Pionierinnen

3. August 2023, Simon Muster
Anita Galetti (links) und Franziska Ganz auf dem Kunstrasen der Spielvereinigung. Foto: Peter Pfister

Vor 56 Jahren entstand das erste Frauenteam in Schaffhausen. Eine Ballstafette mit zwei Fusballerinnen der ersten Stunde.

Wenn Franziska Ganz über ihre jüngere Schwester spricht, nennt sie diese «Müsli». Anita Galetti lacht dann – «So sagt sie mir schon immer.» Die beiden Schwestern, gebürtig Studer, beugen sich über alte Fotos. Darauf sind junge Frauen zu sehen, die für Teamfotos posieren – zuerst in weissen Shirts und schwarzen Shorts, später dann in gestreiften Fussballtrikots, die so manch modernes Design in den Schatten stellen. «Das hat unsere Mutter damals genäht», sagt Franziska Ganz, während sie das nächste Bild hervorkramt.

Ihre Mappe überquillt mit Fussballgeschichte: 1967 entstand innerhalb des Wehrsportvereins Schaffhausen (WSV) das erste Schaffhauser Frauenteam. Dessen erste Spielerinnen: die Studer-Schwestern. Als sich 1970 schweizweit Vereine zur «Schweizerischen Damenfussball Liga» zusammenschlossen, dockte das Team der WSV zuerst beim FC Schaffhausen an, wechselte dann aber wegen Unstimmigkeiten fast vollständig zur Spielvereinigung (Spielvi) auf der Breite.Dort sitzen wir an einem Montagmorgen an einer hölzernen Festbank. Das Clubhaus bleibt heute geschlossen, und auch auf dem Kunstrasen herrscht bis jetzt noch Ruhe.

Mit an der Festbank sitzt auch Bruno Ganz, der Ehemann von Franziska. Kennengelernt haben sie sich – er Libero beim FC Flurlingen, sie Libera bei der WSV – vor über 50 Jahren auf dem Fussballplatz. Später trainierte er das Frauenteam der Wehrsportvereinigung auch. Seither bilden sie ein eingespieltes Team; so eingespielt, dass Bruno manchmal auch Steilvorlagen annimmt, die eigentlich für Franziska gedacht waren.

Am Sonntag haben die Schweizerinnen an der Weltmeisterschaft gegen die Gastgeberinnen aus Neuseeland gespielt und sich mit einem torlosen Unentschieden für den Achtelfinal qualifiziert. Haben Sie das Spiel mitverfolgt?
Anita Galetti Ja, klar! Ich bin mit dem Tablet auf den Balkon gesessen und habe nebenbei gglismet.

Und, zufrieden mit der Leistung?
Anita Galetti Das Spiel war ein wenig schwerfällig. Der Match gegen Norwegen hat mir besser gefallen.
Franziska Ganz Früher gefiel mir, dass die Frauen nicht wegen jedem Zweikampf umgefallen sind. Aber heute machen sie das wie die Männer.
Anita Galetti Es hat natürlich auch ein paar Hammerfrauen auf dem Feld. Das musst du zuerst einmal aushalten, wenn dich so eine tackelt.

Ich sehe: Die Fussballbegeisterung ist noch da. Können Sie sich erinnern, wo sich ursprünglich Ihre Leidenschaft für den Sport entfacht hat?
Anita Galetti An den Grümpelturnieren. Damals nannten wir uns die «Spitz-Kick-Girls».
Bruno Ganz Entstanden ist das ganze ja aus der Wehrsportvereinigung Schaffhausen. Hans Studer, ihr Vater (er zeigt auf Franziska und Anita Studer) war Waffenläufer. Und die Wehrsportvereinigung durfte damals eine Turnhalle benutzen. Weil sie aber zu wenig Leute hatten, nahm Hans Studer irgendwann seine Töchter mit. So waren sie zwar immer genug Leute, damit die Wehrsportvereinigung die Halle weiter mieten konnte. Aber weil es damals noch keinen Waffenlauf für Frauen gab, wusste der Vater nicht, was mit ihnen anzufangen war. So sind die «Spitz-Kick-Girls» entstanden. Stimmts?
Franziska Ganz Ja, das hast du gut zusammengefasst (lacht).

Woher haben Sie dann Ihre Teamkolleginnen rekrutiert?
Franziska Ganz Weil wir das erste Frauenteam in Schaffhausen waren, hat sich das schnell in der Stadt herumgesprochen. Es hat sich gezeigt: Viele Mädchen wollten gerne Fussball spielen.
Anita Galetti Manchmal waren wir dann so viele, dass wir an Grümpelturnieren sogar zwei Teams stellen konnten.

Die «Spitz-Kick-Girls» mit Trainer Hans Studer. Anita und Franziska rechts im Bild. Foto: zVg

Und, waren Sie auch erfolgreich?
Franziska Ganz Wir waren schon gut, oder? (lacht)
Anita Galetti Ja, doch. Aber wir haben manchmal auch auf den Deckel bekommen. Nicht gerade ein Stängeli (zehn Gegentore, Anm. d. Red.), aber die Zürcher Teams waren schon sehr stark.

Die Tendenz, die eigene Leistung klein zu halten, dringt während des Gesprächs immer wieder durch. Bevor die beiden Schwestern eine Frage beantworten, blicken sie einander oft vielsagend an, ganz so, als würden sie den nächsten Spielzug planen. Ihre Spielphilosophie: Bescheidenheit. Ihre Taktik: den Ball flach halten. Nicht selten relativieren sie einen Erfolg, auf den der Journalist aufmerksam macht, umgehend: «So gut waren wir gar nicht.» Oder: «Aber weisst du, früher war der Frauenfussball auch einfach nicht so gut.» Für die Lokalpresse war damals aber klar, dass die «Spitz-Kick-Girls» das Team der Stunde waren:
«Nun haben wir bereits dieses Jahr mit drei Damenmannschaften starten können – und wiederum siegten die «Spitz-Kick-Girls» der WSV Schaffhausen am Turnier in Schaffhausen und in Feuerthalen. Am nächsten Sonntag hingegen gilt es ernst, denn die WSV-Damen bestreiten in Zürich ein schweizerisches Damenfussball-Turnier. Dieses Turnier vermochten die Schaffhauser Damen im letzten Jahr bei grosser Konkurrenz zu gewinnen. Dieses Jahr gilt es, den Titel zu verteidigen.» (Schaffhauser Nachrichten vom 13. Juni 1970)

Ich habe hier einen Matchbericht von 1970 aus den Schaffhauser Nachrichten mitgenommen. Können Sie mir diese Stelle vorlesen?
Anita Galetti (liest eine Bildunterschrift) «Damenfussball wird speziell von reiferen Schülerinnen, Lehrmädchen, jungen Berufstätigen usw. gespielt. Dementsprechend sind die Teams auch meistens recht attraktiv.»
Franziska Ganz Ist das Marie-Therese auf diesem Bild?

Eigentlich habe ich diese Stelle gewählt, weil sie stellvertretend für viele sexistische Kommentare ist, die ich in den Zeitungsarchiven gefunden habe.
Anita Galetti Ja, einige Männer haben uns damals schon belächelt und von «Weiberfussball» gesprochen.
Franziska Ganz Viele Väter haben ihren Töchtern gesagt, sie sollen lieber Ballett tanzen oder turnen. Aber wenn man halt Fussball spielen wollte, war Ballett keine Alternative. Unterdrückt haben wir uns aber nie gefühlt.
Bruno Ganz Ich kann mich an keine sexistischen Kommentare erinnern.
Franziska Ganz Vor 50 Jahren wurden Frauen noch nicht so behandelt wie heute. Man sagte damals, die Frauen gehören hinter den Herd. Das haben wir gemacht, aber wir haben nebenbei auch noch Fussball gespielt.

Solche Kommentare würde man aber heute nicht mehr in der Zeitung lesen …
Franziska Ganz Aber halt mal, heute ist es zum Teil schlimmer!
Anita Galetti Als gestern Alisha Lehmann bei den Schweizerinnen eingewechselt wurde, haben sie gleich zuerst ihren Hintern im Fernsehen gezeigt. Dann eine Nahaufnahme ihrer langen Wimpern.
Franziska Ganz Gut, es ist ja schön, wenn sie auch auf dem Fussballplatz gut aussehen will.
Anita Galetti Ja, klar. Ich will nur sagen: Lehmann wird unterschätzt. Natürlich legt sie Wert auf ihr Aussehen, aber sie hat auch einiges auf dem Kasten.

Haben Sie Ihr Fussballspielen damals als feministischen Akt verstanden?
Beide Nein.
Franziska Ganz Feministinnen waren die, die sich damals für das Frauenstimmrecht eingesetzt haben. Wir haben das damals nicht mitverfolgt. Wir hatten einfach Freude am Fussballspielen. Aber eines muss ich schon sagen: Wenn ich den Jungen heute erkläre, dass Bruno und ich nicht zusammenwohnen durften, als wir noch nicht verheiratet waren, denken die doch, wir seien damals Hinterwäldler gewesen.

Die «Spitz-Kick-Girls» kassieren ein Tor an einem Grümpelturnier in Feuerthalen. Foto: zVg

Hatten Sie engen Kontakt zu anderen Teams, die sich zu jener Zeit gegründet haben? Der FC Goitschel im aargauischen Murgenthal wurde 1963 ja auch von zwei Schaffhauser Schwestern gegründet.
Franziska Ganz Nein, wir hatten eigentlich keinen grossen Kontakt zu anderen Teams.
Anita Galetti Man grüsste sich vor dem Spiel und spielte dann gegeneinander. Mehr Austausch war da meistens nicht. Ich erinnere mich auch nicht daran, dass wir je gegen den FC Goitschel gespielt haben.
Franziska Ganz Anita und ich haben auch nur für eine kurze Zeit gespielt. Ich habe erst mit 16 Jahren mit Fussball angefangen und sieben Jahre später schon wieder aufgehört. So war das immer: Die Männer spielten weiter, die Frauen zogen irgendwann weg oder bekamen Kinder.

Am 8. November 1970 schrieb Schaffhausen Fussballgeschichte. Vor zweitausend Zuschauerinnen und Zuschauern fand im Breitestadion das erste Länderspiel zwischen zwei Frauenteams statt: die Schweiz gegen Österreich.

Im Matchprogramm sinnierte der damalige Stadtpräsident Felix Schwank (FDP): «Die Fussballbegeisterung – einst wohlgehütetes Privileg der Männer – hat nun auch die Schweizer Damenwelt erfasst. Warum eigentlich nicht? Warum sollen unsere Mädchen und Frauen, die doch auf manchem Gebiet hintanstehen müssen, auch im Fussballsport das Geschehen nur vom Rand aus verfolgen können, statt den Ball in die eigenen Hände bzw. Füsse zu nehmen? Vielleicht gelingt es den Fussball spielenden Frauen sogar, die manchmal etwas rauhen Sitten dieses Sports zu verfeinern.»

Im Stadion war Schwank dann aber nicht anwesend: Er liess sich bei diesem historischen Ereignis vom Stellvertreter des Stadtschreibers vertreten.
Er verpasste eine Sensation: Die Schweizerinnen besiegten die Österreicherinnen wuchtig mit 9:0. Weil aber im österreichischen Team eine Spielerin mit jugoslawischem Pass spielte, wurde dem Spiel im Nachgang der Status als erstes Länderspiel auf Schweizer Boden aberkannt.

Erinnern Sie sich noch an das erste Länderspiel in Schaffhausen?
Anita Galetti Ja, klar. Ich war damals Linienrichterin.

Wie bitte?
Anita Galetti Ja, alle aus unserem Team durften eine Aufgabe übernehmen. Und weil niemand anderes wollte, bin ich halt als Linienrichterin eingesprungen. Ich war nervös, weil so viele Leute zugeschaut haben.
Franziska Ganz Das war alles viel weniger professionell als heute an der Fussball-WM.

Wie erklären Sie sich, dass Schaffhausen damals eine Vorreiterrolle einnahm?
Anita Galetti Da war unser Vater der Drahtzieher. Er hat etwa das Spiel zwischen der Schweiz und Österreich nach Schaffhausen geholt. Zudem hatte er gute Kontakte zu anderen Teams und konnte so viele Spiele organisieren. Und er hat seine Töchter immer angespornt.
Franziska Ganz Er war selbst Spitzensportler. 1956 ist er gleich bei seinem ersten Marathon in Schaffhausen Schweizermeister geworden.

In der Filmwochenschau vom 7. Juli 1956 sieht man, wie Hans Studer, lässig mit Sonnenbrille, kurz nach Neunkirch an allen Favoriten vorbeirannte. Am Schluss traf er mit vier Minuten Vorsprung im Ziel ein.

Sie waren also wie Ihr Vater regelrechte Sportskanonen?
Franziska Ganz Ja, aber schreiben Sie das nicht!
Anita Galetti Bevor wir Fussball gespielt haben, waren wir Leichtathletinnen. Und Franziska war richtig gut. Erinnerst du dich an die Schweizermeisterschaft in Lausanne?
Franziska Ganz Ja.

Was ist in Lausanne passiert?
Anita Galetti Franziska hatte sich 1964 für das Finale qualifiziert. Gleichzeitig fand in Lausanne auch die Expo statt. Die haben wir dann auch vor dem Finallauf mit unserem Vater besucht, aber wir haben uns verlaufen und unseren Schlafplatz nicht mehr gefunden. Also mussten wir in einer Turnhalle übernachten. Am nächsten Tag war Franziska komplett übermüdet und wurde nur Dritte.
Franziska Ganz An diesen Teil erinnere ich mich gar nicht mehr.

Anita Studer, im Vorgespräch haben Sie mir von einer Begegnung im Bus erzählt.
Anita Galetti Ja, genau. Ich war mit dem Bus unterwegs und dann stiegen drei Mädchen mit Spielvi-Trikots mit ihrem Trainer in den Bus ein. Als ich schmunzelte, fragte mich der Trainer, was los sei. Ich habe ihm dann erzählt, dass wir beide die ersten Spielerinnen des Spielvi-Frauenteams waren. Bis wir dann am Bahnhof aus dem Bus ausstiegen, haben die Mädchen mich mit Fragen durchlöchert. Da wurde mir schon warm ums Herz.

Sind Sie stolz auf das, was Sie erreicht haben?
Anita Galetti Ja! (blickt zu Franziska Studer, die ihre Stirn in Falten legt) Ja, stolz, oder wie könnte man das anders ausdrücken?
Franziska Ganz Ich könnte nicht sagen, dass ich stolz bin. Eher glücklich darüber, dass ich dabei sein durfte.
Anita Galetti Ja, aber ein bisschen stolz darauf sein, was wir beigetragen haben, ist ja nicht das Gleiche wie Arroganz.
Bruno Ganz Wir sind jetzt seit 50 Jahren verheiratet. Und wenn uns die Leute fragen, wo wir uns kennengelernt haben, sage ich immer: auf dem Fussballplatz. Franziska hat an einem Grümpelturnier gespielt und ich habe zugeschaut. Wenn wir die Geschichte aber heute erzählen, sind die meisten erstaunt, dass Frauen damals überhaupt Fussball gespielt haben. Viele wissen das nicht. Das löst in mir schon Stolz, Freude oder wie man das auch nennen will, aus.

Wie hat sich der Fussball aus Ihrer Sicht in den letzten 50 Jahren entwickelt?
Franziska Ganz Ich denke, im Amateurbereich steht immer noch der Spass im Vordergrund, wie bei uns. Aber die Mädchen beginnen heute bereits früher mit dem Training und werden besser gefördert.
Anita Galetti Man kann das auch mit dem Beruf vergleichen. Als ich in der Lehre im Detailhandel war, habe ich das erste halbe Jahr nur Flaschen aufgefüllt. Und heute haben die Jungen, die ihre Lehre starten, bereits mehrere Monate Vorbereitung.
Franziska Ganz Du, schau mal.

Franziska Ganz zeigt auf den Kunstrasen, auf dem inzwischen eine Gruppe aus drei jungen Männern und einer jungen Frau eingetroffen ist, die gemeinsam trainieren. Franziska Ganz und Anita Galetti schauen der jungen Frau gebannt zu, wie sie aus rund 20 Metern einen schnörkellosen Vollspannschuss unter die Latte setzt. «Und zack, wow! Das ist der Hammer.»

Wenn Sie jetzt anschauen, wie gut Fussballerinnen heute gefördert werden und wie viel Öffentlichkeit die Fussball-WM in Australien und Neuseeland erhält: Wäre Sie gern nochmals jung?
Franziska Ganz Das kann ich so nicht sagen. Vielleicht würde ich einen anderen Sport als Fussball wählen. Heute haben Frauen viel mehr Möglichkeiten als wir damals.
Anita Galetti Für mich stimmt es so, wie es war. Es war eine schöne Zeit, mit viel Plausch und nicht zu verbissen. Ich finde aber auch toll, dass Frauen heute alles machen können, was sie wollen, und wie gut unsere Nationalmannschaft an der Weltmeisterschaft spielt.
Franziska Ganz Ich sage oft zu Anita: Es war eine so schöne Zeit. Aber jetzt ist auch eine schöne Zeit.