Die grosse Unbekannte

25. September 2023, Simon Muster
Nina Schärrer im Promenadenpark in Schaffhausen. Fotos: Robin Kohler
Nina Schärrer im Promenadenpark in Schaffhausen. Fotos: Robin Kohler

Nina Schärrer soll den Ständeratssitz der FDP zurückerobern. Aber für was für einen Freisinn steht sie? Eine Ännäherung.

Nina Schärrer sitzt alleine an einem Holztisch, als wir an diesem frühen Samstagmorgen mit unserem Mietauto vor dem Kaffe Kronenhalle in Schleitheim vorfahren. Vor ihr steht ein Wasserkrug, ein paar Wahlflyer liegen sauber aufgefächert auf dem Tisch, während eine zweite Nina Schärrer im Hintergrund von einem grossen Plakat den Schlaatemern zulacht. Seit Mitte Juni tourt die 37-Jährige durch die Gemeinden, trinkt Kaffee oder Apéro und hört zu, was die Leute beschäftigt. Der Besuch in Schleitheim ist der elfte und letzte.

Die Leute hätten es geschätzt, dass sie sich vor Ort gezeigt habe, es sei zu lebendigen Diskussionen gekommen, erzählt sie uns, während wir noch etwas müde in unsere Gipfel beissen. Die wenigen Schlaatemer, die neben uns im Café sitzen, scheinen sich indessen noch wenig für die Neuhauserin zu interessieren. Sie sonnen sich lieber in der Morgensonne als über Politik zu reden. Wir sprechen sie darauf an. Sie lacht. Ein FDPler aus dem Kaff habe sie gewarnt, dass für eine Veranstaltung der FDP niemand aus dem Haus gehe. «Ich habe das meinem Mann erzählt und gefragt: Ist es komisch, dass ich jetzt umso mehr nach Schleitheim will?»

Ein paar Stunden später schickt sie uns ein Bild von sich und ein paar Schlaatemern: «Danke für euen Bsuech hüt. Sind denn also doch no paar Lüt cho ;)».

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Nina Schärrer hat einen Auftrag: Sie soll ihre Partei wieder im alten Glanz erstrahlen lassen. Der Schaffhauser Freisinn ist seit dem 23. Oktober 2011 nämlich arg ramponiert. Die Wahl von Thomas Minder in den Ständerat liess die FDP das erste Mal seit 1904 ohne Vertretung in Bern zurück.

Jetzt soll es Nina Schärrer richten. An der Nominationsveranstaltung im Frühling war sie die einzige Kandidatin und ihre Nomination unbestritten. Sie hielt trotzdem eine kurze Rede, auch wenn sie krank war und ihre Stimme gegen Ende immer brüchiger wurde. Man merkte: Ihr war wichtig, einen ersten Eindruck zu hinterlassen. Am Ende hatten die Delegierten keine Fragen übrig, nur Applaus.

Wer ist Nina Schärrer? Spricht man mit Menschen, die sie kennen, erhält man zwei Bilder:

Nina Schärrer, die Unermüdliche, hat mehr Stunden im Tag als Normalsterbliche. Sie ist Kommunikationsleiterin der IVS, Mutter von zwei Töchtern, organisiert einen Eltern-Kind-Treff, eine Kinderkleiderbörse. Sie liest gerade «Die Erschöpfung der Frauen» von Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach, ein Buch, das die vielfältigen Erwartungen der Gesellschaft an Frauen thematisiert und das Fehlen der Wertschätzung, die sie dafür erhalten. Sie erzählt der AZ von zwei geflüchteten Familien, die sie in den letzten Jahren begleitet hat. Sie sitzt seit zwei Jahren auch im Vorstand des kantonalen Hauseigentümerverbandes. Dort sitzt sie gemeinsam mit der ehemaligen FDP-Stadträtin Jeanette Storrer. Schärrer sprudle vor Ideen, zeige viel Eigeninitiative und sei stets engagiert, sagt Storrer. «Von aussen fragt man sich manchmal, wie sie all die verschiedenen Aufgaben gleichzeitig meistern kann. Aber sie hat sich vorgenommen, als Mutter keine Einbussen zu machen, und das zieht sie kompromisslos durch.»

In der Politik hingegen hat Nina Schärrer bisher kaum Spuren hinterlassen. Zwar kandidierte sie 2020 sowohl für den Grossen Stadtrat als auch für den Kantonsrat, und sie ist seit 2022 Vizepräsidentin der FDP Neuhausen, ein Amt in der Exekutive oder Legislative hatte sie aber bisher nie inne. Viele sagen der AZ, sie sei eine politische Unbekannte. Beispielsweise der Neuhauser SP-Gemeinderat Ruedi Meier, der mit den Bereichen Schule und Krippen die Bereiche verantwortet, die im Zentrum von Schärrers Wahlkampf stehen. Er sagt: «Für mich ist sie politisch aus dem Nichts aufgetaucht.» GLP-Präsident Christoph Hak, der auf der Homepage von Schärrer als Unterstützer aufgelistet ist, sagt, er habe bis auf ein paar Standaktionen noch nicht viele politische Erfahrungen mit ihr gemacht. «Aber ich kann mir vorstellen, wo sie politisch steht. Sie ist ja in der FDP und ihre Meinungen decken sich oft mit grünliberalen Haltungen.»

Ein paar Tage nach dem Besuch in Schleitheim treffen wir sie auf dem Herrenacker. Einen Salat essend beobachtet sie durch ihre Sonnenbrille, wie Kinder durch die Wasserfontänen springen. Auf die Frage nach einem Moment, der sie politisiert hat, denkt sie kurz nach. «Da war kein einzelner Moment. Das war ein Prozess, bis ich vor etwa drei Jahren realisiert habe: Es läuft nicht alles so, wie ich will.» Der Entscheid, der FDP beizutreten, sei kurz nach der Geburt ihrer zweiter Tochter gefallen. Da habe sie gesehen, dass bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie noch viele Hürden bestehen.

Anruf bei Vater Rolf Schmid. Er und seine Frau seien Nachrichtenfreaks, jeden Abend beim Nachtessen würden sie die Abendnachrichten schauen, diskutieren, was auf der Welt gerade passiert. «Ich glaube, Nina hat so von uns gelernt, dass man sich informieren und sich eine eigene Meinung bilden muss», sagt Schmid. Das sehe man an ihrem Werdegang: Nach der Matura in Schaffhausen studierte Nina Schärrer Journalismus und Organisationskommunikation, absolvierte später ein Praktikum beim Schaffhauser Fernsehen. Dass sie aber irgendwann in der Politik landete und nun sogar für den Ständerat kandidiere, habe ihn sehr überrascht. «Meine Frau und ich sahen null Anzeichen, dass so etwas ansteht.»

Ein dünner politischer Leistungsausweis kann Fluch und Segen zugleich sein. Für politische Schwergewichte wie Simon Stocker (ehemals Grosser Stadtrat sowie Stadtrat) sowie Thomas Minder und Hannes Germann (Ständeräte seit 12 beziehungsweise 21 Jahren) sprechen ihr breites Beziehungsnetzwerk, ihre politischen Erfolge und der Umstand, dass die Wählerinnen ihren Namen nicht zuerst im Netz suchen müssen. Für Nina Schärrer spricht im Vergleich dazu – nichts.

Gleichzeitig ist jeder politische Leistungsausweis auch ein Kerbholz. Stocker hat der Politik vor Jahren den Rücken gekehrt, Hannes Germann sitzt bald ein Vierteljahrhundert in Bern und schaut inzwischen lieber Handball, als sich mit dem Sexualstrafrecht auseinanderzusetzen. Und wer das Ständeratspodium auf Tele D nachschaut und mitverfolgt, wie ungehobelt Thomas Minder seine FDP-Konkurrentin unterbricht, muss fast zur Erkenntnis kommen: Die Zeit der Altmännerpolitik ist vorbei, dieser Kanton braucht frischen Wind.

Alles scheint also aufgegleist für eine junge Politikerin, die unbeschwert und sich mit neuen Ideen einbringt. Etwa ihre Idee, die Parkplätze am Rheinfall in ein Parkhaus unter der Burgunwiese zu verschieben. So müssten die Touristen das Dorfzentrum durchqueren, um zum Rheinfall zu kommen, was das lokale Gewerbe anregen würde. Gemeindepräsident Felix Tenger sagt, das sei nicht umsetzbar. Nina Schärrer meint: «Mich frustriert, wenn man sich nicht traut, Neues zu denken. Oft höre ich auch das Argument, für eine Idee fehlten die gesetzlichen Grundlagen. Doch diese bilden immer nur ab, was man sich in der Vergangenheit vorstellen konnte.»

Nina Schärrer sieht ihren bisher dünnen politischen Leistungsausweis denn auch gelassen: «Natürlich wäre es besser, wenn ich schon zehn Jahre im Kantonsrat gesessen hätte. Aber das bin ich nun einmal nicht. Und ich glaube auch nicht, dass mich dies zu einer besseren Ständerätin machen würde. Wie man ein solches Amt ausführt, hängt vor allem von der eigenen Persönlichkeit ab, von der Kompromissfähigkeit. Und von den eigenen Ideen und Werten.»

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Vor gut zwei Jahren schloss Nina Schärrer ihr Zusatzdiplomstudium in politischer Kommunikation ab. In ihrer Abschlussarbeit befasste sie sich mit einem Problem, das ihr als Kommunikationschefin der IVS immer wieder begegnet war: Regionale Unternehmer sowie Vertreterinnen globaler Konzerne waren immer weniger bereit, sich für Abstimmungskampagnen öffentlich zu engagieren – aus einer diffusen Angst, «mit einer öffentlich politischen Positionierung Kunden zu verlieren».

Jetzt tritt sie gegen einen regionalen Unternehmer und ein Vorstandsmitglied der IVS an. Aber: Wo hört das Lobbying für die Wirtschaft auf, wo fängt die eigene politische Meinung an? Und: Lassen sich die beiden überhaupt voneinander trennen?

Diese Frage stellt sich ausgerechnet beim Hauptthema von Nina Schärrers Wahlkampf: der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Es ist das Thema, über das sie am liebsten spricht. Es sei wichtig, dass Frauen im Berufsleben bleiben und sich nicht von ihrem Partner abhängig machen. Und sie hat klare Vorstellungen davon, wie das erreicht werden könnte: Der Staat müsse bessere Rahmenbedingungen schaffen, in die familienergänzende Kinderbetreuung investieren. Für Krippenplätze schwebt ihr statt der heutigen einkommensabhängigen Tarife ein Einheitstarif vor. Für jene, die sich diesen nicht leisten können – Schärrer spricht von etwa 40 bis 50 Franken pro Betreuungstag – soll es einen tieferen Tarif geben.

Es sind solche Ideen, mit denen Schärrer auch bei der politischen Konkurrenz punkten kann. Etwa bei Linda De Ventura, SP-Sozialpolitikerin und Nationalratskandidatin: «Als Mutter von kleinen Kindern spürt sie die Missstände täglich. Es ist gut, dass sie das thematisiert.» Vieles, was Nina Schärrer sage, klinge nach der alten FDP, nach einem Freisinn mit sozialem Gewissen. De Ventura sagt aber auch: «Nina Schärrer musste noch keine realpolitischen Entscheide treffen. Ihre Partei betonte auch in der Vergangenheit die Wichtigkeit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, verhinderte dann aber, sobald es konkret wurde, wichtige Fortschritte.»

Die ehemalige AL-Politikerin erinnert etwa an die 7to7-Initiative. Die AL-Initiative wollte 2017 betreute Tagesschulen von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends einführen, bezahlt vom Kanton. Es wäre eine Pionierleistung gewesen. Zuerst sei die Idee auch bei der Wirtschaftsförderung auf offene Ohren gestossen, erinnert sich SP-Grossstadträtin Angela Penkov, die damals im Kampagnenteam der AL war. «Dann lag aber plötzlich ein viel günstigerer und wenig weitreichender Gegenvorschlag auf dem Tisch, und die 7to7 wurde als utopisch verschrien.» Oder in den damaligen Worten von IVS-Mediensprecherin Nina Schärrer in den Schaffhauser Nachrichten: Die Iniatitive «fördert eine Gratismentalität und ist durch ihre krassen Fehlanreize finanziell untragbar». Der Gegenvorschlag, für den sich die Schärrer einsetzte, obsiegte an der Urne klar. Und während anderorts, etwa in der Stadt Zürich, flächendeckend Tagesschulen eingeführt werden, gibt es in Schaffhausen bis heute keine einzige.

Sie haben als IVS-Sprecherin Tagesschulen und somit eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Famile in der Schaffhausen verhindert.

Moment: Nicht alles, was ich in der Rolle als Sprecherin der IVS sage, entspricht zwingend meiner Meinung. In diesem Fall tat es das aber. Die Grundidee fand ich nicht schlecht. Aber ich habe Mühe damit, wenn Angebote gratis sein sollen, egal was die Eltern daneben tun. Im Extremfall können die Eltern den ganzen Sommer in die Badi liegen und ihre Kinder gratis betreuen lassen.

Seien wir ehrlich: Wie realistisch ist ein solches Szenario?

Wenn man die Möglichkeit schafft, werden die Leute sie auch nutzen.

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Wie progressiv sind die politischen Vorstellungen der FDP-Kandidatin, die von sich selber sagt, sie stehe am linken Rand der Partei? Sie setzte sich im Sommer zwar entgegen der Kantonalpartei für das Klima- und Innovationsgesetz ein. Das hat ihr vielleicht die Wahlempfehlung der GLP eingebracht, die bei den Nationalratswahlen auf eine Listenverbindung mit der FDP verzichten. Beim Rating der Umweltallianz erreicht Schärrer aber den zweitletzten Platz, zwar vor Hannes Germann, aber hinter Thomas Minder. Sie erklärt das unter anderem so: «Diese Bewertung hat viel damit zu tun, dass ich gegen grundsätzliche Verbote bin. Ich will beispielsweise keinem Hausbesitzer eine fossile Heizung und keinem Autofahrer ein benzinbetriebenes Auto verbieten. Statt zu verbieten bin ich fürs Überzeugen – durch Information und allenfalls auch durch finanzielle Anreize.»

Dasselbe bei der Migrationspolitik: Auf Tele D meinte Nina Schärrer kürzlich, dass die Kontigentierung für Drittstaatenangehörige unbedingt erhöht werden müssen. «Diese sind extrem wichtig für die internationalen Unternehmen in Schaffhausen», sagt sie. Dass genau diese Konzerne und die Steuerpolitik, die diese in die Schweiz gelockt haben, Treiber der Zuwanderung sind – mehr gut verdienende Fachkräfte brauchen mehr Coiffeure, mehr Automechanikerinnen –, streitet Schärrer gar nicht ab. «Zahlenmässig sehe ich die Zuwanderung in die Schweiz nicht als Problem. Letztes Jahr betrug sie netto weniger als ein Prozent, das ist ein normaler Rahmen. Trotzdem müssen wir definieren können, wer ein Recht hat, in der Schweiz zu leben.» Was ihr Mühe mache, ergänzt sie, seien «Wirtschaftsflüchtlinge».

Woher kommen denn diese Wirtschaftsflüchtlinge?

Aus Nordafrika. Von überall, wo die Leute nicht unmittelbar am Leben bedroht sind. Wenn alle, die Geld und Eigeninitiative haben, ihre Länder verlassen, entziehen sie ihrer Heimat die Möglichkeit, sich selber zu entwickeln. Gleichzeitig können wir als Schweiz auch nicht der Hafen für alle sein, die sich ein besseres Leben vorstellen.

Versucht die FDP die SVP zu imitieren?

Nein, aber wir wollen dieses wichtige Themenfeld nicht allein der SVP überlassen.

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In den letzten Jahrzehnten erfand sich die FDP immer wieder neu. Ende 70er-Jahre, als Neoliberalismus noch kein Schimpfwort war, zogen die Freisinnigen mit dem selbstbewussten Slogan «Mehr Freiheit, weniger Staat» in den Wahlkampf. Das Wahldebakel 2011 stand unter dem heimatschützerischen Motto «Aus Liebe zur Schweiz». Vor vier Jahren versuchte die FDP Schaffhausen den Ständeratssitz mit Regierungsrat Christian Amsler zurückzuerobern. Ein Schaffhauser Politschwergewicht, das die Leute kannten, aber auch einer mit viel politischem Ballast, ein politischer Wendehals. Nina Schärrer ist die Antithese dazu: Jung, intelligent, eine politische Quereinsteigerin mit progressiver Familienpolitik, stets on message.

Doch bis auf ein paar Ausnahmen trägt der frische Wind die gleichen alten Ideen: Eine Politik, die sich vor der Gratismentalität der Kleinen fürchtet, sich aber dafür einsetzt, dass die Grossen immer weniger zahlen müssen; die Kapital mit offenen Armen empfängt, bei Menschen, die vor Armut flüchten, aber lieber zweimal hinschaut.

Dieses Gesamtpaket ist das Angebot, das Nina Schärrer am 22. Oktober den Schaffhauser Wählerinnen und Wählern macht.