Oliver Thiele wuchs in einer Neuhauser Arbeiterfamilie auf und fand in der Akademie und der Zürcher Schwulenszene ein Zuhause. Nun ist er Schaffhausens Stadtbibliothekar. Was führte ihn zurück?
Erhaben, verschlossen, streng. Klischeevorstellungen eines Bibliothekars entspricht Oliver Thiele eigentlich nicht. Doch dann führt unser Weg den Mosergarten entlang und streift die Statue des Chronisten Johann Jakob Rüeger. Und da kommt Thiele eine Idee: Mit genau diesem Bild zu spielen, sich selbst zu ironisieren, das reizt ihn. Darum stellt sich Thiele fürs Foto mit locker hochgerollten Hemdärmeln vor den prominenten Gelehrten und blickt eisern in die Kameralinse.
Seit zehn Jahren ist Oliver Thiele nun Leiter der Bibliotheken Schaffhausen. Man kennt den Mann gut in der Stadt – auch, weil er sich nur selten hinter die Bibliotheksmauern zurückzieht. Er leitet Workshops zu Wikipedia, Google und ChatGPT, er ist Co-Programmleiter der «Erzählzeit ohne Grenzen» und Vorstandsmitglied des Vereins «Schaffhauser Buchwoche», und er ist der geistige Vater des Formats «Unsere Buchtipps», in dem Schaffhauser Buchhändlerinnen und das Bibliotheksteam ihre aktuellen Lieblingswerke vorstellen.
Man kennt Oliver Thiele aber gerade auch für seine Vergnügtheit. Ein vermeintlich altbackenes Thema wie das Jubiläum der Schaffhauser Münzrechtsurkunde leitet er in den Schaffhauser Nachrichten mit einer astrologischen Analyse aus der «renommierten Fachpublikation ‹Brigitte›» ein. Müsste Thiele influencen, dann nicht nur für Literatur, sondern auch für Rotwein und Schokolade («Bezahlung in Sachwerten»). Und dem Geraune um den vermeintlichen Tod der Bibliotheken hält er entgegen: Quark! Per E-Mail hält er fest: «Schlussemänd sind wir die Grossmutter der ‹Sharing Economy›, einfach ohne das Element des Räuberkapitalismus.» Zwinkersmilie.
Es ist unübersehbar, dass Oliver Thiele seine Welt gefunden hat. Bis es soweit war, gab es in seinem Leben jedoch ein paar Wendungen.
Oliver Thiele wuchs in Neuhausen auf, direkt neben dem Freibad an der Zollstrasse. Die Eltern kamen aus Deutschland und mit wenig: Mutter Berta war nach dem Zweiten Weltkrieg aus der damaligen Tschechoslowakei vertrieben worden, sie ist Sudetendeutsche; Vater Dieter hatte erst in Sachsen gelebt, war dann aber in den Westen geflohen. Was die beiden hatten, liessen sie zurück. Ein halbes Jahr nach der Geburt des zweiten Sohns Oliver zog die Familie in eine SIG-Wohnung in Neuhausen – der Vater hatte dort als technischer Zeichner Arbeit gefunden.
Oliver würde der erste in der Familie werden, der studiert. Nach der Kantonsschule in Schaffhausen, die er 1988 als «braver Schüler» absolviert habe, wie er heute erzählt, ging es weiter an die Universität Zürich und ans Studium der Allgemeinen und Osteuropäischen Geschichte. Thema der Lizentiats-
arbeit: der Landbesitz von Schaffhauser Stadtbürgern im späten Mittelalter.
Jahrzehnte später würde ein französischer Soziologe namens Didier Eribon ein bahnbrechendes Buch schreiben. In «Rückkehr nach Reims» analysiert der Autor seine eigene Klassenidentität – nun als Intellektueller, jedoch der Arbeiterklasse entstammend und sich daher der geistigen Elite nie voll zugehörig fühlend.
Oliver Thiele sagt heute, er habe extrem gern studiert. Dass es schon in der Kantonsschule mehr Lehrerssöhne und -töchter gab als Kinder aus seinem Umfeld, sei ihm damals noch nicht aufgefallen. «Doch je älter ich werde, desto bewusster wird mir, dass ich nicht aus demselben Milieu kam wie andere.» Sein Studium finanzierte er zu guten Teilen selbst, erst mit Wochenendarbeit am Bahnhofskiosk in Neuhausen – er wisse heute noch, welche Bevölkerungsschicht welche Zigarettenmarke rauchte! – und später in der einstigen Ex-Libris-Filiale in Herblingen.
Das «Verkäufer-Gen», wie Thiele es nennt, überdauerte den Studienabschluss. Ab 1994 leitete er zwei Ex-Libris-Filialen in Zürich. Er sei überzeugt, dass er diesen Weg hätte weitergehen können, sagt er heute. «Aber die Bestseller-Schleuder Ex Libris war mir dann doch zu kommerziell. Ich suchte etwas, das mehr meinem Studium entsprach.» Darum meldete er sich bei einem Ausbildungskurs zum Wissenschaftlichen Bibliothekar an, und ab 2006 arbeitete er in der Zentralbibliothek Zürich. Bis zum Jahr 2013 würde er sich dort bis ins mittlere Kader hocharbeiten: zum Chefbibliothekar Benutzung.
Die Erfahrungen aus dem Detailhandel kämen ihm heute jedoch zugute. Bibliotheken seien zwar nicht im eigentlichen Sinn Buchläden – Parallelen gebe es dennoch: die Warenpräsentation, die Niederschwelligkeit und Zugänglichkeit der Werke. Im Umfeld der Bibliotheken weiss man, dass Thiele immer sehr genau darauf achtet, dass die Präsentationsständer bis zum letzten Platz mit den neusten Büchern bestückt sind.
2013 stand in Schaffhausen ein Wechsel an. René Specht, der beinahe drei Jahrzehnte lang die Bibliotheken Schaffhausen geleitet hatte, suchte eine Nachfolge. Jemand besseren als Oliver Thiele hätte er nicht finden können, sagt Specht heute. Er und seine Stellvertreterin Claudia Clavadetscher hinterliessen Thiele eine, in dessen Worten, «sehr gepflegte, traditionelle Studien- und Bildungsbibliothek». Selbst in der Agnesenschütte, welche die Unterhaltungsliteratur beherbergt, habe man auf einen «pädagogisch wertvollen Ansatz» Wert gelegt. «‹50 Shades of Grey› wäre den Bibliotheken Schaffhausen damals nicht ins Haus gekommen», sagt Oliver Thiele. «Das sehen wir heute nicht mehr so.» Ihm sei vielmehr wichtig, nicht nur reine Bestseller anbieten zu können, sondern auch mal ein interessantes Erstlingswerk, das im Buchhandel aufgrund der kleinen Auflage schnell vergriffen ist. Dies, obschon Thiele selbst sich als anspruchsvollen Leser sieht und am liebsten in Klassikern des 19. Jahrhunderts schmökert, Jane Austen etwa oder Theodor Fontane oder Virginia Woolf.
Thiele war keiner, der bei Antritt der Stelle in Schaffhausen alles vom Kopf auf die Füsse stellte. Aber er wollte sein Team kennenlernen. Und gleichzeitig hatten die Bibliotheken Modernisierungsbedarf. Darum holte Thiele sein ganzes Team mit ins Boot, als es um die Entwicklung der Strategie für die kommenden Jahre ging. Und er sorgte dafür, dass die Agnesenschütte künftig auch über Mittag und später auch sonntags offen hatte. Auch ein Selbstausleihsystem setzte er um.
Sein grosses Steckenpferd, erzählt Oliver Thiele, sei jedoch nicht der physische Bestand, sondern die Digitale Bibliothek. «Wir haben heute sicher eines der umfassendsten Angebote aller öffentlichen Bibliotheken der Schweiz – neu auch mit dem Sprachkurs Rosetta Stone und einem Manga-Portal.» Laufen tue dies wie geschmiert: 2013 waren gerade mal sechs Prozent aller Ausleihen digital, total 10 000 Downloads, 2022 waren es 45 Prozent respektive 155 000 Downloads.
Zu dieser Arbeit zählt Thiele auch die Vernetzung der Schaffhauser Bibliotheken. «Als ich anfing, arbeitete jede Bibliothek für sich, und die Gemeindebibliotheken waren IT-mässig nur schwach motorisiert.» Heute hingegen gibt es einen Schaffhauser Bibliotheksverbund, in welchem die Bibliotheken von Neuhausen, Thayngen und Hallau, das Didaktikzentrum der Pädagogischen Hochschule Schaffhausen, die Bibliothek des Staatsarchivs und neu auch die Mediathek der Kantonsschule zusammengeschlossen sind. 2024 kommt Stein am Rhein dazu – alles zentral in einem Katalog ersichtlich und mit einer Bibliothekskarte ausleihbar.
Fast seit seinem Stellenantritt hat Oliver Thiele als «Stadtbibliothekar» auch ein Profil auf X (ehemals Twitter). Dort teilt er nicht nur Artikel über Bibliotheken, die verstorbene Tina Turner, künstliche Intelligenzen oder Fundschätze aus verschiedenen Archiven, sondern bezieht auch Position. Ausfällig wird der «Stadtbibliothekar» dabei nie – auch dann nicht, wenn ihn Dinge offensichtlich beschäftigen.
Zu einem Beitrag der deutschen Wissenschaftlichen Buchgesellschaft über den «aneckenden» Autor Oscar Wilde hält er fest: «Nein, er eckte nicht mit seinem Humor und den unkonventionellen Geschichten an. Er ‹eckte an›, weil er offen schwul lebte. Und es war mehr als anecken. Er kam dafür ins Gefängnis und starb verarmt und geächtet.»
Oliver Thiele wusste früh, dass er schwul ist, schon als Jugendlicher. Dies ausgeklammert, habe er seine Schulzeit als lässig erlebt. Doch ausklammern lässt sich dies nun einmal nicht – das Aufwachsen als schwuler junger Mann in den 1970er- und 1980er-Jahren war alles andere als einfach.
Die nahe Stadt Zürich war in den Jahrzehnten zuvor rund um die Organisation «Der Kreis» zum Zentrum der europäischen Schwulenbewegung geworden. Doch die Repression nahm zu, insbesondere zur Zeit der damaligen Panik um die Krankheit AIDS. Sexualität als solche wurde zwar im Zuge der 68er-Bewegung allmählich enttabuisiert. Homosexuelle galten aber nach wie vor als Teil einer «abnormalen» Subkultur, die Polizei führte an gängigen Treffpunkten regelmässig Kontrollen durch und führte gar ein Schwulenregister.
Sogenannt «einschlägige Literatur» zu diesem Thema fand Oliver Thiele in dieser Zeit nur in grösseren Bibliotheken und spezialisierten Läden. Andernorts galt diese Literatur jedoch als schmuddelig – «und wenn es sie gab, dann hätte ich mich nie getraut, sie über den Schalter auszuleihen. Das kann ja bis heute ein heikler Schritt sein.» Die Diskretion, welche die heutigen Selbstausleihe-Automaten bieten, habe dies vereinfacht. Inzwischen gehört es aber auch dazu, als Bibliothek ein ganzes Bücherkarussell mit LGBTQ-Literatur anzubieten – «ein grosser Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte», sagt Thiele.
Mindestens etwas Gutes ist der «einschlägigen Presse» von damals jedoch entsprungen. Ende der 1990er-Jahre schaltete Oliver Thiele in einem der gängigen Magazine eine Kontaktanzeige. Über drei Ecken lernte er auf diesem Weg seinen Partner kennen, mit dem er bis heute zusammen ist. 2005 nahmen sich die beiden eine Wohnung im Zürcher Kreis 5, die sie bis heute bewohnen. Nach Schaffhausen pendelt er.
Dennoch ist die Erfahrung, dass einem Literatur verwehrt wird – in diesem Fall aus moralischer Panik – für Oliver Thiele auch ein Grund, warum er einen Bauchreflex entwickelt hat gegen Zensur. Oder auch gegen die Forderung, Bücher ganz zu verbieten. Dies wiederum betrifft seine Arbeit.
«Theodore Fontane beispielsweise ist bis heute einer meiner liebsten Autoren», schildert er, «aber ich zögere etwas, weil in den vergangenen Jahren klar wurde, was für ein grässlicher Antisemit er war. Obschon das in seinen grossen Romanen nicht deutlich ist, zieht das in mir trotzdem eine Handbremse.»
Doch Fontane aus dem Sortiment der Bibliotheken zu nehmen, käme Thiele nicht in den Sinn. Dies gerade auch angesichts dessen, dass etwa in den USA vermehrt Forderungen aus reaktionären Kreisen kommen, Bücher zu verbieten – weil sie etwa die Sklaverei thematisieren oder eben Queerness. In Schaffhausen sei dies bisher nicht vorgekommen. Die Ausstellung zu verbotenen Büchern, die bis vor Kurzem noch im Eingang der Bibliothek am Münsterplatz zu sehen war, habe zwar zu reden gegeben – und einmal sei gar das Porträt des indisch-britischen Autors Salman Rushdie abgehängt worden. Rushdie wird seit der Publikation seiner «Satanischen Verse» 1988 von religiösen Fanatikern verfolgt, vor einem Jahr überlebte er einen Messerangriff.
Wenn hierzulande das Mediensortiment einer Bibliothek öffentlich diskutiert wird, dann vielmehr in Bezug auf rassistische Darstellungen. Für Oliver Thiele steht aber fest: Warnkleber und Triggerwarnungen gibt es nicht. Auch Werke wie Winnetou, Jim Knopf und Pippi Langstrumpf dürfen im Sortiment der Bibliotheken bleiben – letztlich sei allen selber überlassen, ob man sie ausleihe und lese oder nicht. Wichtig sei ihm, dass die Ausleihe kostenlos und für alle zugänglich ist – und man sich so ein eigenes Bild der Literatur machen kann.