Kurs: unklar

30. Oktober 2023, Luca Miozzari

Ein Verein will ein Dampfschiff bauen. Doch niemand will es in seinem Hafen.

Ende September ging im Kantonsrat ein politischer Vorstoss ein, der klingt, als wäre er über hundert Jahre alt: Die Regierung solle den Bau eines Dampfschiffes unterstützen. Es ist der Höhepunkt eines Projekts, das vor 15 Jahren begann und nun gleichzeitig kurz vor dem Ziel als auch kurz vor dem Abbruch steht.

Doch wir müssen etwas früher beginnen, nämlich am 24. Mai 1967. Die «Schaffhausen» fährt ein letztes Mal den Rhein aufwärts. Noch einmal knickt sie vor der Brücke in Stein am Rhein den Kamin ein und richtet ihn danach wieder auf, auf Deck stossen Menschen wehmütig an. Der einst so stolze Raddampfer ist verrostet und heruntergekommen, er wurde vernachlässigt zugunsten der neuen Dieselschiffe «Munot» und «Stein am Rhein». Die beiden grössten Aktionäre der Schifffahrtsgesellschaft, die Kantone Schaffhausen und Thurgau, wollen die veraltete Technologie hinter sich lassen. In Romanshorn wird die «Schaffhausen» am Ende ihrer Abschiedsfahrt ausgeweidet und verschrottet. Der letzte Raddampfer verschwindet vom Rhein.

Und wird zum Märtyrer.

Auf dem Vierwaldstättersee, auf dem Zürichsee und anderen Schweizer Gewässern bilden sich in der Folge Gesellschaften von Dampferfreunden. Sie haben gesehen, was mit der «Schaffhausen» passiert ist, und retten einen Grossteil der verbleibenden Dampfschiffe davor, dasselbe Schicksal zu erleiden.

40 Jahre später, im Oktober 2008, stellt sich der Schaffhauser Kantonsschullehrer und FDP-Mann Eduard Joos ans Rednerpult des Kantonsrats und verkündet: «Heute stehe ich vor Ihnen in der Hoffnung, dass die Kantone Thurgau und Schaffhausen ihren damaligen Entscheid durch eine noble Geste wiedergutmachen.» Joos will eine neue «Schaffhausen» bauen lassen, er habe sogar eine funktionstüchtige Dampfmaschine zur Verfügung, die man einfach einbauen könnte, sagt er. Der Kantonsrat stimmt einer Machbarkeitsstudie zu. Wiederum vier Jahre später scheint der Dampf bereits wieder entwichen zu sein. Zwei Studien, von der Schifffahrtsgesellschaft Untersee und Rhein (URh) einerseits und den Kantonen Schaffhausen und Thurgau andererseits kommen zu sehr unterschiedlichen Schlüssen. Eine besagt, ein neuer Raddampfer wäre ein Publikumsmagnet und ausserdem emissionsarmer als Dieselschiffe, die andere behauptet das Gegenteil. Die URh will das Risiko nicht eingehen und erteilt dem Projekt eine Absage, der Kantonsrat schreibt Joos’ Postulat ab.

Doch Eduard Joos gibt nicht auf. Zusammen mit Dampferfreunden aus dem Thurgau gründet er 2012 den Verein Pro Dampfer. Bereits am ersten Tag treten 186 Menschen bei, innert eines Jahres steigt die Mitgliederzahl auf 1000, zur Finanzierung des Projekts gründen sie eine Aktiengesellschaft. Der Verein organisiert sich in Arbeitsgruppen, holt Ingenieure und andere Experten ins Boot und plant ein Dampfschiff, das aussieht wie die «Schaffhausen», aber modernen Anforderungen genügt. Mit Pelletfeuerung, elektrischem Hilfsantrieb und einer Sicherheitsvorrichtung, die verhindert, dass Gummiböötler ins Schaufelrad geraten. Mittlerweile existieren dutzende Studien, ein im Strömungskanal getestetes Modellschiff und ziemlich detaillierte Baupläne.

Der jüngste Coup ist Pro Dampfer im Frühsommer dieses Jahres gelungen. Der Kanton Thurgau hat seine Kantonalbank teilprivatisiert und mit dem Erlös einen Projektfonds gespiesen. Mit über 70 Prozent Ja-Stimmen hat die Thurgauer Stimmbevölkerung im Juni bestätigt: Pro Dampfer ist eines der 20 Projekte, die unterstützt werden sollen. Und zwar mit 3,13 Millionen Franken. Zwei Millionen Franken haben Verein und AG bereits selbst gesammelt. Ausserdem ist es nicht unwahrscheinlich, dass auch vom Kanton Schaffhausen ein Zustupf kommt, dazu später mehr. Rechnet man mit Krediten und zusätzlichen Grossspenden – Pro Dampfer hat viele und finanzkräftige Fans – könnte man die «Schaffhausen» also bald wieder auferstehen lassen. Kostenpunkt: Rund 12 Millionen Franken.

Das Problem: Es wäre ein Schiff ohne Hafen.

Der Rheindampfer, bereits in schlechtem Zustand, auf einer seiner letzten Fahrten 30.06.1965.

Niemand will ins Dampfboot

Das erklärte Ziel des Dampfervereins: Die neue «Schaffhausen» soll wie ihre Vorgängerin auf Rhein und Untersee im Linienbetrieb verkehren. Als Teil der Flotte der URh. Die URh stand dem Projekt aber von Anfang an kritisch gegenüber. Eduard Joos erreichte durch geschicktes Lobbying einst, dass eine gemeinsame Planungsgruppe aus URh und Verein gegründet wurde. Und 2015 unterschrieben die Parteien sogar eine gemeinsame Absichtserklärung. Die URh erklärte sich bereit, den Dampfer zu betreiben, allerdings nur, «sofern nach Auffassung der URh die wirtschaftlichen und betrieblichen Verhältnisse es zulassen.» Später hat sich offenbar herausgestellt, dass die Verhältnisse ungünstig sind.

Nach dem 3-Millionen-Coup des Vereins im Frühling äusserte sich URh-Geschäftsführer Remo Rey explizit ablehnend. «Wir wollen schlanke Strukturen, eine Solitärlösung verteuert unseren Betrieb und ergibt deshalb keinen Sinn», sagte er im Sommer gegenüber der Thurgauer Zeitung. Die URh plane, ihre gesamte Flotte mit Elektromotoren auszustatten. Eine zweite Antriebstechnologie würde zu hohen Personal- und Unterhaltskosten führen.

Die Absage der URh stellt den Dampferverein vor ein grosses Problem. Denn um selbst einen Linienbetrieb auf die Beine zu stellen, fehlen ihm die Ressourcen. Dazu braucht es unter anderem eine Werft, eine Crew und auch eine Konzession vom Bund.

«Solange der Betrieb nicht geklärt ist, macht es keinen Sinn, weiterzuplanen», sagt Raimund Hipp. Der Geograf aus Steckborn ist seit 2018 Präsident des Vereins Pro Dampfer. Er ist noch relativ neu in der Dampferszene und wenn er spricht, hört man viel weniger Nostalgie heraus als bei seinem Vorgänger, der dabei war, als in Konstanz die Verschrottung der «Schaffhausen» beschlossen wurde, und die Anekdote gerne und oft erzählt.

Unter Hipps Ägide hat der Verein begonnen, sich stärker ökologisch, nachhaltig und innovativ darzustellen. Tradition scheint mittlerweile nicht mehr an höchster Stelle zu stehen. Das betrifft auch die Beziehung zu URh.

Raimund Hipp sagt, der Vereinsvorstand werde nun prüfen, ob ein Betrieb ohne URh möglich sei. «Uns ist wichtig, dass es ein Schiff ist, in das Grossväter mit ihren Enkelkindern auch einmal spontan einsteigen können. Wir wollen keinen reinen Charterbetrieb wie beim Dampfschiff Hohentwiel, wo man im Voraus buchen muss.»

Die Partner, die infrage kämen, lassen sich an einer Hand abzählen. Einerseits gibt es die Historische Schifffahrt Bodensee (HSB) in Hard bei Bregenz, die das eben erwähnte Dampfschiff Hohentwiel betreibt. Und andererseits die beiden teilstaatlichen Bodensee-Schiffahrtsgesellschaften auf der deutschen und der Schweizer Seite.

Auf Anfrage der AZ sagen Benno Gmür, Geschäftsführer der Schweizerischen Bodensee-Schifffahrt (SBS) und der HSB (Betreiberfirma der Hohentwiel) in Personalunion, wie auch Josef Siebler von den deutschen Bodensee-Schiffsbetrieben (BSB); der Betrieb des Pro-Dampfer-Dampfers komme für sie nicht infrage. «Wir stehen dem Ansinnen ähnlich kritisch gegenüber wie die Kollegen von der URh», so Siebler. Dampfschiffe seien «nostalgische Liebhaber-Objekte», die nicht wirtschaftlich zu betreiben seien. Benno Gmür, dessen Firma selbst ein altes Dampfschiff betreibt, wird noch etwas expliziter: Der neue Dampfer sei eine «Geldvernichtungsmaschine», sagt er. Er biete gerne Hand beim Bau des Dampfschiffes in der Werft oder bei der Ausbildung von spezialisiertem Dampfer-Personal, so Gmür. Aber ein Linienbetrieb mit dem Neubau-Dampfer sei «unmöglich zu finanzieren».

Präsident Hipp hat also Geld, aber keinen Partner.

Die "Schaffhausen" am Salzstadel

Kann man die URh zwingen?

«Für mich kommt nur die URh als Betreiberin infrage», sagt Eduard Joos, der sich in der Zwischenzeit aus dem Kantonsrat und als Ehrenpräsident aus dem Tagesgeschäft des Vereins zurückgezogen hat. Für ihn ist das neue Dampfschiff weniger eine ökologische Neuerung, als die Wiederherstellung eines vergangenen Zustandes. Die «Schaffhausen» gehört in Joos’ Vorstellung zurück in ihren Heimathafen, zur URh, wie es vor 50 Jahren war. Und anders als Hipp hat er die Hoffnung noch nicht aufgeben, dass die URh ihren Kurs noch korrigiert. Oder korrigieren muss.

Dieser Ansicht ist auch Matthias Freivogel, Jurist, SP-Kantonsrat und Pro-Dampfer-Gründungsmitglied oder «Altdampfer», wie er sich nennt. Als Kind habe er sämtliche Schiffe der URh am Ton erkennen können, sagt er, den Raddampfer «Schaffhausen» am Rauschen der Schaufelblätter, die knurrende «Munot» und die stampfende «Stein am Rhein». Er ist Gründungsmitglied des Vereins Pro Dampfer. Anfang September hat er im Kantonsrat ein Postulat eingereicht, das den Regierungsrat auffordert, «eine namhafte finanzielle Mitbeteiligung des Kantons Schaffhausen» an den Bau des Dampfers zu prüfen, und damit mit dem Kanton Thurgau «gleichzuziehen». In einer entsprechenden Vorlage sollen ausserdem «die Möglichkeiten bzw. Modalitäten für den Unterhalt und Betrieb eines solchen Schiffes aufgezeigt werden.»

Dieser zweite Teil ist entscheidend. Matthias Freivogel und Eduard Joos, der sämtliche Kantonsräte und Fraktionen angeschrieben und sich als Auskunftsperson angeboten hat, geht es nicht primär ums Geld. Sondern um den Druck auf die URh. «Ich glaube, dass die URh ein solches Schiff schon betreiben und unterhalten wird, wenn es ein klares Zeichen aus der Politik gibt, dass es angeschafft werden soll. Dann müsste die URh dem Willen der öffentlichen Hand sicher nachkommen», sagt Matthias Freivogel.

Die Kantone Schaffhausen und Thurgau halten gemeinsam rund einen Drittel der Aktien der URh.

Bis auf je eine Unterschrift der Jungen Grünen und der GLP stehen unter dem Postulat bisher ausschliesslich Namen aus der SP-Fraktion. Freivogel sagt, er habe vereinzelte Bürgerliche angefragt, sie hätten sich aber eher skeptisch geäussert.

SVP-Fraktionspräsident Martin Schlatter sagt, der «Grobtenor» in der Fraktion zum Dampferpostulat sei «eher ablehnend». Man werde Eduard Joos aber auf jeden Fall zu einer Fraktionssitzung einladen.

Abschreiben kann man den Vorstoss keinesfalls. Mit Eduard Joos hat er einen bürgerlichen, gut vernetzten Fürsprecher, der schon einmal ein ganzes Parlament im Alleingang von seiner Dampferidee überzeugt hat. Zu einer Zeit, als es noch nicht klar war, ob es überhaupt möglich ist, einen modernen Dampfer zu bauen.

Allerdings dürfte das Postulat frühestens im kommenden Frühling, wenn nicht erst im Sommer, behandelt werden. Und vielleicht ist es dann bereits zu spät.

Ein unbekannter Mann auf dem Unterdeck der "Schaffhausen", Aufmahme datiert auf den 15.6.1958.

Die Vertrauensfrage

Raimund Hipp will die Abklärungen zu alternativen Betriebsmodellen ohne URh noch diesen Winter abschliessen und im Frühling an der nächsten Jahresversammlung darüber informieren. Er spricht von einer «Vertrauensfrage», der er sich stellen will. «Wir müssen entscheiden, ob wir mit dem Projekt überhaupt weitermachen oder nicht.»

Mit grosser Wahrscheinlichkeit dürfte die Auswahl im Frühling lauten: Aufhören oder ausharren und hoffen, dass die URh einlenkt beziehungsweise eingelenkt wird. Die Option Aufhören dürfte nach über zehn Jahren Arbeit und hunderttausenden investierten Franken einen schweren Stand haben.

Doch auch das Ausharren hat eine Frist. Spätestens in fünf Jahren muss das Schiff gebaut werden, ansonsten verfällt der Beitrag aus dem Thurgau. Dann wird es noch viel schwieriger.

Das Dampferprojekt war noch nie so nah am Zielhafen. Und doch droht es nun auf Grund zu laufen.