Flachsmann tritt ab

11. Oktober 2023, Xenia Klaus
Bild: Robin Kohler

Ein Winterthurer führte 10 Jahre lang einen Schaffhauser LGBTQ-Verein. Mit seinem Abtritt steht «Queerdom» vor dem möglichen Untergang.

An einem frühen Abend Ende August 2008 stieg Daniel Flachsmann in Winterthur in die S33, überquerte die Kantonsgrenze und stieg in Schaffhausen wieder aus. Er war ein schüchterner Teenager und an dem Abend war er ausserdem nervös. 

Einige Stunden später legte Flachsmann den umgekehrten Weg zurück. Die Nervosität war verflogen, an ihrer Stelle pumpte pure Begeisterung durch Flachsmann. Und Erleichterung. In Winterthur nahm er so den Weg zur elterlichen Wohnung unter die Füsse, er war gerade volljährig geworden und wohnte noch dort. Dann tat Flachsmann etwas für ihn Atypisches: Er war spontan. Ohne gross darüber nachzudenken sagte er seinen Eltern, dass er schwul ist. 

Wenige Wochen darauf wurde aus dem «les-bi-schuwlen Stammtisch» in der Karstbar, an den sich Flachsmann an jenem Abend gesetzt hatte, der Verein «Queerdom». Flachsmann war von Anfang an Mitglied, 2013 wurde er Präsident. Seither sind Flachsmann und Queerdom zu einer Einheit geworden. Sie teilen die Stärken. Und die Schwächen. 

Jetzt tritt Flachsmann nach einem Jahrzehnt ab. Und dem aktivsten LGBTQ-Verein in Schaffhausen, einst nannte ihn der Lappi einen der aktivsten in der Schweiz, droht damit das Aus. 

Der Planer

Daniel Flachsmann ist der Typ Mensch, der einem als ersten Eindruck das Gefühl vermittelt, ihn vor den Gemeinheiten dieser Welt schützen zu müssen. Er wirkt deckungslos. Er steht da, überpünktlich, mit hängenden Armen, ohne Handy in der Hand, null bemüht, cooler oder beschäftigter auszusehen, als er eben aussieht, und blickt vertrauensselig in die Welt.

Vielleicht rührt das von einer behüteten Kindheit her. Flachsmann wurde in Winterthur geboren und ist ebenda aufgewachsen. Sein Vater war Verkäufer, die Frage, ob die Mutter zuhause blieb, beantwortet er mit: «Ja, sie hat die Care Arbeit gemacht.» In der Sek wurde Flachsmann klar, dass er auf Männer steht. Während der Kochlehre begann er, über ein Outing nachzudenken. Er wollte hören, wie es anderen in der Situation erging, und sah sich nach einem Angebot um, bei dem man sich niederschwellig austauschen könnte. In Winterthur fand er: nichts. In Zürich fand er: nichts, was ihm sympathisch war. In Schaffhausen fand er den Stammtisch. 

Flachsmann wohnt auch heute noch in Winterthur, länger woanders war er nie. Bis auf drei grosse Reisen und eine Wintersaison in einer Küche in Arosa. Queerdom hat er über die Kantonsgrenze hinweg geleitet. Daneben war sein grösstes Hobby in den letzten Jahren «Geocaching», eine Art Schatzsuche mit GPS-Geräten. 

Heute bezeichnet er sich gegenüber Personen, die er neu kennenlernt, meistens als queer. Er mag den halbtransparenten Schleier, den der Begriff anbietet. Man kann sich einer Gemeinschaft zuordnen, ohne dass man explizit sagen muss, mit wem man denn jetzt eigentlich so schläft. Und er gebe dem Gegenüber die Möglichkeit, nachzufragen. So komme man ins Gespräch, sagt Flachsmann. Und im Gespräch könne man die Menschen bilden.

Dass der Stammtisch ihn damals zu einem spontanen Outing bewegen konnte, ist so etwas wie ein kleines Flachsmannsches Wunder. Keinen Plan zu haben, hält er im Normalfall fast nicht aus. Planänderungen stressen ihn. Er mag das Chaos nicht. Ungenauigkeit nervt ihn. «Es wäre schön, die Dinge mehr nehmen zu können, wie sie kommen», sagt er über sich selber. 

Dabei kann Flachsmann genau das in manchen Fällen sehr gut. In seinen Präsidial-Jahrzehnt sind am laufenden Band Regenbogenfahnen verschwunden. «Vielleicht verbrennt sie jemand. Vielleicht findet sie jemand schön und hängt sie ins Wohnzimmer.» Flachsmann weiss es nicht. Also regt er sich nicht auf. Wenn das Chaos von ausserhalb in sein Leben sickert, antwortet er, indem er seinen Einflussbereich in aller Seelenruhe wieder ordnet. Er bestellt neue Fahnen und beflaggt von neuem. Immer wieder. 

Während Flaggen verschwanden, tauchten Mitglieder auf. Unter Flachsmanns Ägide ist die Mitgliederzahl von Queerdom auf aktuell 42 gewachsen. Das ist ein Rekord, sagt er. Aber: Es ist niemand darunter, der ihn und das weitere Vorstandsmitglied, das zurücktritt, ablösen will. Schon wieder nicht. Bereits vor einem Jahr stand der Verein kurz vor dem Aus, bevor sich schliesslich doch noch Freiwillige fanden. Sollte das nun nicht mehr geschehen, werde man die Regenbogenfahnen ziemlich sicher einrollen und den Verein schliessen. 

Die Not, neue Vorstände zu finden, hat vielleicht mit einer Welt zu tun, in der Vereine an Stellenwert verloren haben. Vielleicht hat sie auch mit einer Welt zu tun, die etwas näher an die Gleichstellung von LGBTQ-Personen herangekrochen ist. Vielleicht hat sie aber auch mit Queerdom selber zu tun. 

Bowling, Wandern, Minigolf

Flachsmann ist mittlerweile 33 Jahre alt und liegt damit 14 Jahre unter dem Vereinsschnitt von 47. Der Jahresbericht von Queerdom liest sich wie jener eines etwas spiessbürgerlichen Vereins: Mitgliedertreff in der Fassbeiz, Technorama-Besuch, Herbstwanderung, 10. Ausgabe des Minigolfturniers, Pétanque-Plauschturnier, Escape Room, Weihnachtsessen mit Bowlingplausch. Am aufregendsten tönt der Pride-Besuch. Und am kämpferischsten der Stand am Weihnachtsmarkt. Dafür bäckt Flachsmann jeweils höchstpersönlich Kekse. Diese Events haben Tradition. Manche werden seit der Vereinsgründung durchgeführt.

Diese Vereinsgründung geht auf Michael De Vita-Läubli zurück. «Queerdom hatte immer zwei Schienen: Eine politische. Und eben die gesellige», sagt er heute. De Vita-Läubli selber startete seine politische Karriere in der jungen SVP, als er Queerdom gründete, war er da schon wieder aus-, und bei den Jungfreisinnigen eingetreten. Heute politisiert er in Volketswil am Zürcher Stadtrand für die GLP. Er ist dort Gemeinderat und lebt mit seinem Mann in einem Weiler. «Politisch» habe für ihn bei Queerdom geheissen: Engagiert in Fragen, die queere Menschen betreffen. Sonst neutral. 

Die Geschichte von Queerdoms politischem Engagement ist eng mit dem Kampf um die familienrechtliche Gleichstellung   verknüpft. In den Gründungsjahren unterstützten Queerdom und De Vita-Läubli, damals war er noch unverheiratet und hiess nur Läubli, sehr aktiv die Petition «Gleiche Chancen für alle Familien».

In Flachmanns Zeit als Präsident fand sich Queerdom dann zwei Mal in grossen Abstimmungskämpfen wieder. Zuerst der defensive gegen die CVP-Initiative, die die Ehe als Bund zwischen Mann und Frau in die Verfassung schreiben wollte. Dann der offensive für die Ehe für alle. Flachsmann stand unermüdlich an Ständen in Schaffhausen und Winterthur. Er sprach mit Passantinnen, liess Regen und «weniger nette Kommentare» an sich abperlen, organisierte mit anderen eine «Velopride», mit der er durch das Klettgau radelte, und noch am Abstimmungssonntag half er dem Zürcher Ja-Komitee mit der Technik im Festlokal. Die Schweiz sagte Ja, der Kanton Schaffhausen auch. 

Bild: Robin Kohler
Bild: Robin Kohler

Das Engagement der Freiwilligen zu halten, sei seither schwierig geworden, sagt Flachsmann, die Luft im Verein seit dem Erfolg «vielleicht etwas draussen». Die politische Schiene auf der Queerdom fuhr, scheint zu Ende zu sein, jener Teil des Wagens auf dem Abstellgleis parkiert. Er glaube selber zwar nicht, dass jetzt einfach alles gut ist, sagt Flachsmann. Es gäbe durchaus neues Terrain, das zu erobern wäre. Der Queerdom-Gründer De Vita-Läubli drückt es so aus: «Die ältere Generation hat ihre Kämpfe für unsere Zukunft gekämpft». Viele wurden gewonnen. «Irgendwann ist man vom Kämpfen auch müde. Dann will man vielleicht lieber kegeln gehen, als sich in neue Auseinandersetzungen zu stürzen». 

Es gäbe aber eine neue Generation, eine, die noch nicht müde ist. Man müsste einfach an sie herankommen.

Auftritt AnderSH

Eine Krise, die Flachsmann als Präsident meistern musste, waren die jungen Wilden, die in Schaffhausens LGBTQ-Szene auftauchten. Anna Rosenwasser und Tobias Urech gründeten 2016 «AnderSH». Sie organisierten einen Treff für queere Jugendliche und diverse Anlässe. Manche Mitglieder hätten das damals nicht goutiert, sagt Flachsmann. AnderSH ist momentan nicht mehr aktiv.

Mittlerweile ist Rosenwasser eine der bekanntesten queeren Stimmen der Schweiz. Sie teilt mit Flachsmann den Jahrgang, steht aber für eine sehr andere Herangehensweise an den Aktivismus. Rosenwasser arbeitet viel über Social Media. Sie postet Memes, sie ist angriffig, sie ist witzig, sie ist politisch und zwar dezidiert links, in Zürich steht sie auf der SP-Nationalratsliste (siehe AZ vom 27. April 2023). 

Als sie jünger war, habe sie sich gerne enerviert über die «Spiessigkeit der alteingesessenen queeren Organisationen», sagt Rosenwasser. Mittlerweile nicht mehr. «Die queere Community ist sehr divers und das kann eben auch heissen, das manche gerne kegeln gehen wollen.» Genau deshalb hätte sie AnderSH nicht unter Queerdom ansiedeln wollen, sagt sie. «Vielleicht finden manche queere Menschen mich und Tobias Urech zu viel. Oder Queerdom zu wenig. Die können dann zum jeweils anderen Verein.»

Rosenwasser attestiert Flachsmann zwei unterschätzte Eigenschaften: «Eine fast schon faszinierende Freundlichkeit. Und Präsenz.» Wenn Rosenwasser «unterschätzt» sagt, dann meint sie das nicht im menschlichen Sinn. Zumindest nicht nur. Wenn sie unterschätzt sagt, dann meint sie den aktivistischen Nutzen dieser Eigenschaften. «Die Freundlichkeit ist gerade innerhalb von Organisationen wichtig. Man wird angefeindet, man wird davon aufgerieben. Wenn einer immer freundlich bleibt, kann das die Gruppe zusammenhalten.» 

Und die Funktion von Präsenz umschreibt sie so: «Das ist konsensuelle Zootierli-Arbeit». Will heissen: Den Leuten, die wenig Kontakt zu queeren Menschen haben, erlauben, solche anzuschauen. Und ihnen erlauben zu denken: «Ah, bei dem hätte ich das nicht gedacht. Ah, die wirkt recht normal.» Auch wenn es nicht die progressivsten aller Gedanken sind, bringen sie trotzdem etwas, sagt Rosenwasser. 

Der Mittelweg 

Die «konsensuelle Zootierliarbeit» kommt auch bei anderen queeren Menschen an. Zum Beispiel bei Peter Leu. Als er noch in einer heterosexuellen Beziehung lebte, habe er den Weihnachtsstand von Queerdom jeweils «interessiert zur Kenntnis genommen». Leu ist mittlerweile einer jener, die den Untergang von Queerdom letztes Jahr verhinderte, indem er sich für den Vorstand aufstellte. Er will, dass es Queerdom weiterhin gibt, die LGBTQ-Community brauche in Schaffhausen eine gesellschaftspolitische Interessenvertretung. Weil es eben durchaus noch viel zu tun gebe.

Leu wandert gerne. Aber wünscht sich noch etwas anderes von Queerdom: Einen gezielten Erfahrungsaustausch über die gemeinsame queere Geschichte. Leu versucht gerade, eine Brücke zu zimmern zwischen dem, was vor der Ehe für Alle die politische Seite von Queerdom war und den geselligen Anlässen.

 Als erste Massnahme hat er dazu die «Queerstories» ins Leben gerufen. Anstatt am monatlichen Stammtisch nur zu plaudern, so die Idee, erzählt jeden zweiten Monat eine queere Person von einem Aspekt aus ihrem Leben. Leu hat gleich selbst den Anfang gemacht. Er engagiert sich in einem Projekt, das Schulbesuche macht und in Klassenzimmern von Queersein erzählt. 

«Zu alt»

Leu und Rosenwasser sagen beide: Flachsmann ist ihren Projekten wohl gesinnt. Offen. Unterstützend. Flachsmann selbst sagt, er habe nicht recht verstanden, wieso sich Queerdom-Mitglieder über AnderSH empörten. «Wir bieten den Jungen wenig. Dann ist doch gut, dass das andere übernehmen». Er lud Urech und Rosenwasser an einen Stammtisch ein, sie kamen. Queerdom besuchte eine Dragshow, die AnderSH veranstaltete. «Der Sturm im Wasserglas» war schnell vorbei. 

Unter der Marke Queerdom eine eigene Jugendgruppe zu gründen, das gehe hingegen nicht, zumindest nicht für ihn, sagt Flachsmann. «Dafür bin ich zu alt. Ich kann nicht für andere sprechen, und etwas aus dem Boden stampfen, was nicht ich wäre.» Aber wenn Junge auftauchen würden, die das übernähmen: «Unbedingt. Auch trans Personen oder jede weitere Subgruppe. Das würde mich sehr freuen». Flachsmanns ideale neue Vorstände für Queerdom wären denn auch «divers in Alter und Geschlechtsidentität». 

Je länger man mit und über Flachsmann spricht, je mehr weiss man: Er muss nicht geschützt werden, er kommt sehr gut klar. Die Sanftmut ist seine Deckung, die Akribie seine Verteidigung. Oder sein langer, beharrlicher Angriff. Dieser ist nun zumindest bei Queerdom vorbei. Für den Verein wünscht sich Daniel Flachsmann jetzt «frischen Wind und frische Ideen».