht über einen Neubau diskutieren.» Auch die FDP erklärt die Zukunft des Altbaus bald zur Schicksalfrage. Stephan Schlatter reicht im Dezember 2019 eine Kleine Anfrage ein, in der er sich über den Stand der Planung informieren will und macht zum Schluss klar: «Wir können sicher nicht einen neuen Bau planen, wenn wir den alten bestehen lassen müssen.» Und als der Grosse Stadtrat im Frühling 2022 den Grundsatzentscheid für den Neubau fällt, sagt SP-Vordenker Matthias Frick über den Altbau: «Der Schandfleck muss weg», alles andere sei Chabis.

Die Frage, wie sinnvoll ein Abriss angesichts der grauen Energie – die Energie also, die etwa im Beton des Altbaus verbaut ist – überhaupt ist, stellt in den ganzen Jahren niemand.

Heute verbreiten die Wahlunterlagen den Eindruck, als ob das Schicksal des Altbaus noch offen sei. Über den Abriss, der von Anfang an als Bedingung für einen Neubau genannt wurde, spricht plötzlich niemand mehr – die zweite 180-Grad-Wende in diesem Projekt. Wie die Protokolle aus der Baufachkommission zeigen, ist diese Kehrtwende vor allem der Taktik von Baureferentin Bernath und Simon Sepan zu verdanken. In der Kommission fällt der Entscheid, dass man über die Abrissabsichten (dafür müsste man den Altbau aus dem Verzeichnis der schützenswerten Kulturdenkmäler streichen) lieber nicht öffentlich sprechen will. Er finde es wichtig, «dass wir die Verknüpfung zwischen Altbau und einem allfälligen Neubau nicht machen», sagt Simon Sepan in der ersten Sitzung des Jahres, «auch im Abstimmungskampf nicht.»

Bernath ergänzt, dass sie bei einem anderen Projekt ein Vorgehen gesehen habe, wie man die Gegner an Bord holen kann: «Man hat sich so geeinigt, dass man sagte, man geht in einen Wettbewerb und lässt offen, ob mit oder ohne Bestand. […] In diesem Sinn haben sich dann jene, die die Interessen für einen Erhalt vertreten haben, damit abgefunden, und gesagt, wenn das beste Projekt eines ist, das verlangt, das Bestehende abzubrechen, dann ist das in Ordnung.»

Etwas umständlich skizziert Bernath hier also einen Plan, wie die Opposition des Heimatschutzes umkurvt werden kann: Den Entscheid zum Altbau so lange zu verzögern, bis er alternativlos scheint. Wo kein Entscheid, da keine Beschwerde.

Die Strategie geht geht auf: Während Heimatschutz, Umweltorganisationen und Politikerinnen sich beim geplanten Abriss des Pflegezentrums Geissberg (vergeblich) querstellen, bleibt der Hallenbad-Neubau unumstritten. Als der Grosse Stadtrat den Grundsatzentscheid für den Neubau fällt, sagt Pierre Nema vom Heimatschutz im November 2022 der AZ: «Es ist positiv, dass die Stadt keinen Vorentscheid für einen Abriss gefällt hat. So können wir weiter über Argumente für einen Erhalt nachdenken.»

Zu diesem Zeitpunkt hat das Projekt also schon einen beeindruckenden Weg hinter sich: Aus einer Sanierung wurde ein Neubau, für den Politikerinnen und Politiker freiwillig Macht aufgegeben und ihre Abrisspläne auf Eis gelegt haben.

Sanierung? Viel zu teuer!

In die schärfste Kurve legen sich die Neubau-Befürworter jedoch erst ganz kurz vor der Abstimmung. Im Abstimmungsmagazin steht: «Eine Sanierung des Altbaus wäre langfristig betrachtet nicht günstiger [als der Neubau] und könnte die heutigen strukturellen Mängel nicht vollständig beseitigen.»

Ein überraschender Satz, wenn man sich die Sanierungsvorlage aus dem Jahr 2017 und die dazugehörigen Kommissionsprotokolle noch einmal vor Augen führt. Vor sechs Jahren war noch von einer Sanierung als «Befreiungsschlag» die Rede, die das Hallenbad «in Zukunft konkurrenzfähig» mache, und die für weniger als 40 Millionen Franken zu haben gewesen wäre. Heute soll ein 80-Millionen-Neubau die günstigere Variante sein. Was hat sich verändert?

Im Interview mit der AZ sagt Bernath heute: «Es sind seither neue Erkenntnisse zum Zustand des Altbaus hinzugekommen. Es gibt Mängel und technische Abhängigkeiten, die man damals noch nicht so genau abschätzen konnte.»

Die Frage, wie teuer denn eine Sanierung – etwa mit der damals teuersten Variante «Optima» – mit den heutigen Erkenntnisse wäre, kann Bernath nicht beantworten. Die Kosten einer Sanierung seien seit dem Entscheid für einen Neubau nicht mehr genau nachberechnet worden.

Dass aus der Sanierung ein «Neubau ohne Luxus» und schliesslich ein 80-Millionen-Megaprojekt wurde, hat mit einer ganz speziellen Konstellation von Figuren zu tun: Da war die ehrgeizige Neu-Baureferentin, der bürgerliche Sparer die Fesseln abgenommen haben; dann gab es zwei Bauunternehmer, die wissen, welche Hebel man für Grossprojekte in die Hand nehmen muss; und es traten Linke auf den Plan, die potentielle Gegnerinnen von Beginn weg im Auge hatten und, wenns hart auf hart kam, gar nicht so sehr an Bauökologie – oder dem Erhalt von Bausubstanz – interessiert waren. Plötzlich entstand eine Dynamik, die alle dazu brachte, ein paar wilde Schwünge auf der realpolitischen Slalompiste zu vollführen. Plötzlich waren alle bereit, auch ein paar selbst gezogene rote Linien zu überfahren.

Und plötzlich fiel es auch nicht mehr so ins Gewicht, wenn dafür die Realität ein wenig zurechtgebogen werden musste.