Eingeknickt

3. November 2023, Marlon Rusch
Bild: Robin Kohler

Der unfreiwillige Rückzug von FDP-Ständeratskandidatin Nina Schärrer hat eine ­spektakuläre Kaskade des Zerfalls eingeleitet. Die Parteichefs überschätzen die Macht der Macht.

Schaffhausen wurde in den vergangenen elf Tagen Zeuge verblüffender Ereignisse. Der Freisinn war zu den Ständeratswahlen angetreten, um einen «Generationenwechsel» einzuläuten. Stattdessen konnte man der Partei dabei zusehen, wie sie in aller Öffentlichkeit in ihre Einzelteile zerfiel. Hinter den Kulissen liess sich die FDP von der SVP zuerst dominieren und dann ködern. Nun steht sie nicht nur vor einem Scherbenhaufen – sondern vor der «Schlacht aller Schlachten».

Sonntag, 22. Oktober Am Wahltag überholt SP-Ständeratskandidat Simon Stocker zur allgemeinen Überraschung den parteilosen Thomas Minder, der seit zwölf Jahren in der SVP-Fraktion des Ständerats politisiert. Noch am selben Tag kommuniziert die FDP-Kandidatin Nina Schärrer in einer Medienmitteilung, sie werde als Drittplatzierte im zweiten Wahlgang noch einmal antreten, um «eine Auswahl zwischen zwei bürgerlichen Kandidaten zu ermöglichen». Dieser Entscheid war bereits zehn Tage zuvor mit der FDP-Parteileitung um Präsident Urs Wohlgemuth abgesprochen worden, der ihr «vollste Unterstützung» zugesagt hatte. 

Es ist ein starkes Zeichen. Die FDP meint es also ernst mit ihrer Kandidatin Nina Schärrer. Die junge Frau soll für grosse Aufgaben aufgebaut werden – und mit ihr soll auch die kriselnde FDP selber wieder ein Profil bekommen.  

Montag, 23. Oktober Aus den Reihen der SVP kommt erster Widerspruch. Der 76-jährige Wüterich Walter Hotz etwa fordert die 36-jährige FDP-Frau im Radio Munot dazu auf, ihre Kandidatur zugunsten des 62-jährigen Thomas Minder zurückziehen.

Die SVP und die FDP hatten für die Nationalratswahlen eine Listenverbindung, die FDP half SVP-Mann Thomas Hurter, seinen Sitz zu verteidigen. In den Ständeratswahlen jedoch unterstützte die SVP nur ihren eigenen Kandidaten Hannes Germann, FDP-Frau Nina Schärrer empfahl sie nicht. 

Nun klammern sich die Rechten, allen voran Thomas Minder selber, an ein Schlagwort, das fortan die Debatte bestimmen sollte: «ungeteilte Standesstimme». Oberstes Ziel müsse es sein, zwei Bürgerliche in den Ständerat zu entsenden. Und da Thomas Minder bessere Chancen als Nina Schärrer habe, einen SP-Ständerat Simon Stocker zu verhindern, müssten sich nun alle Bürgerlichen hinter Minder scharen. Im zweiten Wahlgang soll das politische Profil der Kandidierenden also keine Rolle mehr spielen. Aus dem Ideenwettbewerb soll ein reiner Machtkampf werden.  

Nina Schärrer postet derweil auf Instagram ein Foto, das zeigt, wie sie in einer roten Regenjacke bei strömendem Regen neue Plakate für den zweiten Wahlgang aufhängt. Dazu schreibt sie: «Hier plakatiert die Kandidatin noch selbst.»

Dienstag, 24. Oktober Am Abend treffen sich Nina Schärrer, Thomas Minder, Vertreter der SVP sowie Raphaël Rohner und Martin Egger von der FDP zu einer Sitzung, an welcher das weitere Vorgehen besprochen wird. Rohner und Egger sind von Parteipräsident Urs Wohlgemuth delegiert worden, vorübergehend die Geschicke der FDP zu leiten. Wohlgemuth selber ist am Vortag in die Ferien verreist. 

An diesem Abend lässt sich die FDP von der SVP für deren Machtpolitik vereinnahmen. Später sollte Egger gegenüber der AZ sagen, das oberste Ziel dieser Sitzung sei von Anfang an gewesen, einen Weg zu finden, wie der bürgerlichen Sitz im Ständerat gesichert werden könne. Ihn persönlich, so Egger, koste es «wahnsinnig viel Überwindung», Thomas Minder zu wählen. 

Mittwoch, 25. Oktober Am Morgen verschickt Nina Schärrer eine zweite Medienmitteilung, in der sie bekannt gibt, sie ziehe sich nun doch aus der Ständeratswahl zurück. Gleichzeitig macht sie klar, dass sie diesen Schritt nicht freiwillig tut: «Ich bin nach wie vor überzeugt davon, dass Schaffhausen eine junge, weibliche und liberale Vertretung in Bern guttun würde. […] Persönlich kann ich nicht hinter dem Entscheid stehen, Thomas Minder somit den Weg für eine weitere Amtsperiode zu ebnen. Denn unsere Positionen und unsere Art des Politisierens unterscheiden sich oft massiv.» Die Reaktionen, welche diese Mitteilung auslösen sollte, wird zeigen: Indem sich die Delegation der FDP bereit erklärt hat, die Kröte Minder zu schlucken, hat sie etwas verspielt, das die Parteibosse bis anhin offenbar nicht in ihre Überlegungen einbezogen haben – die Sympathien der Menschen.

Donnerstag, 26. Oktober Am Morgen erscheint in der AZ ein Kommentar, der besagt, die FDP habe «einmal mehr den Bückling vor der SVP gemacht und dabei ihre eigene Zukunftshoffnung geopfert». Am Abend wird online im Tages Anzeiger ein Text mit dem Titel «Nina Schärrer muss sich für ihren Rivalen opfern» veröffentlicht. Unterzeile: «Jung, weiblich und liberal: Die FDP-Kandidatin Nina Schärrer gibt ihrer Partei ein starkes Profil. Doch die Schaffhauser Freisinnigen sägen sie kurz vor dem zweiten Wahlgang ab.» Schärrer sagt im Artikel, Minder fehle «die Demut, einer jungen Frau Platz zu machen im Sinne der Sache». 

Die GLP teilt derweil in einem Communiqué mit, dass sie im zweiten Wahlgang den SP-Kandidaten Simon Stocker zur Wahl empfiehlt. Die Enttäuschung und das Unverständnis über den Entscheid der FDP Schaffhausen seien gross, so Parteipräsident Christoph Hak. Und selbst die FDP-Jungpartei teilt mit, man habe angesichts des erfrischenden Wahlkampfs von Nina Schärrer «umso überraschter» zur Kenntnis genommen, dass diese nicht mehr antreten werde. Die Jungfreisinnigen schreiben, sie hätten für den zweiten Wahlgang eine Stimmfreigabe beschlossen.

«Bürgerlicher Schulterschluss»: Am Wahlsonntag schmiegt sich FDP-Präsident Urs Wohlgemuth an SVP-Präsidentin Andrea Müller. Bild: Robin Kohler

Freitag, 27. Oktober Als der Artikel mit einem grossen Bild einer trotzigen Nina Schärrer auf Seite 2 des gedruckten Tages Anzeigers erscheint, wirkt es, als sei die Politnewcomerin auf bestem Weg, zu einer politischen Märtyrerin zu werden, die sich zu Gunsten eines Mannes opfern musste, der immer unbeliebter wird. In verschiedenen Medien sind im Vorfeld des ersten Wahlgangs kritische Porträts von Thomas Minder erschienen. Die AZ etwa hat das Bild eines cholerischen Einzelgängers gezeichnet, der sich nicht für die Anliegen der Menschen interessiert (siehe «Der Selbstgerechte», Ausgabe vom 28. September). 

An diesem Freitag erscheinen in den Schaffhauser Nachrichten denn auch erste Zuschriften von Leserinnen und Lesern, die darüber empört sind, wie mit der erfrischenden Kandidatin umgegangen wurde. Es ist der Anfang einer Leserbrieflawine, wie sie in Schaffhausen schon lange nicht mehr niedergegangen ist.

Im bisherigen Wahlkampf hat Nina Schärrer wenig Akzente setzen können und ist inhaltlich blass geblieben (siehe «Die grosse Unbekannte», AZ vom 21. September 2023). Mit der flapsigen Aussage, arme Leute müssten angesichts der steigenden Preise eben mehr Kartoffeln kaufen, hat sie sich nicht nur dem Spott der linken Jungparteien ausgesetzt. Jetzt hat sie sich in Windeseile zur allgemeinen Sympathieträgerin gewandelt, zum Symbol für den Widerstand gegen einen verkrusteten, reaktionären Altherrenclub. Fragt sich nur: Wer kann davon profitieren? 

Samstag, 28. Oktober In seinem Wochenkommentar beweist Robin Blanck, der SVP-nahe Chefredaktor der Schaffhauser Nachrichten, dass er das Machtspiel der SVP nicht mitspielen will. Die SN und Minder verachten sich gegenseitig, seit die Tageszeitung im Ständeratswahlkampf 2011 den FDP-Mann Christian Heydecker gegen Minder unterstützt hat. Nun schreibt Blanck über Minder: «Natürlich gehören Angriffe zum Wahlkampf, aber eine Mitbewerberin derart süffisant und herablassend zu diskreditieren, zeugt von seltener Arroganz. Doch nicht einmal solch ein öffentlicher Angriff auf Schärrer motivierte bei Parteikollegen der FDP Kräfte – etwa Kräfte des Widerspruchs, des Trotzes oder zumindest des Anstands.» Der Freisinn habe sich «leider öffentlich demontiert». Deshalb, so Chefredaktor Blanck, empfehlen die SN auch im zweiten Wahlgang Nina Schärrer.  

In derselben SN-Ausgabe tritt das «Liberale Komitee für Simon Stocker» erstmals mit einem grossen Namensinserat in Erscheinung. Unterschrieben haben es unter anderem auch altgediente Freisinnige wie Eduard Joos, Noldi Marti oder Thomas Hauser. Hier zeigt sich eine Bruchlinie, die schon länger existiert: Der alte Freisinn ist unzufrieden mit der neuen FDP, die mit ihrer Kleinkrämerei und dem ewigen Feilschen um einzelne Parkplätze immer mehr von ihrer einstigen Grandezza einbüsst. In Nina Schärrer, die im Wahlkampf dafür einstand, dass die FDP die Welt auch aktiv mitgestaltet, sahen die alten Granden den dringend nötigen Aufbruch. Umso mehr sind sie enttäuscht, dass die Zukunftshoffnung dem Machtanspruch der SVP geopfert wird. 

Sonntag, 29. Oktober Die Sonntagszeitung titelt «FDP schlittert in eine Zerreissprobe – wegen der SVP» und schreibt darüber, dass sich die FDP in mehreren Kantonen selber «zerfleischt». Das trotzige Bild von Nina Schärrer ist online bereits zum zweiten Mal in einer nationalen Tamedia-Zeitung zu sehen. Auf Facebook schreibt Schärrer derweil: «…und wer aus welchem Grund auch immer weder Stocker noch Minder auf seinen/ihren Wahlzettel schreiben möchte: Jede Stimme für mich (auch im 2. Wahlgang) ist ein Zeichen für mehr moderne, weibliche und liberale Politik <3».

Montag, 30. Oktober Die bürgerliche EVP teilt in einer Medienmitteilung mit, dass sie im zweiten Wahlgang SP-Mann Simon Stocker empfiehlt. Das Argument der «ungeteilten Standesstimme» könne nicht nachvollzogen werden. In der Zwischenzeit sind «zahlreiche Parteimitglieder» aus der FDP ausgetreten, wie ein Vorstandsmitglied gegenüber der AZ bestätigt. Einer von ihnen ist Hansruedi Schuler, der bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2020 16 Jahre lang Gemeindepräsident von Beringen war. 

Derweil präsentiert die SVP der FDP einen weiteren Köder. Gemäss Angaben von Martin Egger findet an diesem Montagabend eine SVP-Parteiversammlung statt. Nach Eggers Informationsstand wird dort bestätigt, dass sowohl Hannes Germann als auch Thomas Minder in vier Jahren nicht mehr zur Wahl antreten werden, falls jetzt die Wiederwahl von Minder gelingt. Somit wäre der Weg frei für einen weiteren bürgerlichen Schulterschluss mit je einem Kandidierenden aus der SVP und der FDP. Es sind einige Konjunktive, an denen sich der inoffizielle temporäre FDP-Chef Egger festhält, wenn er sagt, dieses Szenario bestätige einmal mehr: «Wenn wir nicht zu einem Dorfverein absteigen wollen, müssen wir in den sauren Apfel beissen.»

Dienstag, 31. Oktober In den SN gibt Peter Fischli, der Präsident der FDP Neuhausen, ein Interview, in dem er sagt, dass die Neuhauser FDP zu Nina Schärrer stehe und er seine eigene Kantonalpartei nicht mehr verstehe. Diese sei nach dem ersten Wahlgang ausserdem gar nicht legitimiert gewesen, den Entscheid von Schärrers Rückzug zu fällen. Mit dieser Haltung ist Fischli nicht allein. Dass nicht eine ordentliche Parteiversammlung über den weiteren Verbleib der Kandidatur Nina Schärrers abstimmen konnte, bezeichnet FDP-Thomas Hauser von der Stadtsektion etwa als «demokratiepolitischen Wahnsinn». 

Auf Instagram postet Nina Schärrer an diesem Dienstag derweil ein Bild eines Minder-Plakats in Neuhausen und schreibt dazu: «Warum ich euch das zeige? Weil der hier … [Bild des Plakatständers] … der FDP Neuhausen gehört. Ohne unser Wissen oder unsere Einwilligung wurden an verschiedenen Orten in Neuhausen und auch der Stadt Schaffhausen Plakate eines anderen Kandidaten an die FDP-Ständer gehängt. Teilweise wurden dazu sogar meine Plakate entwendet. So geht Wahlkampf (nicht).»

Am Telefon beschwichtigt Nina Schärrer gegenüber der AZ ein wenig und sagt, in der FDP finde derzeit eine Wertedebatte statt. Was sie nicht sagt, aber vermutlich denkt: Es ist diese Wertedebatte, welche die Partei wohl besser vor zehn Tagen geführt hätte. «Manchmal braucht es eben einen heilsamen Chlapf», sagt sie zum Abschied.

Mittwoch, 1. November Die SN berichten darüber, dass Schärrers Plakatständer ohne Absprache mit Minders Plakaten bestückt wurden. Minders Wahlkampfleiter distanziert sich auf Anfrage von der Umplakatierung und sagt: «Wir überkleben Schärrers Plakate offiziell nicht.»

Am Abend findet auf Antrag der städtischen FDP-Sektion eine ausserordentliche Parteiversammlung statt. Traktandiert ist die Wahlempfehlung für den zweiten Wahlgang. Die Versammlung findet nach AZ-Redaktionsschluss statt und der Geschäftsführer der Partei hat bereits angekündigt, dass die Medien lediglich bei der Begrüssung und der Wahl des Tagespräsidenten (Wohlgemuth ist immer noch in die Ferien) und der Stimmenzähler willkommen sind. Dass die Debatte hitzig wird, dürfte jedoch bereits feststehen.

Peter Hartmeier etwa, ehemaliger Chefredaktor des Tages Anzeigers und Kommunikationschef der UBS, sagt, er werde nach längerer Zeit wieder eine Parteiversammlung besuchen: «Für mich ist Minder kein Wirtschaftsvertreter. Er ist das Gegenteil eines liberalen, freisinnigen, gebildeten und zuversichtlichen Menschen.»

Katrin Hauser-Lauber, ehemalige FDP-Grossstadträtin und Stadtschulrätin, sagt: «So können wir nicht mit Frauen umspringen. Ich hätte wahnsinnig gern eine Frau unterstützt im Ständerat. Und Minder geht gar nicht.» Sie erwartet an der Versammlung eine Erklärung, wer am Rückzug von Nina Schärrer Schuld sei.

Und eine Erklärung wird sie auch bekommen. Martin Egger klingt am Telefon einerseits völlig verzweifelt angesichts der sich überschlagenden Ereignisse. Andererseits fühlt er sich missverstanden. Gelinge es nicht, am 19. November den bürgerlichen Sitz von Thomas Minder zu halten, habe die FDP in den nächsten zwanzig Jahren keine Chance mehr auf ein höheres Mandat, sagt er. Dann werde die FDP immer mehr Mitglieder an die SVP, die GLP und die SP verlieren. Für Egger ist klar: Dieser zweite Wahlgang ist «die Schlacht aller Schlachten». 

Eine Siegerin dieser Schlacht dürfte bereits feststehen: Nina Schärrer. 

Nachtrag: Am Mittwochabend entscheidet die FDP an ihrer Parteiversammlung nach hitziger Diskussion, dass sie im zweiten Wahlgang Thomas Minder unterstützt.