Der Durstgraben in Neuhausen hat viel gesehen. Noch ein paar Beizengeschichten, bevor er irgendwann versiegt.
Ende November 1848 konstituierte sich der erste Schweizer Bundesrat. Es dauerte nur wenige Tage, bis sich die Regierung des jungen Bundesstaats mit einer Schaffhauser Affäre befassen musste: Grund dafür war eine Schlägerei im «Durstgraben» bei Neuhausen am Rheinfall.
Passiert war Folgendes: Bauer Johannes Moser war an jenem frühen Dezembertag im Hof des Durstgrabens gerade beim Holzhacken, als württembergische Soldaten vorbeizogen. Sie hatten einen Ausflug zum Rheinfall gemacht und waren reichlich besoffen auf dem Rückweg zur Landesgrenze. Es entbrannte ein Streit, in dessen Zuge Johannes Moser einem Soldaten den Säbel entwendete: «Sieh, du Strölchli, du hast mich mit deinem Säbel fuchteln wollen, du bist nicht wert, ihn weiter zu tragen», soll er gerufen haben. Soldaten und Durstgräbler und Durstgräblerinnen eilten herbei, es kam zur Massenschlägerei, wobei Bauer Moser nach einem Säbelhieb über den Schädel ins Haus getragen werden musste.
Er überlebte – und die Schaffhauser Regierung forderte den jungen Bundesrat auf, Genugtuung für Moser zu erwirken. Dieser nahm tatsächlich ausserstaatliche Verhandlungen auf – weitgehend ergebnislos, wie der Neuhauser Lokalhistoriker Robert Pfaff in einer Darstellung schildert.
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Vor einigen Monaten stolperten wir auf AZ-Reportage durch das Neuhauser Nachtleben in den Durstgraben (AZ vom 4. Mai 2023). Und blieben zwischen Stammtischgeklopfe und Zigarettenrauchschwaden hier hängen. Losgelassen hat uns der Durstgraben seither nicht. Deshalb kehren wir zurück.
An einem warmen Abend anfangs September sitzt Bauer und Wirt Albert Moser im Garten seines Spunten. Er ist ein Nachkomme des wehrhaften Johannes Moser. Der Durstgraben ist immer in Familienhand geblieben. Anfang des 20. Jahrhunderts bestellten die Gebrüder Moser noch die erste Kehrichtabfuhr Neuhausens mit dem Pferdegespann, ansonsten bauerten die Durstgräbler. Und sie wirteten. Die Beiz, die im Wohnhaus untergebracht ist, ist eine der ältesten, die es weit und breit noch gibt. Albert Moser ist 70 Jahre alt und seine Schwester Heidi, die den Laden heute hauptsächlich schmeisst, ist seit ein paar Monaten auch pensioniert. Sie steht überhaupt nicht gerne im Rampenlicht.
Es ist unklar, wie lange der Durstgraben noch offen sein wird. «Was will man gegen den Strom schwimmen?», fragt Albert Moser. Der Durstgraben ist ein Auslaufmodell. Und er erzählt davon, wie sich die Gastwirtschaft verändert hat.
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Die Zeit zog am Durstgraben vorbei und hinterliess ihre Spuren. Am Haus, an Mosers, am Betrieb.
Im Jahr 1910 zündete ein Querulant das Wohnhaus an, das danach neu errichtet werden musste.
2014 etwa stand in der Zeitung, dass ein Lieferwagen in den Gartenhag und in das Gebäude gekracht seien.
Der Schock war noch nicht verdaut, als Wirt Albert Moser kurz darauf in seinem Lagerraum einen Störefried überwältigen musste: der Schaffhauser Behördenschreck und militante Rohköstler Erich Schlatter hatte dort mit den Latten des kaputten Gartenzauns ein Feuer entfacht, um Würste aus Mosers Gefrierschrank zu braten.
Mit diesen Geschichten im Kopf zog es uns also zurück in den Durstgraben. Als wir uns für den Besuch anzumelden versuchten, sagte Albert Moser noch, er wisse nicht, ob er dann hier sein werde. Wenn es schön sei, müsse er raus aufs Feld. «Probiereds, probiereds», sagte er am Telefon. Nun sitzt er draussen am runden Tisch und sagt zu einem Stammgast, wieso er sich nicht gestrählt habe, wo doch die AZ komme.
Albert Moser hat das Haus übernommen, als die Eltern starben und er gerade 20 war. Die Beiz führte damals noch seine Tante, die legendäre Wirtin Violette Moser. «Sie war eigenartig, ein verkanntes Genie. Eigentlich wollte sie Musik studieren, was der Vater aber ablehnte. Zudem kam die Rezession in den 20er-Jahren. Da konnte sie nicht weg, also blieb sie da», erzählt Albert Moser. Seine Schwester Heidi Moser, die sich an diesem Abend trotz aller Öffentlichkeitsscheu ab und an mit an den Tisch setzt und die selbst wie einst die Tante im Durstgraben hängen blieb, sagt: Die Tante habe ihre Linie gehabt, sie habe etwa nur in Rappen gerechnet. Den Soldaten habe sie nichts verlangt. Der Schaffhauser Heinrich Huber hat Durstgrabenwirtin Violette Moser in seinem Krimi «Das blaue Licht» ein Denkmal gesetzt:
«Als die Wirtin den Wein brachte, betrachtete sie den Verhörrichter recht kritisch und fragte ihn in merkwürdig barschem Ton: ‹Sind Sie schon pensioniert?› Der Verhörrichter antwortete, das sei schon zwei Jahre der Fall, worauf die rundliche Wirtin wiederum in barschem Ton sagte: ‹Wenn Sie pensioniert sind, dann zahlen Sie kein Trinkgeld, merken Sie sich das. Probieren Sie ja nie, mir ein Trinkgeld zu geben, da Sie mich mit einer solchen Geste tief beleidigen würden.› Hierauf wünschte sie dem Verhörrichter einen guten Trunk und war wieder die freundliche, ja liebenswürdige Person, die er beim Eintreten erblickt hatte …»
Der Durstgraben lief über Jahrzehnte hinweg prächtig und warf ein gutes Auskommen ab. Die Arbeiter von Deutschland zogen auf ihrem Weg in die Neuhauser Industrie an der Wirtschaft vorüber und nahmen den ersten morgendlichen Schnaps hier. «Vor 35 Jahren noch fandest du am Sonntagmorgen keinen Platz mehr hier», sagt Albert Moser. Die Männer sassen beim Frühschoppen in der Beiz, während die Frauen zu Hause das Mittagessen kochten. «Ab und zu kamen auch Frauen, aber an die Hintertür, die wollten schnell einen Schnaps».
Wie Albert Moser in der Gartenwirtschaft sitzt und erzählt, braust auf der Strasse ein Traktor vorbei. «Ah, die Chlii», sagt Moser. «Da isch d’Töchter. Jetzt gooht sie go tanke. 500 Liter, denn isch wieder en Tuusiger weg.»
Die Tochter hat den Landwirtschaftsbetrieb von Moser übernommen, Sonntagmorgens hilft sie manchmal in der Beiz aus. «Früher wäre die Gartenwirtschaft voll gewesen, wenn so ein Mädi hier gewirtet hätte», so Moser und schüttelt den Kopf.
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Heute kommen tagsüber ein dutzend Gäste vorbei, manche von ihnen zweimal am Tag. Ab und zu machen Mosers eine Rösti mit Spiegelei für sich und ihre Gäste, oder einen Wurstsalat. Die Beiz ist bis auf Mittwoch jeden Tag geöffnet, und das von morgens um neun Uhr durchgehend bis um etwa neun Uhr abends (ausser am Sonntag, da gibts nur Frühschoppen).
So funktionieren moderne Gastrobetriebe nicht mehr, es macht ökonomisch keinen Sinn. Im Durstgraben geht das nur noch, weil er ein Familienbetrieb ist und direkte Verwandte des Betriebsleiters im Gastrogewerbe nicht dem Gesamtarbeitsvertrag unterstehen. Heidi Moser arbeitet viele Stunden unbezahlt im Service, den Gästen zuliebe.
Bruder Albert sieht nicht darin das Problem, sondern im Gegenteil im Mindestlohn. Auch dem liegt eine Logik vergangener Zeiten zu Grunde: «Sagen wir, eine Frau führte früher einen Spunten. Dann bekam sie Kinder, hat nicht mehr gearbeitet. Jetzt ist sie 60 und ihr ist langweilig, aber sie will nicht krampfen und seckeln. Sondern sie würde gerne etwas wirten und mit den Leuten zusammensitzen, vielleicht kennt sie die Gäste aus der Umgebung noch», sagt Albert Moser. «Aber ich müsste sie dann gleich für einen Viertausender anstellen, das geht nicht.»
Eine Nachfolge, welche die Beiz übernehmen würde, ist nicht in Sicht. Mosers machen noch, so lange es die Gesundheit noch zulässt. Dann versiegt das Relikt Durstgraben womöglich endgültig.