Vreni Homberger hat ihr Leben den Wildtieren gewidmet. Mit 80 arbeitet sie 15 Stunden täglich, und lässt sich dabei von einem Kakadu ankrähen.
Am Beringer Südhang, inmitten von asphaltierten Vorplätzen, Steingärten und akkurat geschnittenen Thujahecken, gibt es ein klemmendes Gartentor. Es führt in eine Oase, die nicht hierher zu gehören scheint. Am Wegesrand wachsen Brennnesseln schulterhoch, daneben ein Holunderstrauch, grösser als die meisten Obstbäume in den umliegenden Gärten. Und alles wird überschattet von grossen Laubgehölzen. Ein kleiner Urwald, angenehm kühl und dunkel trotzt er der Sommerhitze. Und wenn man sich fast schon sicher ist, man habe sich auf dem verzweigten Wegsystem verlaufen, gelangt man zu einem kleinen Haus. Es ist, als sei man in einem Disneyfilm.
Die Prinzessin in diesem Film wäre Vreni Homberger. Sie ist 80 Jahre alt, promovierte Tierärztin. Homberger wohnt seit über 40 Jahren in diesem Häuschen im eigenen kleinen Urwald. Unter ihrem Dach wohnen ausserdem: ein Hund, zwei Katzen, ein Kakadu, mehrere Nymphensittiche, neun Schildkröten, Hühner und ein gutes Dutzend Mauersegler in Schuhkartons. Und gerade landet auch noch eine Taube auf dem Fenstersims. «Die gehört nicht mir, sie findet es einfach lässig hier», erklärt Homberger. Eigentlich sei es eine Brieftaube, das könne man an den Ringen erkennen, die sie an beiden Füssen trage. Aber offenbar habe es ihr «gestunken», wieder nach Hause zu fliegen und dann habe sie sich hier eine andere Taube «angelacht». Seither wohnt das Taubenpaar in Hombergers Wäldchen.
Woher kommt diese märchenhafte Anziehungskraft, die Vreni Homberger offenbar auf die Tierwelt ausübt? Woher nimmt sie mit 80 noch die Energie, sich um so viele kleine Geschöpfe zu kümmern? Und was machen all die Mauersegler in der Schuhkartons? Zu Besuch bei einer Forscherin, Ärztin, Mutter, Hausfrau und Schaffhauser Wildtierpflege-Pionierin.
Dissertation über Zwergschweine
Schon als kleines Mädchen sammelte Vreni Homberger kranke oder verletzte Tiere ein und pflegte sie gesund. Später studierte sie in Zürich Tiermedizin. Sie war die einzige Frau im Studiengang. Sie arbeitete für kurze Zeit in der Zootierklinik im Tierspital Zürich, schrieb eine Doktorarbeit über «das Längen- und Dickenwachstum der langen Röhrenknochen bei vietnamesischen Hängebauchschweinen und Göttinger Zwergschweinen». Da war sie bereits Mutter von vier Kindern und Hausfrau. Als die Familie Anfang der 80er-Jahre nach Beringen zog, ging sie ausserdem in die Politik, zuerst als Einwohnnerrätin, dann als Kantonsrätin für die SVP und später in die Beringer Naturschutzkomission, in der sie bis heute sitzt. Öffentlich setzte sie sich etwa gegen den Abschuss von Kormoranen ein. Längst hatte sich ihre Tierliebe und Erfahrung herumgesprochen und wildfremde Menschen begannen, gefundene Tiere bei ihr abzugeben, vor allem Vögel und Igel. Sie wussten: Vreni Homberger würde nie ein Tier ablehnen.

Schildkröten hält Vreni Homberger, seit sie in der dritten Klasse war. «Die hier ist älter als ich, sie müsste um die 95 sein», sagt sie, und zeigt auf eine der Griechischen Landschildkröten, die gerade aus ihrem Häuschen im Dschungelgarten gekrochen kommen. «Damals konnte man Schildkröten noch für ein paar Franken in der Migros kaufen.» Vier der neun Schildkröten gehörten ihrem Sohn, später kamen drei Junge hinzu. Aber wo die neunte herkommt, weiss niemand. Eines morgens war da plötzlich eine ausgewachsene Schildkröte mehr im Gehege.
Die Voliere mit den Nymphensittichen im ersten Stock geht auf einen Abend Anfang der 80er-Jahre zurück, als ein Bauer aus Guntmadingen vor Hombergers Tür stand. Er sagte, er wandere nach Kanada aus und könne den Vogel nicht mitnehmen. Homberger konnte nicht Nein sagen. «Dann hat der Vogel den ganzen Tag die Arie der Königin der Nacht gepfiffen, bis ich so genervt war, dass ich ihm ein Weibchen geposchtet habe», sagt sie. Dann hatte sie auf einmal 14 Nymphensittiche, beschenkte die ganze Verwandtschaft mit den Vögeln, ein paar brachte sie zur Zoohandlung und hatte trotzdem noch die ganze Voliere voll. «Jetzt hat es schon länger keine Jungen mehr gegeben, ich glaube, das sind alles Männchen hier drin.»
Und dann ist da auch noch der Gelbhauben-Kakadu Knacki. «Er ist das einzig wertvolle, was ich im Haus habe, Kakadus kosten mehrere tausend Franken. Aber Knacki klaut ganz bestimmt niemand», sagt Homberger. Sigi «Trompetensigi» Michel persönlich habe ihr Knacki einst in einem kleinen Käfig auf den Stubentisch gestellt. «Er hatte ihn von jemand anderem übernommen, weil Knacki vorher sein Weibchen umgebracht hat und bei Sigi in der Voliere ist er auch auf die anderen Vögel los.» Für einen Kakadu sei Knacki aber «eigentlich ein Lieber», sagt sie während sie auf die abgeraspelten Treppengeländer und die Stelle zeigt, wo Knacki ein ganzes Brett aus der Täferung gehackt hat. Immer morgens lasse sie ihn aus seiner Voliere (er hat eine eigene). «Mich lässt er meist in Ruhe, er sitzt auch gerne auf meiner Schulter. Aber wenn es ihm verleidet, nimmt er meine Brille und wirft sie weg.» Im Erdgeschoss kräht Knacki ohrenbetäubend. «Kakadus sind eigentlich keine Vögel zum Halten, man kann denen gar keine geeignete Umgebung bieten.»
Die meisten Tiere, die bei Vreni Homberger abgegeben wurden, waren aber Wildtiere. Junge Igel, die zu wenig Winterspeck angefressen haben, Jungvögel, die aus dem Nest gepurzelt sind. Bald pflegte Homberger bis zu 200 Vögel pro Saison, teilweise 16 Stunden täglich, sieben Tage die Woche. «Als ich angefangen habe, landeten ganze Nester voller Jungvögel noch im Grünabfall. Und es gab kaum Erfahrungen in der Wildtierpflege, vor allem bei den Medikamenten. Man musste selbst schauen und testen, was funktioniert, und es dann den Kolleginnen anderen Kantonen weitersagen.» In Schaffhausen war Homberger die erste Tierärztin, die sich der Wildtierpflege widmete. Daran verdient hat sie in den 35 Jahren nie etwas.
Als es ihr vor gut 10 Jahren zu viel wurde, gründete sie einen Verein und quartierte ihre Pflegestation in ein leerstehendes Haus in Beringen aus. Mittlerweile befindet sich die Station in Guntmadingen, pflegt bis zu 600 Vögel jährlich und wird unter anderem von Vreni Hombergers Sohn und Schwiegertochter geführt. Ein bescheidener Kantonsbeitrag und Spenden decken die Kosten.
Doch pensioniert ist Vreni Homberger deshalb noch lange nicht. Als die Mauersegler diesen Sommer reihenweise aus ihren Nestern zu purzeln begannen, konnte sie nicht tatenlos zusehen.
15 Stunden täglich Vögel füttern
Vreni Homberger öffnet einen der Schuhkartons, die sich im ersten Stock stapeln und greift vorsichtig hinein. In dem Zimmer wohnte früher einer ihrer Söhne, heute ist es ein Gästezimmer (manchmal auch für Menschen). Das Licht ist schummrig, es riecht säuerlich. «Der hier ist fast bereit zum Gehen, seht ihr, der ist völlig gisplig», sagt Homberger und dreht den Vogel auf den Rücken. «Die Federn hier an der Flügelunterseite müssen noch ein bisschen wachsen, sie sind noch in dieser Hülle eingepackt. Wenn sie ausgewachsen sind, platzt die Hülle auf.» Der sechs Wochen alte Mauersegler lässt ein kleines Häufchen zu Boden fallen.
Mauersegler brüten vornehmlich unter Dächern. Und wenn es im Sommer heiss wird, wollen die Jungen möglichst nahe an den Nestrand, um frische Luft zu schnappen. Oft fallen sie dann hoch hinunter oder werden von Greifvögeln attackiert. Und wenn sie gefunden werden, bringt man die verletzten und nicht ausgewachsenen Vögel in die Pflegestation. Weil sie dort bereits überlastet waren, hat Vreni Homberger zwei Drittel der Segler zu sich nach Hause genommen. «Einen Drittel habe ich dort gelassen, damit sie auf der Station das Segler-Füttern nicht verlernen.»
Sie nimmt den nächsten Vogel aus der Kiste, um zu zeigen, wie man Mauersegler füttert. «Dem hat als Nestling irgendwas zwei Schwungfedern ausgerissen, wahrscheinlich ein Falke, der ihn rauszüpfeln wollte. Dabei hat er sich offenbar auch den Hals ausgerenkt. Ich habe den Hals», sie zeigt eine Bewegung, als würde sie eine Zigarette rollen, »sorgfältig in die Länge gezogen und dann die Wirbel wieder eingehängt.» Mit einem anderen Mauersegler, der sich den Flügel gebrochen hatte, macht sie täglich Physiotherapie. Die meiste Arbeit aber macht das Füttern. Fünfmal täglich muss sie jedem einzelnen Vogel den Schnabel öffnen und mit einer Pinzette zwölf Grillen oder Bienendrohnen in den Hals stecken. Damit ist Homberger von sieben Uhr Morgens bis zehn Uhr abends beschäftigt.
Sie nimmt noch einen Vogel aus ihrer «kleinen Bourbaki-Armee» zur Hand. «De ander isch grösser gsi, du bisch doch gar au en miggerlige», sagt sie. Der Vogel habe sich den Fuss gebrochen. «Der ist jetzt abgestorben, aber das wird ihn nicht gross stören, die sind ja immer in der Luft, ausser beim Brüten.» Nun im Hochsommer werden die Vögel unruhig, bereits Anfang August fliegen Mauersegler unserer Breitengrade in Richtung Südafrika. «Während der Zugzeit tun die so blöd, flattern bis zur totalen Erschöpfung, die wollen nur noch gehen. Vorgestern Nacht ist einer gestorben, der hat nicht mehr gefressen und was man ihm gefüttert hat, hat er einem wieder ins Gesicht gespuckt. Ich habe den seit Mitte Mai täglich fünf mal gefüttert, und dann kurz vor dem Ziel dieser Totalboykott. Er hätte nur noch eine Woche durchhalten müssen. Da mag eim.»
Im Hintergrund kräht Knacki, der Hund bellt.
Und wann hören Sie auf?
«Wissen Sie», sagt Vreni Homberger, während sie auf der Treppe um ihre blinde 17-jährige Katze herummanövriert, «wenn man nie angestellt war und nie Zahltag hatte, ist es nicht so einfach zu sagen: So, jetzt bin ich pensioniert.» Sie übernehme aber eigentlich nur noch, wenn die «drüben» überlastet seien. Oder wenn man etwas über Nacht füttern muss. «Letzten Frühling habe ich Füchsli und Siebenschläfer aufgeschöppelt, in anderen Jahren Igel, das hat dieses Jahr die Mutter meiner Schwiegertochter übernommen.»
Wenn man Vreni Homberger zuhört, kann man sich nicht vorstellen, dass sie jemals aufhören wird, Tiere bei sich aufzunehmen. Doch sie setzt mittlerweile Grenzen.
«Letzten Samstagabend hatte jemand das Gefühl, ich käme einen weissen Vogel abholen, der bei ihm auf dem Balkon sass», erzählt sie. «Ich habe gesagt, wenn er ihn habe, könne er ihn vorbeibringen. Aber mit 80 gehe ich keine Vögel mehr einfangen.»
