Vor dem Spiel gegen GC träumte ich von Toren und heroischen Grätschen. Bekommen habe ich Pasta, Ellenbogen und ohrenbetäubendes Gebrüll.
Der Ellenbogen des GC-Stürmers bohrt sich in meinen Brustkorb. Für einen Moment gerate ich aus dem Gleichgewicht. Ich stehe kurz vor unserem Strafraum. Hinter mir brüllen hunderte GC-Fans ihre Fangesänge, als hänge ihr Leben davon ab.
Ich muss wieder an den Stürmer rankommen, denke ich und versuche, ihn am Arm zu greifen. Noch ehe ich an ihm dran bin, kommt ein scharfer, flacher Pass zum Stürmer. Der Stürmer entgleitet mir, zwei-, dreimal tippt er den Ball an, und schon ist er in unserem Strafraum. Irgendwie versuche ich, ihm seitwärts den Weg zu unserem Tor abzuschneiden, mit so kleinen Schritten wie möglich, so nahe dran wie möglich. Ich warte. Noch ein bisschen. Dann sehe ich, wie der Stürmer den Ball ein bisschen zu weit vorlegt. Ich riskiere es. Ich setze zur Grätsche an. Mein rechtes Bein federt nach vorn, und den Oberkörper werfe ich Richtung Boden. Einen Moment lang schwebe ich in der Luft. Dann spüre ich, wie mein Fuss etwas trifft. Besorgt schaue ich zum Schiedsrichter. «Ball gespielt», sagt er. Erleichterung. Ich richte mich keuchend auf. Jetzt mal etwas durchschnaufen, denke ich.
Doch der Stürmer steht längst wieder. Der Ball zischt schon wieder auf unsere Verteidigung zu. Lange geht das nicht gut, denke ich.
Cup-Traum
Montag, 3. Juli. Auf meinem Handy verfolge ich die Auslosung der ersten Runde im Schweizer Cup. Nach zehn endlosen Minuten erscheint endlich das Los mit dem Aufdruck «SV Schaffhausen». Zugelost wird uns der Rekordmeister GC, der vier Ligen höher spielt. Keine Sekunde später fliegen die Benachrichtigungen aus dem Mannschafts-Chat über meinen Bildschirm. «Freilos», schreibt einer unserer Stürmer. Ich antworte: «Mindestens ein 3:0-Sieg für uns.»
In den Wochen danach ist der Cup-Match, das Spiel der Saison, aber eine Randnotiz. Wir sprechen nur sporadisch darüber. Der Kühlschrank in der Mannschaftskabine wird mit der selben Frequenz wie eh und je mit Bier gefüllt und wieder geleert. Auch die Ferienpläne bleiben unangetastet. Der beinharte Rechtsverteidiger verabschiedet sich für ein Wochenende nach Barcelona. Unser Torgarant reist kurz vor dem GC-Spiel in die Partyhochburg Ibiza.
Richtig in den Fokus rückt der Cup erst in der Woche des Spiels. Unsere Trainings interessieren normalerweise niemanden. Doch jetzt besuchen uns zwei Journalisten mit Mikrofon und Kamera. Nach dem Training soll ich zum Interview antreten. Das einzige, was der Journalist über mich weiss, ist, dass ich keine Erfahrung vor der Kamera habe. «Vorname, Nachname und Position bitte in die Kamera sagen und nachher ein bisschen schräg stellen und nur noch mich anschauen», weist er mich an. Dann fragt er: «Was braucht es, um ein Cup-Wunder zu schaffen?» Ich stutze. Fussballer wirken in Interviews oft nicht sonderlich intelligent. Vielleicht liegt das nicht nur an den Fussballern, sondern auch an den Fragen der Sportjournalisten, denke ich. Bei der Antwort stottere ich dann ein-, zweimal, und die «ähms» vervollständigen meinen Satz ein bisschen zu oft. Ich bin weder Fussball- noch Fernsehprofi, stelle ich fest.

Ein bisschen Profigefühl kommt am Samstagabend auf, einen Tag vor dem Spiel. Wir trainieren im Stadion des FC Schaffhausen, wo das Spiel ausgetragen wird. Unser Platz, der Bühl, wird gerade renoviert. Wir trainieren wie aufgedrehte Duracell-Häschen. Der Assistentztrainer fragt mich: «Schon nervös?» – «Nein, gar nicht», flunkere ich. Und weil nach dem Training der Energiespeicher wieder aufgefüllt werden muss, gehe ich mit drei Mitspielern noch beim Italiener essen. Wir entscheiden uns für Pasta. Das ist besser vor dem Spiel als Pizza, sagen wir uns und bestellen ein kleines Bier und Süssgetränke dazu.
Später suchen wir die WG des Mitspielers auf. Nach Spielen treffen wir uns oft hier, um danach auszugehen. Heute aber schauen wir in Ruhe die Spiel-Zusammenfassungen der höchsten englischen Liga. Wir sind uns einig: Was die Profis da veranstalten, ist gar nicht so viel besser als das, was wir auf dem Spielfeld jeweils zeigen.
Schuhe, Socken und Mate-Tee
An diesem Abend habe ich Mühe einzuschlafen. Der Inhalt meines Kopfs gleicht den unendlichen Videoschlaufen auf TikTok. In meiner Fantasie grätsche ich Renat Dadashov ab, den Stürmer bei den Hoppers, der in der Vergangenheit für Leipzig und Frankfurt spielte. Ich kläre den Ball von der eigenen Torlinie oder erziele in der Nachspielzeit den Ausgleich vor der GC-Fankurve.
Am frühen Morgen reisst mich die Sonne aus dem Schlaf. Sofort bin ich hellwach. Heute ist das Spiel, denke ich nur. Ich spanne meine linke Wade an, dann die rechte und schliesslich die Oberschenkel. Die Beine scheinen ziemlich frisch zu sein. Ein gutes Gefühl. Langsam richte ich mich auf und mache die ersten Schritte. Ein lauter Knall kommt aus meinem Knie. Alles gut, beruhige ich mich. Seit ich mir beim Fussball den Meniskus gerissen habe und operiert werden musste, knallt es jeden Morgen.
«Ob die GC-Spieler ihr Geschirr auch selber in die Küche tragen?»
Die Anspannung im Rest meines Körpers bleibt. Normalerweise bin ich froh, wenn meine Sonntage so langsam wie möglich verstreichen. Doch heute ist das Schleichen des Minutenzeigers eine Qual. Die Beine kribbeln. Brustkorb und Magen ziehen sich zusammen. Sicher drei Mal überprüfe ich, ob in meiner Sporttasche alles Nötige drin ist. Um 12 Uhr folgt eine erste kleine Erlösung: Treffen mit der Mannschaft und Mittagessen im VIP-Saal des FCS-Stadions. Es gibt wieder Pasta.
Wie ich so in die Runde schaue, fällt mir auf, dass jeder seine eigene Art hat, mit der Nervosität umzugehen. Der Mittelfeldspieler hat sich neue, schneeweisse Fussballschuhe gekauft. Der Linksverteidiger hat sogar einen Mate-Tee, wie er in Südamerika getrunken wird, aufgesetzt. Nach dem Vorbild von Messi und Suarez. Nie zuvor habe ich ihn diesen Tee trinken sehen. Er bemerkt meinen Blick und sagt: «Heute kommt das SRF – Showtime.» Selbst unsere Trinkflaschen sind heute mit isotonischen Getränken gefüllt. Normalerweise gibt es nur Wasser. Und auch ich, ansonsten alles andere als abergläubisch, habe heute die Socken meines Bruders angezogen. Die Socken haben ein grosses Loch an den Fersen. Als ich sie einmal ausgeliehen hatte, schoss ich ein Tor. Vielleicht klappt es ja nochmals.
Als die Pasta mit Tomatensauce verschlungen ist, bringen wir einer nach dem anderen das Geschirr in die Küche. Teller in den Schüttstein, Servietten in den Kübel. «Ob die GC-Spieler auch selbst abräumen?», frage ich meinen Sitznachbarn.
Als wir zur Kabine im Bauch des Stadions gehen, hält uns Jeff Baltermia vom SRF an. Er will uns filmen, wie wir Richtung Kabine gehen. Ganz natürlich soll es wirken, sagt er. Noch nie bin ich unnatürlicher gegangen als in diesem Moment.
Unsichtbare Profis
Inzwischen sind auch die GC-Spieler im Stadion eingetroffen. Das vermute ich zumindest, denn den Gang hinunter, wo ihre Kabine ist, verdecken provisorische Trennwände die Sicht. Was die Profis vor dem Match treiben, ist wohl ein streng gehütetes Geheimnis.
Bei uns hingegen ist alles wie immer. Nur die Kabine ist grösser. Für einmal können wir uns umziehen, ohne mit dem Sitznachbarn kuscheln zu müssen. Als die Fernsehcrew weg ist, drehen wir die Musik auf. So laut, dass Gespräche unmöglich sind. Jeder ist jetzt in seiner eigenen Welt und versucht, sich irgendwie abzulenken.
Kurz danach flattert ein Zettel mit der Aufstellung der Grasshoppers in die Kabine. Die Grössen der Spieler werden angegeben. Sieben Spieler sind rund einen Meter neunzig gross. Bei uns ist genau einer so gross, und der sitzt auf der Bank. David gegen Goliath im wortwörtlichen Sinn. Meine Verteidigerkollegen und ich schauen uns ungläubig an. Wir zucken mit den Schultern.

Schon unten im Tunnel der Katakombe hört man den Lärm von den Zuschauerrängen. Wir nehmen die steilen Betonstufen hinauf aufs Feld. Der Sektor, in dem der Neustadt Ghetto Mob, unser Fanclub, Platz genommen hat, ist schon gut gefüllt. Als sie uns entdecken, ertönt ein Applaus, wie ich ihn noch nie erlebt habe. Die Haare an meinen Armen stellen sich auf. Nichts gegen unsere Heimstätte auf dem Bühl, auch dort erscheinen an guten Tagen mehrere hundert Menschen und feuern uns an. Aber das heute ist auf einem anderen Level.
Ich grinse wie ein Primarschüler, der zu viel Süssigkeiten bekommen hat, und winke Bekannten auf der Tribüne zu. Im selben Moment blicke ich verlegen zu Boden. Ist es okay, so zu lachen? Wirkt das unprofessionell?
Ach was, denke ich. Solche Sorgen sollen sich die Grasshoppers machen, die nun das Feld betreten. Es ist das erste Mal, dass ich sie heute sehe.
Eins, zwei, Boom!
Dann pfeift der Schiedsrichter das Spiel an. Endlich. Kurz ist es ruhig im Stadion. Dann beginnen 700 GC-Fans auf der Tribüne zu singen. Sie sind direkt hinter unserem Tor, vielleicht dreissig Meter hinter mir. «Es git nur ein Verein! Woni folge wett, us dä schönste Stadt! Es isch de GCZ!», dröhnt es zwischen Trommelschlägen. Vier Mal schreie ich meinem Mitspieler zu: «Links! Links!« Doch meine Rufe gehen in den Zürcher Gesängen unter.
Das ist umso schlimmer, da GC zum Start richtig powert. Nach jeder Balleroberung fliegen die gelben Shirts der Hoppers auf mich zu. Von links, von rechts. Kaum habe ich den Ball mal erobert, höre ich ihre Schuhe über den Kunstrasen auf mich zuflitzen. Dann spüre ich eine Schulter in meiner Seite, und schon ist der Ball wieder weg. Im Sekundentakt fliegt der Ball auf unser Tor zu.
Plötzlich schnappt sich GC-Aussenverteidiger Hoxha an der Strafraumecke den Ball und zieht ab. Ein wunderschönes Tor. Geschockt schaue ich hoch zur Stadionuhr. Siebte Minute. Ich rechne. Wenn es so weitergeht, kassieren wir bis zum Abpfiff zehn Tore. Gleichzeitig fühle ich mich seltsam erleichtert. Wir hatten nie etwas zu verlieren. Und jetzt sowieso nicht mehr.
Mit jedem Pass, mit jedem gewonnenen Zweikampf steigt mein Selbstvertrauen. Vielleicht ist hier doch mehr drin, denke ich. Und dann: ein Pass vom GC-Goalie zu seinem Mittelfeldspieler. Der dreht sich. Ein zweiter scharfer Pass nach links. Zwei meiner Mitspieler sind ausgespielt. Francis Momoh, Flügelstürmer der Zürcher, sprintet los. In meinem Augenwinkel sehe ich Bradley Fink. Fink ist ehemaliger Junioren-Nationalspieler und spielte bei Borussia Dortmund im Nachwuchs. In der Juniorenbundesliga schoss er in 17 Spielen 17 Tore. Er steht hinter mir. Mit dem ersten Ballkontakt flankt Momoh den Ball flach und scharf in die Mitte. Ich höre einen Mitspieler brüllen: «Fabio, im Rugge. Er chunnt!» Doch es ist schon zu spät. Fink schiebt mit rechts ein. Eins, zwei, Boom!
Was am Tag zuvor im Fernsehen noch kinderleicht ausgesehen hat, fühlt sich nun an, als würde ich in Zeitlupe spielen und die Grasshoppers mit doppelter Geschwindigkeit.
Beim 2:0 bleibt es lange. Uns fehlt die Kraft, um selber Chancen zu kreieren, und die Hoppers scheinen zufrieden mit dem Vorsprung. Zu Chancen kommen sie dennoch ab und an. Bradley Fink köpfelt aus einem Meter über das Tor. Er lacht mich an und sagt: «Wie chani de nid mache?» Ich will ihm sagen, dass ich ihm nicht helfen kann. Ich bin Verteidiger. Ein Tor schiesse ich ungefähr jedes Schaltjahr. «Danke häschen denäbed gsetzt», sage ich. Wenige Minuten später, nach unserer einzigen nennenswerten Chance, schiesst er doch noch ein Tor per Kopf. Dann wird er ausgewechselt.
Für ihn ins Spiel kommt Pascal Schürpf, ein routinierter Profi. In der 88. Minute erzielt er das 4:0. Dann ist das Spiel vorbei. Meine Beine fühlen sich an, als seien sie aus Gummi. Unser Mittelfeldmotor zeigt mir fünf Stellen an seinen Beinen, an denen er Krämpfe hatte. Die GC-Spieler sehen es aus, als hätten sie gerade ein lockeres Training absolviert.

Als Belohnung für die schmerzenden Beine will ich mir ein Souvenir sichern. Ich frage Pascal Schürpf nach seinem Trikot. «Klar doch», antwortet er. Nach meinem Trikot fragt er nicht. Dafür bin ich ihm dankbar. Ich habe nur ein Trikot. Ein neues müsste ich selber bezahlen, 120 Franken, was meine Finanzen als Student stark strapazieren würde. Mit Schürpfs Trikot in der Hand gehe ich hoch zur Tribüne, wo meine Familie wartet. Umarmungen gibt es keine. Dafür sind meine Kleider nach 90 Minuten in brütender Hitze zu sehr mit Schweiss getränkt.
Pasta alla Genovese oder Pommes?
Als ich Richtung Kabine schreite, ärgere ich mich ein wenig. Vor so viel Publikum zu spielen, macht schon richtig Spass. Wäre geil, wenn es jedes Wochenende so wäre. Vielleicht hätte ich doch hartnäckiger versuchen sollen, Profifussballer zu werden. Damals, mit 19, spielte ich für den FC Schaffhausen. Es reichte zu 20 Minuten in der Challenge League. Nach einem Jahr hörte ich auf, um ein Studium anzufangen. Ich glaube, das war der richtige Entscheid. Wahrscheinlich hätte ich mich nicht als Profi durchgesetzt. Dafür bin ich zu wenig talentiert. Aber jetzt zweifle ich an meiner Entscheidung.
Wie ich übers Feld gehe, sind die Grasshoppers längst verschwunden. Als sei das Spiel bloss meiner Fantasie entsprungen. Aber dann entdecke ich einen Beweis. Im Kübel des Gangs. Darin liegt ein Einwegteller mit Resten von Penne alla Genovese. Die GC-Spieler werden das gleich hier gegessen haben. Schnelle Zuführung von Energie nach dem Spiel ist wichtig, habe ich mal irgendwo gehört.
Meine Teamkollegen und ich gehen zu McDonald’s und langen ordentlich zu. Dann setzen wir uns in eine Bar, bestellen ein Bier. Wir schauen die Analyse unseres Spiels auf SRF. Experte Beni Huggel sagt, wir hätten den GC-Spielern zu viel Freiraum gelassen. Man habe einen Klassenunterschied gesehen.
Na, na, lieber Huggel national, sagen wir. Und kommen zu folgender Erkenntnis: Angenommen, Huggel hätte das ganze Jahr über so viel Bier getrunken wie wir, hätte er sich gegen GC weitaus schlechter geschlagen. Irgendjemand bestellt noch eine Runde Bier. Meine Zweifel über die verpasste Fussballerkarriere sind längst verflogen.