Das Leben von Franco Bellettini, dem einst gefährlichsten Mann Schaffhausens, und was aus seinem Kampf gegen die kapitalistische Verbrecherbande geworden ist.
Kapitel 1: Was, wenn die Revolution morgen doch noch losgeht?
Vor fünfzig Jahren galt Franco Bellettini vermutlich als gefährlichster Mann Schaffhausens. Die Stadtpolizei überwachte ihn, die Kantonspolizei überwachte ihn, und die Bundespolizei überwachte ihn. Ein Stadtpolizist erstellte am 27. August 1971 den Rapport Nummer 2172. Er trug den Titel «Verhaltensweisen eines Kommunarden», und weil die Sache von grosser Wichtigkeit war, sandte der Polizist dem Stadtpräsidenten eine Kopie des Rapports.
Personalien: Bellettini Franco, geb. 1951, von Schaffhausen, ohne Arbeit und Stellung […].
Montag, den 16. August 1971, mittags, sprach ich in der Kommune vor. […] Anwesend war auch Franco Bellettini, welcher sich als Wortführer vorstellte. […] Er beeilte sich, zu erwähnen, dass er ein Star sei. Die hiesigen Zeitungen brächten ihn gross heraus, auch im Fernsehen sei er schon erschienen.
Bellettini erklärte mir, dass ihn die Gesellschaft fertig machen wolle. Dies werde aber nicht gelingen. […] Er werde vermutlich für 10 Tage in die «Kiste» müssen, da auf ihm Hasch gefunden worden sei. Er selbst sei wohl befreit vom Hasch, doch werde er andere davon nicht abhalten.
Darauf aufmerksam gemacht, dass dies eigentlich seine Pflicht sei, meinte er, dass jedermann tun könne, was er für richtig halte. […]
Franco meinte, dass gerade die Jüngsten herangezogen werden müssen, da seine Bewegung dringend Nachwuchs benötige. Er sei stolz darauf, dass er 13–14-Jährige unter seine Obhut nehmen könne. Dass er dadurch diese Jugendlichen der elterlichen Gewalt entzieht, findet er in Ordnung.
Wie er erwähnte, werden in Familien «Herrensöhnchen» herangezogen, welche stinkfein umhergehen und den Kapitalismus fördern. Die kapitalistische Gesellschaft sei eine Verbrecherbande. Zudem unterstütze die Polizei diese Gesellschaft.
Zu dieser Zeit war Franco Bellettini zwanzig Jahre alt. Es war die Zeit der Revolte von 1968, als junge Menschen ihre Haare wachsen liessen und davon träumten, die alte Welt sterben zu lassen und eine neue Gesellschaft zu errichten.
Per Zufall war ich auf einen Überwachungskatalog gestossen. Aus irgendeinem Grund waren die Akten im Schaffhauser Stadtarchiv gelandet, und nun sass ich da und hörte Bellettinis Stimme aus der Vergangenheit. Sie klang spöttisch und unantastbar. Es gab auch ein paar Zeitungsberichte über ihn. Bruchstücke eines längst vergessenen Lebens, geführt von einem Mann, der an keine einzige Versprechung des Mittelstands zu glauben schien.
Bellettini hatte die erste Kommune in Schaffhausen gegründet und wurde immer wieder wegen Drogenbesitzes und Drogenhandels verhaftet und verurteilt. Dann schloss er sich einer Organisation namens Hydra an, die für bessere Rechte von Lehrlingen kämpfte. Sie sperrte Firmenchefs, die Lehrlingen WC-Pausen verboten, in ihrem Büro ein und drohte Lehrmeistern, die ihre Lehrlinge in den Hintern kniffen oder 55 Stunden pro Woche arbeiten liessen, mit Schlägen und dem Gang an die Öffentlichkeit, sollte sich nichts ändern.
In der Öffentlichkeit wurde die Hydra als Vandalin dargestellt, die die Werte des Bürgertums zertrampelte, als abscheuliche Kreatur, die alles zurückwies, was als ehrlich und aufrichtig galt, als Psychosekte, die das Heimatlose verehrte. Die Bundespolizei hatte Karteikarten von Mitgliedern der Hydra erstellt und die Namen mit einem Sternchen versehen, was bedeutete: «im Krisenfall zu internieren». Offenbar befürchtete man, die Hydra könnte sich an einem Aufstand beteiligen. Franco Bellettini wurde der Wortführer der Hydra, worauf er zum Bürgerschreck Nummer eins aufstieg.
Doch die Hydra verschwand so plötzlich, wie sie aufgetaucht war. Einige wanderten Mitte der Siebzigerjahre aus. Was aus anderen wurde, ist unklar. Es gibt so gut wie keine historischen Arbeiten dazu, im Gegensatz zum akademischen Teil der Bewegung, deren Köpfe bei allen Jubiläen von 1968 die Zeitungen füllen. Die Hydra wurde zu Treibholz der Geschichte, weit weg vom Ufer schwimmend.
Auch Franco Bellettini schien wie vom Erdboden verschluckt. Während vieler Jahre hinterliess er keine Spuren, weder in Zeitungsarchiven noch bei früheren Bekannten. Erst 1999 tauchte sein Name wieder auf. Er führte ein Elektronikgeschäft in Zürich. Aber bald darauf schloss der Laden, und Bellettinis Name verschwand wieder.
Was wurde aus jenem jungen Mann Anfang der Siebzigerjahre, der alles riskierte, am liebsten dann, wenn niemand auch nur einen Rappen auf ihn setzte?
Der Metallschrank
Juli 2022. Franco Bellettini sitzt in seiner abgedunkelten Küche in Zürich. Draussen herrscht eine Mörderhitze. Ein Ventilator rauscht leise. Wir essen Pistazien- und Schokoladeneis und schwitzen. Die Küche wirkt ein bisschen zu klein für seine ein Meter vierundneunzig.
Als wir zwei Kübel Eis gegessen haben, führt Franco durch die Wohnung. Überall liegen Bücher herum. Im Wohnzimmer steht ein Regal mit hunderten von DVDs, im Schlafzimmer ein weiteres, und im Büro befinden sich ein Hometrainer und daneben ein schwarzer Metallschrank, der durch ein Zahlenschloss gesichert ist.
«Franco, was zum –»
Er sagt, dass man vorbereitet sein müsse, sollte die Revolution morgen doch noch losgehen, und setzt ein Maskenlächeln auf, das bedeutet: Na, du Pazifistenlusche, und dann sagt er, ich soll ja nichts über diesen Metallschrank schreiben, sonst kämen die Bullen mit ihrem Überwachungsapparat wieder auf die Idee, ihn einzukassieren, sie würden alle möglichen irren Fantasien aktivieren, und dieses Spiel habe er schon zur Genüge durchgespielt.
Es ist mein erster Besuch bei ihm. Mein Aufnahmegerät läuft, wie bei all unseren späteren Treffen. Ich stelle ihm Fragen zu seinem Leben, und Franco erzählt und schliesst dann vom Kleinen aufs globale Scheisssystem. Die Verachtung für die Gegenwart hat er sich über fünfzig Jahre erhalten.
Saudi-Arabien, 1979
Es schien, als habe Franco nur darauf gewartet, dass ihn jemand kontaktiert. Wenige Wochen vor dem ersten Besuch bei ihm hatte ich ihm einen Brief geschickt. Tags darauf lag eine CD in meinem Briefkasten, auf der hunderte Gedichte und Fotografien gespeichert sind, die Franco in den letzten Jahren geschrieben und aufgenommen hat. Die Gedichte tragen Namen wie «Burning Down the House», «Die Résistance», «Revolution». Die Fotos zeigen Menschen vor riesigen bunten Reklametafeln beim Vereinsamen.
Wir trafen uns in einem Café in Zürich, in einem der nun hippen Quartiere. Francos Wohnung liegt nicht weit entfernt. Als er hierhergezogen war, vor bald dreissig Jahren, donnerten jeden Tag tausende Lastwagen hindurch. Nun führten junge Leute ihre Kreativität spazieren, und das Einzige, was hier an einen Bürgerschreck erinnerte, waren die steigenden Mieten.
«Komm mal zu mir, wenn du Zeit und Lust hast», sagte Franco, als wir uns schon verabschieden wollten. Da könne ich Bücher und Filme anschauen. Er habe eine ziemliche Schmuddelbude, er sei single und seine Wohnung alt, er müsse eben mit seiner AHV-Rente und der Beihilfe der Stadt Zürich auskommen, also 3500 Franken im Monat.
«Gern», sagte ich, «dann bringe ich Bier mit.» Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, ich müsste mich mit Franco besaufen, bis die Farbe von der Welt schmilzt, um in seine Welt einzutauchen.
«Nein», erwiderte er, und in seinem Ton lag etwas Endgültiges. Er listete eine lange Reihe von gesundheitlichen Problemen auf, Knie, Herz, Magen, darum könne er nur wenig saufen und fressen.
Woher all diese Beschwerden kämen, fragte ich.
«1979 reiste ich für eine Schweizer Firma nach Saudi-Arabien, um dort in der Montage zu arbeiten. In Yanbu, fünfzig Kilometer von Medina entfernt, bauten wir ein Stadion. Es war über 50 Grad im Schatten. Wir mussten riesige doppelverglaste Fenster montieren. Ein Fenster war 320 Kilo schwer. Statt sieben Leute waren wir zu viert. Die Fenster hoben wir mit Glassaugnäpfen auf. Jeder von uns trug
80 Kilo. Ein Arbeitstag dauerte zehneinhalb Stunden. Ich soff dreissig Liter Wasser pro Tag. Salztabletten. Alles war warm. Der Swimmingpool hatte 38 Grad. Das Rote Meer hatte 38 Grad. Das Einzige, was uns blieb, war die Badewanne. Am Morgen füllten wir sie und drehten die Klimaanlage voll auf. Am Abend war das Wasser kühl. Wir stiegen alle nacheinander hinein. Einmal blieb ich an einem Armierungseisen hängen und fiel vom Gerüst. Da hat es mir das Knie verdreht und zusammengetätscht. Als ich nach Hause kam, hatte ich dauernd Schmerzen. Ich suchte zehn Ärzte auf, aber niemand konnte mir helfen. In der Zwischenzeit ging das andere Knie natürlich auch kaputt.»
«Verdammt.»
«Das ist halt was anderes, wie wenn man das Geschäft seines Vaters übernehmen kann. Bei mir war es immer ein Überlebenskampf. Als mein Vater starb, erbte ich 15 000 Franken.»
Ohne einen Schuss erobert
Francos Eltern arbeiteten in der Fabrik, der Vater bei Georg Fischer, die Mutter in der Kammgarnspinnerei. Anfang der Fünfzigerjahre bezogen sie eine Wohnung oberhalb des Restaurants Fernblick im Niklausen-Quartier in Schaffhausen.
Das Niklausen-Quartier jener Zeit war kein Ort der grossen Träume. Industriefirmen hatten Reihenhäuschen für die Arbeiter gebaut, und nun kamen Wohnblöcke dazu. Einmal wollte man eine Quartierbibliothek gründen. Die Pläne wurden nie verwirklicht. Verwirklicht wurden, allerdings an den Rändern des Quartiers, wo die Industrie ihre Hallen hatte, grosse Gewinnausschüttungen. Die Auftragsbücher waren derart voll, dass sich die Konzernchefs ständig über zu wenige Arbeiter beklagten. Firmen wie Georg Fischer begannen, Arbeiter direkt aus Italien in die Schweiz zu holen. Tausende Italiener folgten. Sie waren als Saisonniers geduldet, aber darüber hinaus in der Schweiz zu bleiben, wurde ihnen offiziell erschwert, und so blieben sie Fremde, Tag für Tag, den sie hier verbrachten, selbst dann noch, wenn sie die Tage gar nicht mehr zählten.
Der Bundesrat war besorgt. Er setzte eine «Expertenkommission zum Studium der Ausländerproblematik» ein. Die Kommission kam 1964 zum Schluss, dass sich die Schweiz «im Stadium einer ausgesprochenen Überfremdungsgefahr» befinde.
Fremdenfeindlichkeit zu kultivieren, reichte aus, um der bekannteste Politiker des Landes zu werden. James Schwarzenbach hatte einen Haufen Geld aus seiner Industriellenfamilie geerbt, und nun spülte er seine irren Thesen in die Öffentlichkeit. In einem Flugblatt seiner Partei von 1967 waren Verschwörungstheorien zu lesen: «Die Geburtenquote der Italiener liegt bedeutend höher als jene der Schweizer. Der heutige Anfangsbestand an Italienern genügt, um die Schweiz ohne einen Schuss zu erobern.»
Die Bellettinis hatten nicht im Sinn, irgendetwas zu erobern. Sie wollten ein wenig Geld verdienen und bald wieder zurück nach Italien reisen, ins Land ihrer Herkunft. Dort sahen sie ihre Zukunft.
Franco und seine drei Jahre jüngere Schwester wuchsen bei der Nonna in Florenz auf. Im katholischen Kindergarten glaubten die Schwestern an die züchtigende Hand Gottes. Lag ein Kind zur Mittagsschlafzeit nicht ruhig im Bett, gab es Hiebe mit einer Bambusrute.
Später, mit sieben, kam Franco zurück nach Schaffhausen, in die erste Klasse, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. Die Lehrerin forderte ihn zum Vorlesen auf, Franco verstand nichts, und es gab wieder Schläge, und so ging es weiter, bis er begann, sich zurückzuziehen und dauernd zu lesen, am liebsten Wildwest-Heftchen oder Science-Fiction-Romane. Man bekam ihn kaum aus dem Bett heraus. Mit der Zeit war er richtig gut im Fach Deutsch. Er schaffte die Aufnahmeprüfung für die Realschule, obwohl ihm der Lehrer sagte, er müsse es gar nicht erst versuchen. Aber nach einiger Zeit flog er wieder heraus. Seine Französischnoten waren schlecht. Allerdings nicht schlechter als diejenigen der Lehrertochter, die in der Klasse bleiben durfte. Noch heute ist er davon überzeugt, dass dies mit seiner Herkunft zu tun hatte.
Ungefähr zu dieser Zeit begann er zu trainieren wie ein Verrückter. Morgens rannte er, abends kamen Übungen mit Hanteln dazu, und am Wochenende ruderte er mit einem Kollegen rheinaufwärts nach Diessenhofen. Er wollte als Ruderer an die Olympischen Spiele in Mexiko von 1968. Innert eines Jahres nahm er über dreissig Kilogramm ab, statt 129 wog er noch 94 Kilo.
Nachdem er das Rudern aufgegeben hatte, trat er dem Boxclub bei. Wegen seiner Grösse kämpfte er von Anfang an in der Schwergewichtsklasse. Nach jedem Training hatte er Kopfweh, weil in den Schlägen seiner Sparringpartner eine Wucht von hunderten Kilogramm lag. Danach gingen die Männer zusammen saufen. Als Franco nach einem Jahr wieder aufhörte, hatte er die Angst vor einem Schlag verloren.
Als mir Franco vom Boxen erzählte, dachte ich: natürlich! Aufwachsen in jenen Jahren bedeutete, in einer Gesellschaft aufzuwachsen, in der Männlichkeit als das Grösste gilt. Männer besiegen Männer, und eine Niederlage ist nur akzeptabel, wenn du komplett ausgenockt wirst. Nirgendwo ist dieser Mechanismus deutlicher zu erkennen als im Boxring. Es geht darum, die eigene Überlegenheit zu inszenieren. Doch der dauernde Druck, siegreich sein zu müssen, kann auch eine tiefe Angst schüren, genau dieser Überlegenheit nicht gerecht zu werden. Ausserdem führt die Überlegenheitsinszenierung dazu, Frauen aus seiner Geschichte auszuschliessen. Denn nur wer es allein schafft, ist ein echter Mann. Das fiel mir früh auf: Frauen kommen in Francos Geschichten nur als unpolitische Figuren vor.
Ein Foto, aufgenommen um 1965, zeigt den vierzehn-, fünfzehnjährigen Franco auf einem kleinen Boot am Strand in Italien. Er ist da schon gross, ich hätte ihn auf Anfang zwanzig geschätzt. Die lockigen schwarzen Haare sind in die Stirn gekämmt, seine Arme hat er beschützend um Mutter, Vater, Schwester und Nonna gelegt. Franco ist der Einzige auf dem Bild, der nicht lächelt.
Kapitel 2: Drogenjahre, Gefängnis, Herzschrittmacher.
«Sich wegballern ist ein Extremsport. Man muss wirklich den Wunsch haben, seine sämtlichen Identitäten in die Luft zu jagen. Geschlecht, soziale Schicht, Religion, Sippe.»
– Virginie Despentes, «Liebes Arschloch» (2022)
An einem späten Donnerstagnachmittag Mitte August fahren Franco und ich mit dem Zug von Zürich nach Schaffhausen. Er trägt schwarze Schuhe, kurze schwarze Hosen, ein schwarzes T-Shirt, und über die Schulter hat er sich eine Kamera gehängt. Wenn er nicht so gut gelaunt wäre, könnte man meinen, er fotografiere eine Beerdigung.
Als wir in Schaffhausen ankommen, steigen wir in einen Bus, der uns hoch ins Breite-Quartier bringt. Dort suchen wir das alte Bauernhaus, in dem sich die Kommune Hohlenbaum befand. Franco hatte sie 1969 gegründet, und es war etwas gänzlich Neues in dieser kleinen Stadt. Die Bewohner hatten keine Lust auf die harten Stiefel der Alten, auf Fabrikarbeit, bellende Vorgesetzte, ganz allgemein auf eine Gesellschaft, die nur funktionierte, weil die Leute dauernd Ausschau nach Verdachtsmomenten hielten. Einmal wäre Franco fast der Schädel eingeschlagen worden, als eine Horde Männer in die Kommune eindrang, völlig ausser sich, sie glaubten offenbar, er habe ihren Töchtern Drogen verabreicht, doch irgendwie konnte er die Bürgerwehr beruhigen.
«Nach einer Woche standen drei Typen aus Lörrach vor der Tür», erzählt Franco, wie wir an Einfamilienhäuschen vorbeispazieren. «Die hatten Probleme mit den Bullen, weil sie ein bisschen gedealt hatten, und fragten, ob sie bei uns wohnen dürften, bis sich die Sache gelegt hat. Der eine war ein komischer Typ, halb Hippie, halb Zuhälter, ein ziemlich schlimmer Finger. Aber er hatte eine irre Ausstrahlung und einen grossen Schwanz. Auch ein Lehrer kam vorbei, ein verquerer Siech, der später mit uns vor Gericht gelandet ist, wo er behauptete, er sei nur aus sozialen Gründen bei uns gewesen. Dabei konnte er bei uns zum ersten Mal vögeln und paffen.»
Bei Franco überkommt mich manchmal das Gefühl, mit einem Zeitreisenden zu reden. Straight from 1973. Sexualität sei damals ein derart hoher Stellenwert attestiert worden, «als hänge das Schicksal der Menschheit von der richtigen Sexualmoral ab», schreibt der Historiker Detlef Siegfried. Quasi: Sexuelle Befreiung führt zur Befreiung der Menschen. Für Frauen wurde dieses Credo zum Bumerang. Männer benutzten es, um Frauen zurechtzuweisen («tu nicht so verklemmt, du solltest mal wieder gevögelt werden.»)
Franco macht ein paar Fotos von den Häusern im Quartier, als helfe ihm dies, die Vergangenheit greifbar zu machen, und stückweise kommen Erinnerungen hervor. Wir passieren einen kleinen Coop. Franco zeigt darauf. «Der andere aus Lörrach war auch ein irrer Typ», sagt er. «Der hatte keine Angst. Sechs Monate lang betrat er diesen Laden jeden Tag in seinem Lammfellmantel, um ein Päckchen Zigaretten zu kaufen und Food für eine ganze Woche zu klauen.»
Franco war mit Rainer Weber in die Kommune gezogen, einem Jungen aus Thayngen, den alle nur Grizzly nannten. Grizzly spielte den ganzen Tag Gitarre und dröhnte sich zu, und auch Franco schmiss sich Trip um Trip, LSD und Amphetamine und Codein und alles, was einem das Unterbewusstsein durch die Schädeldecke jagt, dass er manchmal noch Jahre später aus dem Schlaf aufschreckte, weil ein Gedanke von damals wie ein Blitz in sein Gehirn schoss.
Wenn kein Geld mehr da war, fuhr jemand über die Grenze, um ein bisschen Haschisch zu dealen. Obschon die Polizei immer wieder Razzien durchführte, fand sie nichts. Der Stoff war im Garten vor dem Bauernhaus vergraben. Erst als die Polizisten einen Drogenhund aus Zürich ausliehen, flog die Kommune auf. In einer Mitteilung der Polizei hiess es, in der Wohnung habe «eine unbeschreibliche Unordnung» geherrscht. Franco und Grizzly wurden zu bedingten Gefängnisstrafen verurteilt.
Als ich Grizzly anrief, war es nicht zu spät gewesen – er war noch am Leben, wie er mir freudig mitteilte, spielte noch immer Gitarre und kam seit einigen Jahren ohne Drogen aus. Seine Stimme klang wie Schmirgelpapier.
«Wir waren die ersten Outsider dieser Art im Kaff», sagte Grizzly. «Ich habe andere Halluzinationen gesucht als das übliche Leben. Man versuchte uns eine kriminelle Energie anzudichten. Man steckte mich über Weihnachten in U-Haft und deckte mich mit psychiatrischen Gutachten ein. Für die Menge an Drogen, die wir hatten, hat man heute nur ein müdes Lächeln übrig.» (Tatsächlich ging es um ein paar Dutzend Gramm Haschisch.)
«Franco war ein Dreammensch», fuhr Grizzly fort. «Er war sehr frühreif, er wollte vögeln, und im Geist der Sechziger war er getrieben von der Kulturrevolution, du weisst schon, Proletarier aller Länder vereinigt euch. Er hatte Probleme mit seinem Vater. Er war einer, der eher mal Schläge verteilt hat. Und er war auch einer, der nach draussen geschaufelt hat.»
Nach draussen geschaufelt?
«Naja, die Gesellschaft ist schuld. Dass man bei sich selber aufräumen muss, das machte er weniger.» Zum Abschied sagte Grizzly, dass man heute ja alles lernen könne, jeder könne B.B. King oder Mozart sein – aber nur wenn die Zähne sauber geputzt und die Schnürsenkel korrekt gebunden seien.
Franco geht suchenden Blickes das Trottoir entlang. Nach ein paar Minuten gelangen wir zu dem Ort, wo das Bauernhaus stand, in dem sich die Kommune befand. Aber jetzt steht dort kein Bauernhaus, sondern ein Wohnblock mit Giebeldach, kleinen Fenstern und kleinen Balkonen. Der Spielplatz davor ist leer.
«Ich sollte Schaffhausen verklagen», sagt Franco. «Diese Penner haben mich meiner Geschichte beraubt.»
Klassenfrage
Das Café in Zürich, wo wir uns oft treffen, nennt Franco nur noch «Café High Society». Ich glaube, das liegt an der Finesse, die die Leute um uns zu ihrer Verteidigung tragen, Laptops, Flat Whites, Vokuhilas, Füllworte wie «literally». Heute sieht Francos Gesicht ein bisschen eingefallen aus. Zweimal musste er die Ambulanz rufen, nachdem er spazieren war, weil sein Herz wie eine gefangene Wespe vibrierte; offenbar hatte der Arzt seinen Herzschrittmacher falsch kalibriert.
Vor dem Treffen hatte ich mir vorgenommen zu fragen, wie er sich eigentlich zum Rebellen entwickelt hat. Aber wir unterhalten uns über einen Salatkopf, der Liz Truss als britische Premierministerin überdauert hat, über den Boomer-Faschismus in Italien um Georgia Meloni, über Bundeskanzler Olaf Scholz, der den Energiekonzernen gerade 200 Milliarden Euro serviert hat, und ganz allgemein über den erschreckenden Aufschwung der kleinbürgerlichen Bürokraten bei AL, Grüne und SP, die in seinen Augen nichts anderes sind als verkappte Stalinisten, sprich Parteibonzen.
«Die Leute wollen was zu fressen», wiederholt er mal um mal. Damit meint er: Die Linke sollte es nicht interessieren, ob sie moralisch recht hat. Sie sollte sich für Macht interessieren, dafür, die materielle Lage der Leute zu verbessern.
Später zeigt er eine Liste seiner Lieblingsserien. Auf Platz eins hat er eine ganze Reihe britischer Krimishows gesetzt. Person of Interest, Waking the Dead, Orphan Black und so weiter. Diese Weltflucht hilft ihm, die Welt zu ertragen.
Zuhause am Schreibtisch ärgere ich mich. Wie so oft, wenn ich mich für den Genossen Bellettini interessierte, war nicht viel zu holen, denn Genosse Bellettini sprach lieber über das, was ihn umgibt, die spätkapitalistische Verdammnis, und seine Schwester, eher schwierig, sie trinkt Instantkaffee, damit kannst du mich umbringen. Sagte Franco. Die Schwester will nichts sagen, als ich sie anrufe.
Ich notiere das Wenige, das ich über Francos Radikalisierung weiss: In der Oberstufe lernte er einen Jungsozialisten kennen, der ihn mit politischen Sprüchen munitionierte. Einmal besuchte er eine Versammlung der kommunistischen Partei der Arbeit. Dort präsentierte man bezaubernde Bilder von sowjetischen Fabriken mit ihren riesigen Schloten, die schwarzen Rauch ausspien. «Hilfe», dachte Franco. «Ich will doch nur Strand, Shit und Sex.»
Dann wird es sprunghaft. Franco fing eine Lehre als Verkäufer in einem Coop an, aber weil er klaute wie ein Rabe, wurde er gefeuert. Eine zweite Lehre als Schlosser folgte. Die Arbeit war hart, und die Lehrlinge mussten die härtesten Arbeiten übernehmen. Sie bauten grosse Bottiche für Chemiefirmen. Die Schweissnähte wurden mit dem Vorschlaghammer flach geklopft. Damit die Bottiche nicht verrutschten, musste Franco dagegenhalten, mit seinem ganzen Körpergewicht. Die Hammerschläge donnerten so laut, dass man sie noch Kilometer weiter hören konnte. Als Franco Sprüche wie «Politische Macht kommt aus den Gewehrläufen» an die Fabrikwände sprayte, Sprüche, die er aus Maos rotem Büchlein kannte, war er auch diese Stelle los. Er nahm noch einen dritten Anlauf, diesmal als Druckerlehrling, aber auch das misslang. Es war sein letzter Versuch, eine Ausbildung zu machen.
Franco riss immer mal wieder von Zuhause aus. Manchmal versteckte er sich bei Genossen in Winterthur. Oft sass er im Café City in Schaffhausen, wo sich die Freaks trafen, und wo er vom Haschisch erzählte, das er verkaufte, um über die Runden zu kommen. Ein Spitzel der Polizei hatte sich jedoch in die Freakgesellschaft geschlichen. Franco – inzwischen achtzehn Jahre alt – landete für fast drei Monate in Untersuchungshaft. Die Ermittler glaubten, Franco sei Teil eines grossen Drogenrings und drohten, er komme nie mehr aus dem Gefängnis raus, wenn er nicht singe. Aber er sang nicht.
Beim Hören der Tonaufnahmen stosse ich auf eine Aussage von Franco, die ich gar nicht mehr im Kopf hatte. Offenbar fühlte er ein Unbehagen angesichts der Erwartungen seiner Eltern: «Zu meinem Vater hatte ich keine Beziehung. Er war ein Stein. Als Kind wurde er dauernd abgeschlagen. Meine Mutter ist furchtbar aufgewachsen, mausarm. Später rannte sie jeden Tag in die Kirche. Ich war der, der die ganze Familie auf ein neues Level hätte hieven sollen. Es war emotionale Erpressung. Als ich aus dem Gefängnis kam, sagte ich: Morgen ziehe ich aus und gründe eine Kommune. Sie konnten nichts machen. Man wollte mich ja bevormunden. Mit meinem Vater wurde ich zum Stadtrat zitiert. Dem Stadtrat hielt ich dann einen einstündigen Vortrag: Es sei ja klar, dass es mich treffe als Prolet. Dem anderen, dem Herrensöhnchen, würde sowas nie passieren.»
Ich rufe Bernhard Ott an. Ott ist im gleichen Quartier wie Franco aufgewachsen. Zusammen gingen sie zur Schule und am Sonntag zur Messe in der katholischen Kirche. Auch Ott ist ein Arbeiterkind, aber sein Leben entwickelte sich in eine ganz andere Richtung. Während Franco aus der Realschule flog, schaffte es Bernhard Ott an die Kantonsschule, studierte Geschichte und arbeitete anschliessend während Jahrzehnten für die Schaffhauser AZ, als Journalist, Chefredaktor und Verleger.
«Franco war in jeder Hinsicht ein Querschläger», sagt Bernhard Ott am Telefon.
Ungefähr zur gleichen Zeit, als Franco die Kommune Hohlenbaum gründete, entstand in der Krummgasse 8 in der Altstadt eine weitere Kommune, die KG8. Dort trafen sich vor allem Kantonsschülerinnen und -schüler wie Bernhard Ott, und natürlich wollte man auch in der KG8 den Kapitalismus überwinden, aber das konnte man ja auch ohne Frontalkollision versuchen.
Ott fährt fort: In der Kommune Hohlenbaum hätten die Dropouts, wie man damals sagte, gelebt. Franco habe die KG8-Leute doof gefunden, in einem gewissen Sinn zu Recht, denn sie seien trotz allem Protest gegen die Gesellschaft in erster Linie an einem Studium und später an einer Karriere interessiert gewesen. Dann kommt Ott auf Francos Herkunft zu sprechen: «Das Establishment betrachtete uns bei allem Unverständnis für unser Verhalten immer noch als seinen Nachwuchs. In seinen Augen waren wir Kantischülerinnen und Studenten in einer Sturm- und Drangphase und mussten uns halt erst noch die Hörner abstossen, bevor wir vernünftig wurden. Darum drückten die Behörden bei uns auch eher mal ein Auge zu als bei einem italienischen Secondo.»
Franco versorgte die KG8 mit Haschisch. Wenn er reinging, liessen ihn die Polizisten in Ruhe, denn der Sohn eines Chefbeamten wohnte dort.
Als die KG8-Crew eine Schülerorganisation an der Kantonsschule gründete, schrieb Franco eine Kolumne in der Schülerzeitung Bumerang. «Die Kantischüler proben die Demokratie», spottete er. «Ihr intellektuelles Getue onaniert in Bereichen, die weder interessant sind noch irgendwie dazu beitragen könnten, dass sie ihre Probleme lösen könnten. Die meisten werden als zukünftige Fachidioten mit einer gewissen Arroganz ihren Vätern nacheifern.»
Der Titel der Kolumne war «Hydra, ein Angriff». Und das sollte die Lehrlingsorganisation Hydra auch sein, und mit ihr Franco: ein Angriff auf die schweizerische Vorgartenkultur.
Kapitel 3: Berufsrevolutionär
«Die Hydra ist gefährlicher als gemeinhin angenommen wird […] Wir haben genügend Kenntnis erworben und wurden demgemäss belehrt, dass eine wesentliche Umsturzarbeit [von SP und KP] in der Heranbildung der Kinder für diesen Umsturz in Form der Hydra vorliegt.»
– aus Akten der Bundespolizei, 1971
Am 21. Dezember 1971 kreuzten Franco und drei Freunde bei der Dorfmetzgerei in Hüttwilen, Thurgau, auf. Sie stellten sich als «Lehrlingsorganisation Hydra» vor und waren bereit, den Metzgermeister ins Visier zu nehmen. Im Vorfeld hatten sie ein Flugblatt erstellt und hundertfach kopiert. Darauf stand:
WISSEN SIE
– dass in der METZGEREI FREI in Hüttwilen die Hygiene vernachlässigt wird? Mit dem gleichen Lappen werden Boden, Tisch und Fleisch gereinigt
– dass die Lehrlinge pro Woche 54–56 Stunden arbeiten müssen? Nach Lehrvertrag beträgt die maximale Arbeitszeit 45 Stunden
– dass die Lehrlinge vom Lehrmeister schikaniert werden? Er betitelt sie mit Übernamen und kneift sie dauernd in den Hintern. […]
ÜBRIGENS: NICHTS HINDERT SIE DARAN, IHR FLEISCH IN EINER ANDEREN METZGEREI ZU KAUFEN!
Franco drohte dem Metzgermeister, die Flugblätter an alle Haushalte im Dorf zu verteilen – es sei denn, der Metzgermeister unterzeichne eine Vereinbarung, in der festgehalten war, dass die Metzgerei vom Gesundheitsamt kontrolliert wird und die Überstunden für die Lehrlinge abgeschafft werden. Der Metzgermeister unterschrieb. Franco und seine Freunde versprachen, die Metzgerei nicht in der Öffentlichkeit zu erwähnen und keine Flugblätter zu verteilen. Aber eines der Flugblätter kam trotzdem in Umlauf, und die Hydra hielt noch am selben Tag eine Pressekonferenz über ihre Aktion ab.
Wie es mit der Metzgerei weiterging, ist schwer zu sagen. Franco jedenfalls wurde wegen Nötigung zu zehn Tagen Gefängnis verurteilt. Seine Kollegen kamen mit Bussen davon.
Die Zentrale der Hydra befand sich in einem Haus in der Schaffhauser Unterstadt an der Fischerhäuserstrasse 27. Jörg Aellig, ein Architekt, Kantonsrat der Jungliberalen und späterer Stadtrat, hatte der Hydra die Liegenschaft überlassen. Auf zwei Etagen lebten ungefähr zehn Leute, fast ausschliesslich junge Männer. Sie gingen abwechselnd arbeiten, um den gemeinsamen Topf zu füllen. Damit bezahlten sie Essen, politische Kampagnen oder ihre eigene Zeitung, die Nachrichten für Unzufriedene hiess. Oft war jedoch kaum Geld da. Die Hauptmahlzeit – Spaghetti Bolognese – bestand aus Nudeln, Tomatensauce, Zwiebeln und Hundefutter.
Nach allem, was ich in Erfahrung bringen konnte, konnte man die in der Wohnung überhandnehmende Schweinerei beinahe als makellos bezeichnen, weil unangetastet, eine Schweinerei allerdings, die für die Hydra-Leute bei Weitem von der kapitalistischen Schweinerei übertroffen wurde und daher unerheblich war.
Die Hydra verabscheute den Status Quo – da die Söhne und Töchter von Ärzten, Anwälten, Unternehmern, die zur Kantonsschule gingen, hier sie, die Arbeiterkinder, die für ihren kleinen Lehrlingslohn fünfzig und mehr Stunden pro Woche arbeiten mussten. Alle, die nichts an diesem Status Quo ändern wollten, waren für sie Komplizen einer Gaunerbande. Der Status Quo stank für sie nach zwischen Hemdkragen, Krawatte und Hals eingeätztem Schweiss.
Verteilt auf diverse Kommunen in Schaffhausen, Basel, Zürich, mit Kontakten nach Wien, forderte die Hydra zwölf Wochen Ferien, eine 40-Stunden-Woche, einen Mindestlohn von 800 Franken und die Volljährigkeit mit sechzehn Jahren (damals lag sie bei zwanzig). Neben Firmen nahmen die Hydranten, wie sich die Mitglieder der Hydra nannten, Erziehungsheime ins Visier. Denn auch Heime waren in ihren Augen nichts anderes als Triebwerke einer staatlichen Unterdrückungsmaschine.
Die Hydra startete einen Aufruf an alle Jugendliche, die man in ein Heim gesteckt hatte: Sie sollten ausbrechen und sich in einer Kommune der Hydra verstecken. Und zwar so lange, bis sie mit Hilfe von Anwälten von ihrer Vormundschaft befreit waren.
Am 10. September 1971 fuhr Franco mit dem Zug von Zürich nach Schaffhausen. Neben ihm sass Beat Holenstein, ein damals siebzehn- oder achtzehnjähriger Junge, der auf Kurve war, auf der Flucht. Holenstein stammte aus einem zerrütteten Elternhaus, wie mir Zeitzeugen erzählten. Wegen diverser Diebstähle hatte ihn die Jugendanwaltschaft ins Heim gesteckt, doch er riss immer wieder aus. Eigentlich wollte er eine Metzgerlehre machen, aber die Behörden stellten sich quer. Nach ein paar Jahren im Heim attestierte man ihm eine «Besserung» und liess ihn frei. Spätere Hilfsarbeiterjobs hielt er nie lange aus. Als man ihn bei einer Bauernfamilie im Klettgau unterbringen wollte, tauchte er unter. Er freundete sich mit Leuten von der Hydra an. Der Jugendanwalt wollte ihn abermals in ein Heim einweisen. Er warf ihm vor, es bestehe «noch immer eine Verwahrlosung», und eine Umgebung wie bei der Hydra führe nur «zu einer grösseren Verwahrlosung». Die Hydra polemisiere «in zersetzender Weise gegen unser Staatswesen».
Die Tatsache, dass Holenstein an jenem 10. September in Francos Begleitung fliehen musste, scheint fragwürdig. Die Gerichtsverhandlung, in der über die geforderte Heimeinweisung entschieden wurde, hatte noch gar nicht stattgefunden. Sie sollte erst drei Tage später, am 13. September, vor dem Schaffhauser Jugendgericht erfolgen. Straffällig geworden war Holenstein in der Zwischenzeit auch nicht. Franco und Holensteins Ziel war nun die Hydra-Kommune. Aber als sie beim Bahnhof Schaffhausen ankamen, wurde Holenstein verhaftet. Laut Hydra hatte die Polizei keinen Haftbefehl. Ausserdem verbot sie ihm, mit einem Anwalt zu sprechen.
Franco ging zurück zur Kommune. Mit seinen Freunden arbeitete er einen Plan zur Befreiung Holensteins aus: «Wir taten, als würden wir eine internationale Demonstration organisieren. Wir wussten ja, dass unsere Leitung abgehört wurde. Wir telefonierten mit Hydra-Kollegen und fragten: Wie viele Genossen könnt ihr für die Demo auftreiben? Die Wiener sagten: Maximal 2000 Kommunisten, mehr schaffen wir leider nicht. Die Basler sagten: 1000 liegen drin. Die Zürcher sagten: 1500. Wir hatten einen Spitzel bei der SP, und von ihm erfuhren wir, dass es eine ausserordentliche Stadtratssitzung gab. Alle bibberten: Mein Gott, wenn hier 10 000 Kommunisten aufkreuzen. Schliesslich standen wir zu dritt im Gefängnishof. Vor uns Bullen in Vollmontur. Nach zwei Stunden wurde Holenstein freigelassen. Es war ein riesiger Bluff.» (In den Protokollen der Stadtratssitzungen gibt es keinen Hinweis auf diese Aktion; in einem Polizeirapport hingegen ist Folgendes dokumentiert: Nachdem die Hydra diverse Telegramme an die Justizbehörden geschickt hatte, habe ein Kommandant «vorübergehend die Alarmbereitschaft angeordnet», weil man vermutete, dass «befreundete Hydragruppen in Schaffhausen eingetroffen waren».)
Die Gerichtsverhandlung wurde verschoben. Der Gerichtspräsident hielt fest, dass die Verschiebung «aus formellen Gründen» erfolgt sei. Holenstein sei nicht wegen der Intervention der Hydra freigelassen worden. Als das Gericht einen Monat später doch noch tagte, lehnte der Richter eine Heimversorgung ab. Stattdessen schickte er Holenstein «in eine vertrauenswürdige Familie, wo er verständnisvolle Aufnahme und Rückhalt findet». Ein Erfolg für die Hydra.
Ich rufe Hannes Reiser an. Er war damals zusammen mit Franco beim Thurgauer Metzgermeister eingefahren, ausserdem wohnte er ebenfalls in der Hydra-Kommune, und wo Franco wohnte, knallte es, und es ging etwas. («B. versuchte dort die Leute in seiner gewohnten, autoritären Art für sich und seine Ideen zu gewinnen», hielt die Bundespolizei im Dezember 1971 fest. «Dabei stiess er auf den Widerstand der Hydra-Gruppe um Reiser Hannes.»)
«Francos Wildheit faszinierte mich», erzählt Reiser. «Durch nichts aufhalten lassen, sich über alles hinwegsetzen. Er war gross, hatte eine grosse Klappe, trug einen riesigen Afro, verbal voll radikal drauf, eine gewisse Erotik aussendend. Die Leute liefen ihm nach.» Reiser überlegt. «Franco hatte eine riesige Wut auf die Behörden. Ständig wurde er kontrolliert oder festgenommen, oft ohne Anlass. Ein Zivilpolizist, Schlatter hiess der, verfolgte uns. Mit ihm stritt er sich oft. Kinder von Gastarbeitern wurden damals enorm schikaniert, auf der Arbeit, in der Politik, von den Behörden. Man dirigierte sie wie kleine Kinder herum. Aber in der Hydra fand Franco Rückhalt und konnte kreativ sein. Es gab ihm ein Daheim. Er war nicht nur einer der Wortführer, die Gruppe gab ihm auch viel.»
Berufsrevolutionär
«Die Tendenz ist dahingehend, dass je länger je mehr Jugendliche im schulpflichtigen Alter sich dem Elternhaus entziehen und unter dem Einfluss der Hydra, sprich Bellettini, geraten.»
– Protokoll der Stapo Schaffhausen, 1971
«Herr Bellettini», fragte der Journalist, «Ihr Verhalten, Ihr äusserer Habitus auch, zeugen von einer radikalen Absage an die Gesellschaft, in der wir leben. Können Sie Ihre grosse Weigerung kurz begründen?»
«Für mich ist der Normalbürger, der mitten im Produktionsprozess drin steht, einfach kaputt», sagte Franco. «Vor allem seine Fantasie ist kaputt. Der schablonenhafte Achtstundentag mit einer Beschäftigung, die die meisten im Grunde gar nichts angeht, lässt den Bürger Verdrängung und Aggressivität am Laufmeter produzieren. Aus diesem Prozess habe ich mich zurückgezogen.» Das Interview erschien Anfang 1971 in den Schaffhauser Nachrichten, gross aufgemacht und mit Bild des neunzehnjährigen Franco.
Nach der Auflösung der Kommune Hohlenbaum hatte Franco keinen Job mehr gefunden, trotz Hochkonjunktur, Wirtschaftsboom, Mangel an Arbeiterinnen und Arbeitern, und sich nach Deutschland abgesetzt. Er besuchte ein paar Kurse an der Kunstakademie in Düsseldorf. Joseph Beuys bot dies für Leute ohne Matura an. Um über die Runden zu kommen, ging Franco betteln. Brauchte er Kleider, klaute er im Warenhaus eine neue Garderobe zusammen. Seine erste Million machte er mit Schwarzfahren. Aber das Studium langweilte ihn. Nach ein paar Monaten kehrte er in die Schweiz zurück, wo er sich der Hydra anschloss. Die Hydra bedeutete: Zusammenpralle ohne Vollkasko. Das gefiel ihm.
Zu dieser Zeit verkündete Franco stolz, er sei Berufsrevolutionär. Was irgendwie auch stimmte. Natürlich ging es bei der Hydra um Gleichberechtigung, aber er glaubte, er sei befugt, die Gleichberechtigung zu organisieren. Mit Lohnarbeit wurden andere aus der Kommune beauftragt. Franco versuchte, sich in Betriebe einzuschmuggeln und Streiks zu organisieren, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Zweimal gelang es ihm (laut seinen Aussagen; eine zweite Quelle konnte ich nicht finden).
Zunächst in der Komödie Basel, einem städtischen Theater, wo er als Bühnenarbeiter jobbte. «Die Bühnenarbeiter malochten zum Teil elf Stunden pro Tag, zum Teil sechs Tage die Woche, zu einem lausigen Lohn», erzählt Franco. «Ich brauchte nur drei Wochen, bis sie streikten. Dann kam der Gewerkschaftsbonz und stauchte mich zusammen. Ich fand nur: ‹Verpiss dich, mit dir rede ich nicht. Du vertrittst nicht das Proletariat, du vertrittst dich selber›. Ich wurde gefeuert, aber die Bühnenarbeiter erhielten bessere Arbeitsbedingungen.» Einen zweiten Streik organisierte er im Kaminwerk Allschwil. «In der Fabrik herrschte ein unvorstellbarer Krach, und überall war Staub», sagt Franco. «Das war irre. Die Kaminsteine wurden aus Backsteinen hergestellt, die zermahlt wurden. Ein Kollege und ich jobbten dort temporär. Die meisten Arbeiter waren Sizilianer oder Spanier. Sie verdienten weniger als den gesamtarbeitsvertraglichen Mindestlohn. Ganz langsam führten wir sie in unsere Sache ein, zu Beginn luden wir sie dauernd zum Essen ein. Nach drei Monaten streikten sie. Mein Kollege und ich wurden gefeuert, aber die Arbeiter erhielten endlich den Mindestlohn.»
Als über die dritte sogenannte Überfremdungsinitiative des Industriellen James Schwarzenbach abgestimmt wurde, trat Bellettini neben SP-Vertretern und Schwarzenbach selbst in einem Saal in Basel auf. Er war voller Schwarzenbach-Anhänger. «Zuerst ratterten die Genossen ihren marxistischen Kauderwelsch herunter, was völlig sinnlos war, denn sie wurden nur ausgebuht», sagt Franco. «Ich habe das Publikum rhetorisch eingefangen. Ich sagte: ‹Ihr wollt die Ausländer rauswerfen? Ihr habt recht!› – Dann machte ich eine Kunstpause, und das Publikum johlte. ‹Wisst ihr wieso?›, fuhr ich fort. ‹Weil ihr absolut feige Säue seid! Ihr getraut euch nicht, für eure Rechte zu streiken, gar nichts getraut ihr euch! Ihr blöden Affen, wenn ihr Verbesserungen wollt, müsst ihr den Finger aus eurem Arsch nehmen! Aber das Einzige, was euch einfällt, ist, auf diejenigen loszugehen, die noch schwächer sind!›» Franco lächelt zufrieden. «Der Saal war mucksmäuschenstill.»
Inspektor Hubers Horrorfilm
«Hinzu kommt, dass oft das Brot oder die Cervelats ins Stroh oder in den Schlamm fielen, aber all das ekelte die Hungrigen nicht an!»
– Bericht der Bundespolizei über ein Hydra-Sommerlager, 1971
Ende 1971 setzte sich Franco einen Schuss Speed in der Küche der Hydra-Kommune. Er liebte Speed. Speed war besser als ein Orgasmus. Nach einem Schuss war er zwölf Stunden lang drauf. Plötzlich beherrschte er Schlagzeugrythmen, die er seit Monaten nicht auf die Reihe bekommen hatte.
Drogen waren verboten in der Hydra. Zumindest harte Drogen – man hielt sie für eine Waffe gegen die rebellierende Jugend, um sie schlapp und aktionsunfähig zu machen. Bei einem Konzert im Jugendkeller Anfang 1972 blockierten Hydra-Leute den Eingang, um Drogenhändlern den Zugang zu verweigern. Später warfen sie die Dealer mit Gewalt aus dem Lokal. «Bis jetzt genügte es den Geschäftemachern, dich in Betrieben, Boutiquen und Kinos etc. auszubeuten», hiess es in einem Flugblatt der Hydra. «Im romantischen Schaffhausen sind Opium- und Heroinhändler daran, deine Resignation und Unzufriedenheit zu mörderischen Profiten zu machen. Wollt ihr diesen Schweinen noch lange tatenlos zusehen?»
Franco wurde aus der Kommune geworfen und in eine Wohnung in Zürich strafversetzt. Noch würde er während ein paar Jahren Drogen nehmen, dann aber, mit vierundzwanzig, endgültig aufhören. Er wurde nicht schlecht darin, sein Suchtportfolio zu diversifizieren. Nach den bewusstseinserweiternden Drogen kamen Alkohol, Sex, Essen und dann Computerspiele.
Dass Franco strafversetzt wurde, bekam auch die Polizei mit. Sie observierte die Hydra-Kommune. Immer wieder gab es Razzien. Wie allen Outlaws jener Zeit warf man der Hydra Drogenkonsum vor, und das war schon schlimm, schlimmer war nur noch der polizeilich verbreitete Verdacht, die Hydra sei sowas wie der verlängerte Arm der Terrorgruppe Rote Armee Fraktion – oder zumindest eine Aussenstelle des sowjetischen Geheimdiensts.
Theoretisch hat Franco nichts dagegen, einen rechtsextremen Hetzer mit einer Kalaschnikow umzunieten. Das sagt er oft. Aber in seinen Augen bringt das überhaupt nichts, es ist im Gegenteil kontraproduktiv – er ist absolut gegen Gewalt, gegen Terrorismus sowieso. Ulrike Meinhof und Andreas Baader, die Köpfe hinter der RAF, hält er für komplett durchgedreht.
In Basel gab es zwei grossbürgerliche Söhne bei der Hydra, die in den bewaffneten Widerstand gehen wollten. Franco und seine Kollegen verprügelten sie und stellten sie auf die Strasse. «Einmal verarschten wir die Basis der Hydra», erzählt Franco. «Wir sagten ihnen: So, Genossen, morgen geht der bewaffnete Kampf los. Du und du und du, ihr holt das Sturmgewehr eures Vaters und Munition, geht zum Lohnhof – das war das Untersuchungsgefängnis – und befreit die politischen Gefangenen. Es waren damals ja alle politische Gefangene. Andere schickten wir los, um die Postzentrale zu übernehmen. Sie alle wurden kreideweiss. Dann lösten wir die Sache auf und lachten sie aus. Wie wäre es damit, sagten wir, ein bisschen selber nachzudenken?»
Zumindest inoffiziell besassen ein paar wenige Hydramitglieder eine Pistole. Sicherheitshalber, wie sie sagten. Am linken Unterarm hat Franco eine circa fünf Zentimeter lange Narbe. Seine Geschichte davon geht so: Als er mal wieder strafversetzt wurde, in eine Kommune am Stadtrand von Wien, tauchten eines Tages zehn Rechtsextreme mit Schlagstöcken und Messern vor der Wohnung auf. Franco schlug einem mit der Faust ins Gesicht und rannte davon, aber einer erwischte ihn mit einem Messer.
Ich stosse auf einen Artikel von Arthur Huber, der von 1970 bis 1985 Kommandant der Schaffhauser Stadtpolizei war. Hubers Motto lautete «Ein Delinquent bestimmt das Mass der polizeilichen Gewalt», wie er einmal sagte – es war also nicht der Polizist, und schon gar nicht das Gesetz, sondern der Straftäter, der die Anzahl Schläge festlegte. Im Artikel, einem Gastbeitrag in den Schaffhauser Nachrichten, rechtfertigte Arthur Huber, warum er der Hydra verbot, auf dem Fronwagplatz Geld zu sammeln. Es war im Juni 1973. Die Hydranten hatten keine Lust mehr, oder keine Energie mehr, ständig von den Bullen die Party versaut zu bekommen. Sie beschlossen abzuhauen. In Südfrankreich wollten sie ein Selbstversorgungskollektiv namens Longo Maï aufbauen. Um ein grosses Grundstück zu kaufen, brauchten sie Geld.
Mit dem Gastbeitrag in der Hand laufe ich die Treppen zu Francos Wohnung hoch. Durch ein Fenster im Treppenhaus sehe ich Francos Nachbar, der nackt auf dem Balkon steht und raucht. Ich höre, wie Franco den Schlüssel zweimal umdreht, um die Tür zu öffnen.
Wir setzen uns an den Küchentisch. Franco schöpft Eis aus zwei grossen Bechern in zwei Schüsseln, was nett aber sinnlos ist, weil wir die Eisbecher ohnehin leeren werden, und ich lese ihm den Gastbeitrag vor. Arthur Huber schrieb, er habe die Hydra-Leute versucht zu überzeugen, dass es verantwortungslos sei, «wenn zum Teil Schüler zum Drogenmissbrauch, zu Diebstählen und Gruppensex verführt und diese vor den Eltern versteckt werden». Aber der Anführer – gemeint ist wohl Franco – habe ihn nur ausgelacht und gesagt, dass man stolz darauf sei.
«Das ist sehr gut möglich», sagt Franco. «Sie behandelten uns, als würden wir morgen einen politischen Umsturz einleiten. Aber das reizte uns. Wenn sie uns unbedingt als Staatsfeind Nummer eins haben wollten … Drogen waren in der Hydra verboten. Gruppensex gab es nicht. Wir hatten einfach freien Sex. Wenn du Lust hattest, fragtest du jemanden. Dann habt ihr gebumst, und die Leute gingen vorbei, ohne dass es sie interessierte. Solange das lief, war Sex wie Essen und Trinken. Sex verlor jegliche Bedeutung, die es im bürgerlichen Rahmen hatte.»
Arthur Huber schrieb weiter, dass die Hydra Politiker, Firmenbosse und Chefbeamte observiere und Karteien über sie erstelle. Mit einem klaren Ziel: «In drei Jahren, haben mir die Hydrachefs prophezeit, würden sie regieren und dann mit uns abrechnen.»
«Das ist dermassen gaga» – Franco lacht heiser und laut – «Ich glaube, wir hatten nicht mal einen Fotoapparat. Karteien führen, für wen? Wussten die überhaupt irgendwas über uns? Aber das war das Niveau dieses Packs um Huber und Co. Die sahen sich in irgendwelchen James-Bond-Filmen. Was sich diese Leute mir gegenüber alles erlaubt haben. Angefangen beim ganzen Rassismus in der Schule. Von klein auf war ich paranoid gestimmt. Meistens kam etwas Böses auf mich zu … Dieses Pack hatte halt irre Fantasien.»
Das war die Fantasie: dass die Hydra Geld aus Moskau erhalte oder eine sowjetische Schläferin sei. Aber nirgends in hunderten Seiten alter Polizeirapporte konnte ich auch nur einen einzigen Hinweis auf jene Horrorfantasien finden.
«Dabei hatten wir nichts am Hut mit den Stalinisten», sagt Franco weiter. «Wären russische Panzer eingefahren, hätten wir zum Gewehr gegriffen. Nun, diese ganze Überwachung und Razzien und Verhöre hatten ihren Preis. Später hatte ich immer wieder paranoide Schübe. Jedes Mal, wenn ich einen Bullen sah.»
Das Eis ist geschmolzen. Franco löffelt den Rest aus seiner Schüssel. Er wirkt müde, ein bisschen desillusioniert. Das sage ich ihm.
«Dazu bräuchtest du Illusionen», sagt er. «Die hatte ich nie. Dafür kenne ich die Menschen zu gut. Ich war Revolutionär, ohne an die Revolution zu glauben. Kannst du dir das vorstellen?»
«Nein.»
Kapitel 4: Melancholie und Macho-Mann.
«Da mein Leben vom bürgerlichen Standpunkt aus gesehen ohnehin versaut ist, bin ich offenbar das schwarze Schaf in der Herde. So gesehen erfülle ich doch noch eine wichtige gesellschaftliche Funktion.»
Franco Bellettini, Interview in den Schaffhauser Nachrichten, 1971
Und dann war er weg. Im Dezember 1973, als die meisten Hydranten schon nach Südfrankreich ausgerissen waren, notierte ein Polizist den letzten Eintrag in Francos Fiche (es ging um eine Demonstration in Zürich). Die Schreckgestalt des Staatsfeinds löste sich auf wie ein Asteroid, der kurz vor dem Aufprall in der Atmosphäre verglüht.
Wir stehen unten vor Francos Wohnung. Ich frage: Wie endete es mit der Hydra?
«In der Hydra durfte es keine Zweierbeziehungen geben», sagt Franco.
«Ungefähr sechs Frauen lebten bei uns. Aber ich habe mich in eine von ihnen verliebt. Ich stand in einem Zimmer der Kommune, mit einer Flasche in der Hand, und jedem, der reinkam, drohte ich, die Flasche über den Kopf zu ziehen, denn die Frau, sagte ich, gehöre mir. Darauf wurden wir beide ausgeschlossen.»
Dieser totale Besitzanspruch, denke ich und schaudere. Ich zünde eine Zigarette an. Franco biete ich auch eine an.
Er schüttelt den Kopf. «Danke. Mein Herz, ich habe fünfzig Jahre geraucht. Die Freundin und ich zogen jedenfalls nach Basel. Ich konnte ihren Grossvater überzeugen, ihr sein Haus zu schenken. Als wir das Haus ausgebaut hatten, ging die Beziehung in die Brüche. Wir haben uns abgeschlagen. Bis 24 war ich ein gewalttätiger Hund. Danach hörte ich auf.»
Ich schaue ihn misstrauisch an. «Dafür legst du die Hand ins Feuer?»
«Du kannst sie mir abhacken. Diese Gewalt hat etwas in mir geschlissen. Du hattest absolut romantische Vorstellungen einer Beziehung, denen du überhaupt nicht entsprochen hast. Ich war dermassen eifersüchtig. Später hatte ich x depressive Episoden, weil ich so ein Arschloch war. Ich erkannte, das ich nur das reproduzierte, was mir widerfahren war.»
«Viele, eigentlich alle Frauen, die um 1968 politisiert wurden, erzählten mir, dass ein gewisser Machismo in der linken Szene weiterhin verbreitet war, obschon die Männer grosse Töne über Gleichberechtigung spuckten.»
«Sicher. Ein beliebter Spruch ging so: Wir haben nichts gegen Frauenbewegungen, aber schön rhythmisch sollten sie sein.»
Ich bin fasziniert. Wie kann jemand, der derart radikal gegen die Ungleichheiten der Welt kämpft, die Ungleichheiten vor seiner Nase übersehen? Gerade jemand, dessen eigener Körper durch eine Politik der Ungleichheit – als Kind italienischer Migranten und als Bauarbeiter – kaputtgemacht wurde?
«Das war natürlich dumm», fährt Franco fort. «Ich hatte Sex mit vielen Frauen. Ein paar Hundert. Und es war selten befriedigend. Eigentlich hatte ich ein schwaches Ego. Ich brauchte das als Überlebensmechanismus. Entweder war ich aufgeblasen wie ein Frosch oder klein wie ein Zwerg.»
In den folgenden Jahren wechselte Franco oft den Job. Er arbeitete in der Montage, für eine Ölfirma, dann als Elektriker, Schlosser oder verkaufte Zeitungsabos am Telefon. Nirgendwo hielt er es lange aus. Seine Lunte war kurz. Manchmal «verjagte es ihn» nach ein paar Monaten. Manchmal schon am zweiten Tag. Als er in der ersten Woche zu spät auf der neuen Arbeitsstelle in einer Schlosserei in Basel erschien, wurde er vom Chef zusammengestaucht. Franco knallte ihm eine. Der Chef war ganz verdattert. Dann knallte sich Franco selber eine. «So», sagte er zum Chef, «wenn du nicht willst, dass ich allen rumerzähle, dass du mir eine geschmiert hast, hältst du die Klappe.» Franco erhielt noch drei Monate Lohn. Eine Weile war er in der Revolutionären Marxistischen Liga und in diversen Komitees aktiv. Allerdings nur im Hintergrund. Wenn er seine früheren Freunde von der Hydra traf, die in Südfrankreich die Landwirtschaftskooperative aufgebaut hatten, lachte er sie aus. «Na», fragte er hämisch, «wie gehts euren Karotten?»
Ende der Siebzigerjahre, als die meisten anderen seiner Generation gerade erst mit ihren Karrieren loslegten, als sie in Parteivorstände gewählt wurden oder ihre erste Beförderung erhielten, war bei Franco die Luft draussen. Er zog nach Zürich, verabschiedete sich vom Kampf gegen den Kapitalismus und kämpfte mit sich.
72, m, single, sucht Alterswohnung
Im März erfährt Franco, dass das Haus, in dem er seit fast dreissig Jahren lebt, bald umgebaut wird. Vielleicht muss er raus. Als er mir eine E-Mail schreibt, klingt er gereizt. Er will seine Bücher und DVDs zurück, die er mir mitgegeben hat, bei jedem Treffen etwas Neues, über Ken Loach, Thomas Sankara, Materialismus, kulturelle Appropration, Brigate Rosse, der Stapel auf meinem Schreibtisch wurde immer höher. Ich kam bei Weitem nicht dazu, alles anzuschauen. Wenn wir diskutierten und ich in seinen seltenen Redepausen dazukam, ihm zu widersprechen, rügte er mich wie mein alter, pfeiferauchender Lateinlehrer und knurrte, ich sei ein lausiger Historiker.
Klar brächte ich ihm die Sachen zurück, antworte ich. Montag? Montag ist schlecht, dann geht er zu einer Infoveranstaltung des Mieterinnen- und Mieterverbands über Alterswohnungen. Und dann fügt er mal wieder irgendeine herablassende Bemerkung über eine Frau an. Ich spreche ihn darauf an. Er meint, er habe bloss ein bisschen provozieren wollen.
Als wir uns sehen, sage ich, seine Provokationen nervten einfach nur noch.
«Ich bin ein Soziopath, Achtung.»
«Verstehst du, dass ein neues Männerbild befreiend ist?», frage ich. Mein Vater sei beispielsweise Hausmann gewesen, und meine Mutter habe Geld verdient.
«Ach, darum bist du so ein Weichei», sagt Franco. «Du brauchst maximalen Widerstand, nur so wirst du radikal.»
«All die Razzien, Festnahmen, Zeitungsberichte: Das hat dich aber kaputtgemacht.»
«Mein Gott, was sind schon fünfzehn Jahre Psychosen.»
Wie sich an der Veranstaltung über die Alterswohnungen herausstellt, sieht es nicht gut aus für Franco. Über hundert Menschen erscheinen, doppelt so viele wie erwartet. Manche warten seit zehn Jahren auf eine Alterswohnung. Und das in Zürich, wo seit über dreissig Jahren ein rotgrüner Stadtrat regiert. Franco schüttelt den Kopf.
80s Melancholia
Ich habe keine Ahnung, ob Franco Freundinnen oder Freunde hat. Oder ob einfach alles Agitationsmaterial ist. Ich kann ihn bei unseren Eisbecherplünderungen fragen: «Wie gehts?» Und er holt aus: «Muss, muss. Das ist die Realität als Prolet: Man muss. Dieses kleinbürgerliche Versöhnliche geht mir dermassen auf den Geist. Ich will mich überhaupt nicht mit dem Müssen versöhnen.»
Auf seinen täglichen Spaziergängen versucht Franco, mit Passantinnen und Passanten ins Gespräch zu kommen. Jeden Tag mit ein bis zwei Menschen, das macht einige Hundert im Jahr. Vor Kurzem traf er eine Polizistin, die Parkbussen verteilte, und schimpfte mit ihr über die immer grösser werdenden Autos, hergestellt von einer ausser Rand und Band geratenen Konsummaschinerie. Das sei das einzige intelligente Gespräch gewesen, erzählt er, das er in letzter Zeit geführt habe. Er bereut, dass er sie nicht nach der Telefonnummer gefragt hat. «So weit ist es mit mir gekommen», seufzt er.
In den Achtzigerjahren geriet Franco in eine grosse psychische Krise. Er frass alles in sich hinein. Und zwar wortwörtlich. Innert kurzer Zeit nahm er unglaublich zu. Er schloss sich in seiner Wohnung ein. Es war ein Entzug von den politischen Enttäuschungen, von verlorenen Liebesbeziehungen und von seiner Esssucht. Nur frühmorgens ging er kurz raus, um Tomatensauce, Spaghetti, Zwiebeln und Kaffee zu kaufen. Als ihm nach einigen Monaten das Geld ausging, fühlte er sich besser. Er schaute sich die Inserate der ETH für Studi-Wohnungen an. Denn an der ETH, dachte er, studieren meist Söhne reicher Eltern. Eine WG nahm ihn auf. Er kaufte eine Schreibmaschine und einen Stapel Papier und gab sich als Schriftsteller aus. Zwar schrieb er keine einzige Zeile, aber seine Mitbewohner nahmen ihm die Show ab. Als er ihnen nach ein paar Wochen erzählte, er könne die Miete nicht zahlen, durfte er bleiben. Es gehörte offenbar zum guten Ton wohlhabender Kids, sich einen Freak in der Wohnung zu halten.
Mit Anfang vierzig fand er endlich einen Job, der ihm gefiel. Er verkaufte Fernseher, Radios und Musikboxen in einem Geschäft in Zürich. Bald schmiss er den Laden allein. Das passte. Endlich wieder der Boss. Wenn er wollte, konnte er ein unschlagbarer Verkäufer sein. Wenn er nicht so gut drauf war, dann Hagel und Granaten. Nach ein paar Jahren übernahm er den Laden. Er nannte ihn AUDIOPOINT Franco Bellettini. Wenn er ein paar High-End-Boxen für 7000 Franken loswurde, konnte er einige Wochen davon leben. Er, der Kommunist, verkaufte nun Luxusgüter. Oft passte er die Preise dem Einkommen der Kundinnen und Kunden an. Sah er, dass ein Arbeiter sein letztes Geld für eine schweineteure Soundanlage statt für Freundin und Kind ausgeben wollte, jagte er ihn aus dem Laden.
2005 musste er den Laden schliessen. Die Kundschaft blieb aus. Franco hätte Geld für neue Geräte gebraucht, Geld, das er nicht hatte. Gleichzeitig bekam er gesundheitliche Probleme. Dauernd war er im Spital. Erst wurde das Knie, das er sich auf Montage in Saudi-Arabien zertrümmert hatte, x-mal operiert, dann das andere Knie, er holte sich einen Infekt, und kaum ging es den Knien besser, kamen die Magengeschichten hinzu, und als er den Magen in den Griff bekommen hatte, begannen die Herzgeschichten.
Ein paar Jahre vor der Pensionierung landete Franco beim Sozialamt.
Als ich an diesem Abend heimkomme, schreibe ich in mein Notizheft: «Irgendwie machte mich dieser Besuch traurig. Seine zweite Lebenshälfte ist, nach Erzählzeit gerechnet, ein Lebensviertel. Als habe ihn nach 1985 die Kraft verlassen, die bis dahin unerschöpflich schien.»
Nur einmal kehrte die Kraft für kurze Zeit zurück. Als er von A. erzählte, seiner grossen Liebe. Er breitete Fotos von ihr auf dem Küchentisch aus, die er sehnsüchtig betrachtete, und berichtete von gemeinsamen Reisen. (Leider mochte sich A. nicht zu Franco äussern.)
Macho-Mann
Franco will im «Fass» eins trinken gehen. Er war noch nie dort. Mit der Gründung der Fass-Genossenschaft, inklusive Bücherladen, Theater, Beiz und Wohnungen, entstand das erste alternative Zentrum in Schaffhausen. Das war 1977. Zu jener Zeit hatte sich Franco längst aus dem Staub gemacht, und niemand machte sich die Mühe, ihn zu suchen. Das ist wohl Francos Schicksal: Mit seiner Bulldozerenergie hat er viele Leute aufgerüttelt und noch mehr abgeschreckt. Mit dem Ziel, sich ins Gewissen dieses Landes zu pflügen, in dem es so oft heisst, dass man zwar schon leben müsse, schon wohnen müsse, schon essen müsse, schon gesund sein müsse, aber eben die Wirtschaft. Und manchmal habe ich das Gefühl, Franco baute Dinge nur auf, um sie im nächsten Moment niederzureissen.
Auf dem Weg durch die Stadt treffen wir Christina Grieder an. «Ach nein, Franco Bellettini!», ruft sie. Sie muss ihm vor fünfzig Jahren das letzte Mal über den Weg gelaufen sein, in einem ganz anderen Schaffhausen und als ganz andere Person. Christina Grieder war auf einem Bauernhof aufgewachsen, schaffte es als Erste ihrer Familie an die Kantonsschule, trat der SP bei, studierte Landwirtschaft, und dann begann sie eine Karriere beim Bund. Bis zu ihrer Pensionierung vor einigen Jahren war sie zu einer Spitzenbeamtin aufgestiegen. Franco entschuldigt sich, er kenne sie nicht.
«Ich war halt eher eine Unscheinbare damals», sagt Christina.
«Aber du hattest trotzdem ein anständiges Sexualleben?», fragt Franco.
«Frecher Siech.»
«Frauen in den Sechzigerjahren waren halt noch nicht zu gebrauchen.»
«Siehst du, ein verdammter Macho bist du. Ihr Männer wolltet ja immer bestimmen.»
«Kommst noch eins ziehen?»
Die Fassbeiz wurde vor einigen Jahren in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung umgewandelt. Dabei hiess es, auch Banker seien hier willkommen. Und dass man früher für ein Coca-Cola einen Imperialismuszuschlag bezahlen musste, interessiert schon lange niemanden mehr. Als wir eintreten, ist nicht viel los. Die Kellnerin bringt zwei Gläser Weisswein.
«Du greifst alle an, die nicht hundert Prozent gleich ticken wie du», sagt Christina irgendwann, als es schon um Tunesien oder sonst ein Land geht, in dem die Leute für Demokratie auf die Strasse gingen, aber am Ende nur wenig für sie herausschaute. «Wie willst du eine Gesellschaft weiterbringen, wenn du –»
«Mach ich doch nicht», unterbricht Franco. «Ich versuche nur, die Leute ein bisschen zu verunsichern, damit sie anfangen zu denken. Mehr kann ich nicht machen. Ich bin ein alter Mann. Schon der alte Volksgenosse Freud hat gesagt: Den Grundcharakter kann man nicht ändern. Man kann sich bestenfalls mit sich selbst versöhnen.» Dann wird er etwas rätselhaft: «Ich habe Dinge gemacht, von denen ich euch nicht erzähle … Ich kenne die Ursachen und alles, aber es nützt nichts. Es ist nicht zu entschuldigen.»
«Das finde ich trotz allem versöhnlich», sagt Christina.
«Du kannst mir den Buckel runterrutschen», sagt Franco.
Die Gäste, die nun laufend zum Abendessen in die Beiz kommen, drehen sich immer wieder nach uns um. Drei junge Frauen, die nach Jungsozialistinnen aussehen, schauen Franco an und dann sich, mit hochgezogenen Augenbrauen, als sagten sie: Dem müsste man es mal sagen. Aber niemand sagt etwas.
«Tja», seufzt Christina und presst die Lippen zusammen. «Es ist nicht so gelaufen, wie dus dir erhofft hast.»
«Man muss das Leben leben», sagt Franco. «Man ist gar nicht so frei, wie man meint. Familie, Gesellschaft, das alles prägt deine Laufbahn. Ich wurde der, der ich bin, weil ich zu viele Schläge einstecken musste und irgendwann dagegen rebellieren konnte. Ich habe zu fest unter der sogenannten Normalität gelitten. Normale Leute machen mir Angst.»
«Also», sagt Christina nach einer Weile und steht auf. «Ich muss jetzt gehen.»
«Du weisst aber schon, dass du mir eine halbe Herzbaragge verursachst», sagt Franco und spielt den enttäuschten Verliebten.
«So eine fiese Nuss», sagt Christina. «Ich sehe: Du bist in deinem Elend gefangen. Das schmerzt.» Sie umarmt Franco zum Abschied.
Franco schaut mich ratlos an. Schliesslich fragt er: «Bin ich wirklich so provokativ?»
Eine Frau und ein Mann setzen sich zu uns an den Tisch. Sie bezeichnen sich als SP-Sympathisierende. Franco bestellt Abendessen, etwas Vegetarisches, und gibt den Unterhalter. Er erzählt von der Bluff-Aktion mit den 10 000 Kommunisten, um ein Heimkind aus dem Gefängnis zu befreien. Die meiste Zeit aber demontiert er die Sozialdemokratie, die mit ihrem kleinbürgerlichen Getue nichts anderes sei als eine Gehilfin bei der Zerstörung der Welt. «Ihr habt sicher Georg-Fischer-Aktien», sagt er irgendwann. Die Frau und der Mann nicken. Franco lächelt triumphierend. Sie bestehen darauf, seine Rechnung zu übernehmen.
Epilog
«Franco Bellettini?», fragt Bea Schäfli, als sie den Anruf entgegennimmt. «Natürlich erinnere ich mich. Franco beschützte uns Kinder immer, wenn Buben aus anderen Quartieren bei uns auftauchten, um Krawall zu machen.» Bea Schäflis Eltern führten gleich unterhalb der Bellettinis ein Restaurant. Sie ging mit Francos jüngerer Schwester zur Schule. «Die Bellettinis waren herzensgute, ehrliche Leute. Aber der Vater ist dann tödlich verunglückt mit dem Auto.»
«Wie bitte?», frage ich.
«So um 1980. Der Vater und die Nonna sassen vorne im Auto. Beide tot. Die Schwester und die Mutter hinten überlebten.»
Zur Serie:
Im Rahmen der Recherche zu seinem Buch «Schaffhausen muss sterben, damit wir leben können» ist der Journalist Kevin Brühlmann auf Franco Bellettini aufmerksam geworden. Für die AZ hat er darauf ein detailliertes Porträt niedergeschrieben, das wir in einer Serie veröffentlichen.
Am Donnerstag, 27. Juli, um 19.30 Uhr liest Brühlmann in der «Garage» im Rebleutgang 2 aus der Serie – anschliessend Diskussion mit Franco Bellettini.