Wie gestaltet sich das Familienleben, wenn ein Elternteil Autist ist? Besuch bei der Familie Aegerter in Beringen.
Das erste Mal kennengelernt haben sich Kevin und Talita, als er seine Dreadlocks neu machen lassen wollte. Also fuhr er nach Schlatt im Thurgau, wo sie im Haus ihrer Eltern Haarsträhnen zu filzigen Dreads flocht. Dreiviertel Jahre später waren die beiden verlobt, dann verheiratet. Talita wurde schwanger, einmal, zweimal, dreimal, und aus Kevin und Talita wurde die Familie Aegerter in Beringen.
Ein zweites Mal lernen sich Kevin und Talita jetzt kennen. Vor gut einem Jahr erhielt er die Diagnose: Autismus-Spektrum-Störung. Eine Erleichterung für Kevin, der viele Situationen in seinem Leben plötzlich besser einordnen kann. Und für Talita, weil die leisen Zweifel der vergangenen Jahre, ob sie überhaupt weiss, wer der Mann ist, den sie geheiratet hat, verstummten.
Nach dem ersten Moment der Erleichterung drängte sich bei der jungen Familie aber bald eine andere Frage auf: Und nun?
Zufallsfund
Mitte August, wir sitzen in der heissen Dachwohnung der Familie Aegerter in Beringen. Ein Ventilator dreht unermüdlich gegen die Sommerhitze an, und manchmal, wenn Talita spricht, richtet Kevin konzentriert eine kleine Sprühflasche auf die jüngste Tochter, die sich hinter der Balkontür versteckt. Wenn sie aus der Deckung hervor späht, spritzt er sie mit Wasser ab. Die beiden Hündinnen, Aska und Jukka, beobachten das Ganze unbeeindruckt vom Teppichboden aus. Der Mittlere und die Älteste bauen in ihrem Zimmer eine Ritterburg, doch ganz ruhig wird es im wuseligen Wohnzimmer nie.
Eigentlich war Kevins Diagnose ein Zufallsfund. Weil ihr Sohn auf scheinbar nichtige Missverständnisse oder auf Unerwartetes mit Wutausbrüchen reagierte, begannen sich die Eltern über die sogenannte Autismus-Spektrum-Störung zu informieren. Autismus ist eine Entwicklungsstörung, die sich oft bereits im Kleinkindalter zeigt. Den Kindern fällt es schwer, soziale Signale zu deuten, sie haben Mühe, sich verbal auszudrücken und sind schnell von ihrer Umwelt überfordert. Da sich die Symptome bei jeder Person unterschiedlich ausprägen, spricht man bei Autismus von einem Spektrum: Einige können gar nicht sprechen, andere sprechen ununterbrochen, weil sie nicht sehen, dass ihr Gegenüber gelangweilt ist. Genaue Zahlen, wie viele Personen in der Schweiz eine Autismus-Spektrum-Störung haben, gibt es nicht. Schätzungen gehen von rund einem Prozent der Bevölkerung aus.
Als sich Kevin und Talita gemeinsam durch diese Symptome lasen, realisierten sie: Viele davon trafen auch auf Kevin zu. Dass Kevin nicht neurotypisch ist, wussten die beiden bereits: Als Kind wurde er mit ADHS diagnostiziert, das er auch jahrelang mit Ritalin behandelte. Talita war bereits zu Beginn ihrer Beziehung aufgefallen, dass Kevin Partys sehr früh verlassen wollte, obwohl die Stimmung eigentlich noch ausgelassen war. Ihr Vater stellte später die Vermutung auf, Kevin sei hochsensibel.
Nachdem sie sich über die Symptome informiert hatten, folgten bald verschiedene Tests, mit denen festgestellt werden sollte, ob Kevin tatsächlich auf dem Autismus-Spektrum ist oder vielleicht eher an einer psychischen Krankheit leidet. Nicht selten werden bei Erwachsenen autistische Symptome durch Depressionen, Angstzustände, Einsamkeit und Zwänge überlagert. Ein Grund dafür könnte sein, dass Menschen mit Autismus überdurchschnittlich stark von Arbeitslosigkeit betroffen sind. In einer deutschen Studie von 2015 waren über 60 Prozent der befragten Personen mit einer Autismus-Spektrum-Störung arbeitslos. Sie werden als Eigenbrötler missverstanden, die nicht teamfähig seien, als anstrengend und unflexibel. Ihre Karriereverläufe sind unstet, weisen viele Brüche auf. Auch bei Kevin: Er begann eine Spenglerlehre, brach diese ab, arbeitete bei einem Zügelunternehmen, erhielt die Kündigung, schuftete im Werkdienst in Neuhausen, das klappte irgendwann auch nicht mehr. Er rutsche in jungen Jahren auch mal in den Drogenkonsum ab – «zur Selbstmedikation, wie ich heute weiss.» Nur als Schafhirte auf einer Alp ging er wirklich auf: geregelte Arbeitszeiten, viel Zeit für sich alleine. Und: «Die Tiere reden nicht so viel».
Talita beobachtete das Hadern von Kevin mit der Welt. Heute weiss sie: Viele Menschen mit Autismus setzen sich eine Maske auf, um in der Gesellschaft zu funktionieren: Sie versuchen, so gut wie möglich und mit grosser Anstrengung die Verhaltensweisen zu imitieren, die sie eigentlich so sehr irritieren. Über die Jahre konnte sie beobachten, wie Kevins Maske bröckelte, wie hinter den Rissen die Konturen eines Menschen hervortraten, für den sie ihre Erwartungen und ihre Bedürfnisse anpassen und neu formulieren musste.
Das Mittagessen ist am ruhigsten
«Wie sieht ein normaler Tag bei der Familie Aegerter aus?»
«Das kommt ganz darauf an, wie die Kinder gelaunt sind.»
Am strengsten sei der Morgen. Wenn die Kinder bereits nach dem Aufstehen laut sind, dann überträgt sich die Überreizung auf Kevin. Talita schaut deswegen, dass die Kinder länger im Bett bleiben, damit sich Kevin zu Tagesbeginn entspannen kann. Damit ihr Sohn schon am Morgen weiss, was als nächstes ansteht, hängt ein Wochenplan mit farbigen Bildchen am Küchenschrank. Das Mittagessen ist am ruhigsten.
Am Abend, wenn der Sohn erschöpft ist vom Kindergarten und Kevin den Kopf noch voll hat von seiner halbtägigen Ausbildung bei der Wibilea, kracht es manchmal. Talita erklärt ihrem Sohn dann, dass Papa genauso müde sei wie er. Und wenn die Familie Aegerter am Wochenende Freunde besucht, muss Talita ihren Sohn früh genug darüber informieren, wann der Heimweg ansteht, damit er sich darauf vorbereiten kann.
Talita erklärt, Talita macht, Talita vermittelt. Manchmal wünsche sie sich, dass ein Tag wie bei einer gewöhnlichen Familie laufe, sagt sie. «Die haben wahrscheinlich auch ein Theater. Aber ein anderes.» Zugleich hat sie das Bedürfnis, über den Tellerrand der eigenen Familie zu schauen und sich mit Menschen auszutauschen, die Ähnliches erleben. Das hat dazu geführt, dass sie eine Selbsthilfegruppe für Angehörige von Autismus-Betroffenen in Schaffhausen initiiert hat (Infos siehe Kasten).
Kevin und Talita versuchen aber auch, ihre eigene Beziehung besser zu verstehen. Sie wisse heute, dass sie von ihm nicht das Gleiche erwarten könne wie von einem neurotypischen Mann, sagt Talita. So würde er oft den Wink mit dem Zaunpfahl nicht verstehen, Aufgaben, die im Haushalt anstehen, nicht von selber angehen. «Das hat mich oft verrückt gemacht.» Von der Heilpädagogin, die sie zusammen besuchen, habe sie gelernt, dass sie ihm gegenüber klarer kommunizieren müsse.
Die Heilpädagogin hat auch Tipps für Kevin. Sie habe ihm gesagt, er müsse Talita mehr in seine Entscheidungen miteinbeziehen. Talita erklärt: «Er entscheidet sich für Dinge, die ich nicht nachvollziehen kann. Gerade wenn andere Personen involviert sind, fühle ich mich dann dazu gedrängt, seine Entscheidung zu erklären. Dabei versteh ich ihn ja auch nicht immer. Dann fühle ich mich so, als wäre ich nicht nur seine Ehefrau, sondern auch seine Therapeutin.»
Kevin entgegnet: «Talita möchte mehr Mitgefühl bei meinen Entscheidungen, hat mir die Heilpädagogin erklärt. Ich verstehe immer noch nicht ganz, was das heisst. Wenn ich etwas entscheide, dann habe ich alle Optionen durchgedacht und die Beste ausgewählt. Ich weiss nicht, was es da noch viel zu erklären gibt, aber ich versuche es.» Während er das erzählt, lächelt Talita.
Selbsthilfegruppe für Angehörige
In Zusammenarbeit mit dem Verein Selbsthilfe Winterhur-Schaffhausen hat Talita Aegerter eine Selbsthilfegruppe für Angehörige von Autismus-Betroffenen initiiert. Anmeldung und weitere Informationen unter www.selbsthilfe-winterthur-schaffhausen.ch oder unter 052 213 80 60.