Frau Anstand zieht weg

19. Juli 2023, Sharon Saameli
Foto: Robin Kohler

Nathalie Zumstein ist als Grossstadträtin zurückgetreten. Den Parlamentsbetrieb wird sie wenig missen – Schaffhausen dagegen sehr. Ein Gespräch über Polarisierung und Geltungsdrang.

Es tue schon weh, das kleine Paradies zu verlassen, sagt Nathalie Zumstein und nippt noch einmal am eisgekühlten Appenzeller. Seit über zwei Jahrzehnten lebt sie nun in Schaffhausen. Aber der Entscheid ist gefallen: Im September wird die alt Grossstadträtin und Mitte-Politikerin mit ihrem Ehemann ins Berner Mittelland ziehen. Daran ist nicht die Politik schuld. Aber die Bilanz der 69-Jährigen ist tatsächlich keine gute. Und nach der aufreibenden Grossstadtratssitzung von vergangenem Dienstag sei es nun doch auch zu verschmerzen, dass sie dem Parlament den Rücken kehrt.

Dabei war Nathalie Zumstein im linken wie im rechten Lager stets gern gesehen. Sie gilt als undogmatische Sachpolitikerin – wenn auch als eine unauffällige. Dazu gibt es nur eine Ausnahme. In einer ihrer letzten Sitzungen als Ratspräsidentin, Ende 2022, rügte Nathalie ­Zumstein das Parlament, weil rund 60 Appenzeller des Ratsausflugs mit Steuerbatzen statt mit den eigenen Portemonnaies beglichen wurden. Zumstein ging als «Die Ernüchterte» schweizweit viral.

Nathalie Zumstein, Sie ziehen weg, in die Nähe von Bern. Hat Die Mitte dort schon bei Ihnen angeklopft?
Nathalie Zumstein Nein, die wissen noch nichts von ihrem Glück. Wobei: Wir haben die Wohnung in Rubigen der dortigen Parteisekretärin abgekauft. Aber ich war sowieso nie für die Partei in der Politik, sondern für die Bildung. Dass ich ins Schaffhauser Stadtparlament gerückt bin und Parteipräsidentin war, habe ich eigentlich nicht angestrebt. Reingezogen hat es mich dann doch.

Werden Sie denn jetzt die Finger von der Politik lassen? Können Sie das überhaupt?
Wohl werde ich mich sonst irgendwie engagieren, aber nicht mehr parteipolitisch. Sie müssen wissen: Ich werde 70. Irgendwann muss man aufhören. Ich bin keine Nancy Pelosi und auch kein Joe Biden.
In welche Richtung würde es denn gehen?
Dazu habe ich noch keine Vorstellungen. Vielleicht eine Art Seniorenuniversität. Oder ich engagiere mich in der Integration von Flüchtlingen. Etwas Karitatives sehe ich am ehesten.

In Ihrer Rücktrittsrede vergangene Woche sagten Sie, dass Sie nie eine richtige Parlamentarierin gewesen seien, weil Ihnen das Parlieren schwergefallen sei. Sie hätten lieber gehandelt als geredet. Wird im Stadtparlament zu wenig gehandelt?
Der Rat ist zum Reden da. Hierfür bin ich, erstens, zu wenig schlagfertig. Zweitens bin ich Naturwissenschaftlerin. Ich komme aus einem Gebiet, in dem man in die Tiefe geht, die Materie analysiert und etwas herauszufinden versucht. Ich bin sehr lösungsorientiert. Das haben meine Kinder mir auch schon vorgeworfen: dass ich immer eine Lösung finden müsse. Gleichzeitig ist das Parlament ja auch die Legislative der Stadt.
Das ist ja mein Vorwurf ans Parlament: Es sollte sich dieser Verantwortung eigentlich bewusst sein und sachlich entscheiden. Stattdessen fallen die meisten Entscheide in den Links-rechts-Blöcken.

Vor ein paar Jahren sagten Sie der AZ:
«Dieses Parlament ist ein Leerlauf sondergleichen, Zeitverschwendung!» Das war 2017, als Sie Ihre Ämter im Stadtschulrat und im Grossen Stadtrat verloren hatten und nicht in den Erziehungsrat gewählt wurden. Hat sich an Ihrer Einstellung nichts geändert?

Nein. Leider sehe ich das immer noch so. Situationen, in denen die Blöcke durchbrochen worden sind, habe ich nur ganz selten erlebt. Mittelwege sind zu kompliziert geworden. Diese Kompromisslosigkeit hat mir an der Politik nie gefallen.

Haben Sie ein Beispiel?
Die Parkplätze! Was wir da seit Jahren an Zeit und Herzblut für Vorstösse verbraten, die für die Stadt eigentlich irrelevant sind! Manchmal glaube ich, ein Teil dieser Vorstösse ist nur für die Tribüne geschrieben worden. Oder weil Wahlen sind.

Als Ratspräsidentin war es Ihr Anliegen, die Gräben etwas zuzuschütten und die Wogen zu glätten. Ist Ihnen das nicht gelungen?
Bei wenigen Vorstössen habe ich gemerkt, dass die Ratsmitglieder aufeinander hören. Ein Beispiel habe ich jetzt aber keines.

Die Parkplätze! Was wir da seit Jahren an Zeit und Herzblut für Vorstösse verbraten, die für die Stadt eigentlich irrelevant sind! Manchmal glaube ich, ein Teil dieser Vorstösse ist nur für die Tribüne geschrieben worden.

Das wirkt konsterniert.
(überlegt) Ja. Ernüchtert.

Woran scheitert es?
(überlegt länger) Viele kommen schlecht vorbereitet in diese Sitzungen. Das ist ein Grund. Der Hauptgrund liegt aber in der Polarisierung. Politik ist auf Kompromisse angewiesen. Aber die kommen nicht mehr zustande, wenn jeder immer das Maximum fordert und sich selbst gut verkaufen will. Die Profilierungssucht ist immens geworden, und seit der Grosse Stadtrat den Livestream hat, ist das noch schlimmer geworden.

Glauben Sie wirklich, dass die beste Lösung für gesellschaftliche oder wirtschaftliche Probleme immer in der Mitte liegt?
Sehr oft. Gerade angesichts des grossen Meinungsspektrums. Ja, die Demokratie lebt vom Kompromiss.

Sie lebt auch von Reibung.
Reibung allein bringt nichts, am Schluss muss eine Lösung her. Die Linke hat viele gute Ideen, und ich hatte gerade mit den linken Frauen im Rat immer sehr gute Gespräche. Manchmal musste ich aber ehrlich sein: Sie haben vielleicht Recht, aber die Wirklichkeit sieht halt anders aus.

Beim Treffen mit Nathalie Zumstein drückt eine Kerneigenschaft immer wieder durch. Die studierte Biologin und Politikerin sieht sich nicht nur dem Dialog verpflichtet, sondern auch dem Faktischen. Darum habe sie beispielsweise – trotz allem Verständnis – nie an einem feministischen Streik teilgenommen: weil sie manche Forderungen als übertrieben oder schlicht statistisch falsch ansieht. Zudem stellt Zumstein immer wieder die Methodenfrage. Ein Streik, das sei nicht ihr Instrument, ebenso wenig wie eine Strassenblockade, um auf den Klimakollaps hinzuweisen. Eigentlich hat Zumstein aber ein grünes Herz – gerade weil sie sich der Wissenschaft verpflichtet sieht. Als der Grosse Stadtrat vergangene Woche eine Interpellation zur Reduktion der Anzahl PKW auf Stadtgebiet diskutierte, hätte sie am liebsten reingerufen: «Kostenwahrheit! Ihr habt auf Kosten der Umwelt profitiert und billig gelebt. Jetzt müsst ihr den Preis dafür zahlen.»

Frau Zumstein, Sie sagten vergangene Woche, Sie haben als Ratspräsidentin 2022 viel lernen dürfen. Was denn?
Ich habe gelernt, vor den Leuten zu stehen. Ich bin ein scheuer Mensch und hatte damit anfangs sehr grosse Mühe. Und ich habe Menschen kennengelernt, die ich sonst wohl nie getroffen hätte.

Ich dachte, diese Aussage habe einen versöhnlichen Touch.
Ich bin niemandem böse, auch denen nicht, die mich im Rat angegriffen haben.

Wenn der Ratsbetrieb Sie so lang so frustriert hat – warum sind Sie so lang geblieben?
Aus Pflichtbewusstsein. Ich war nicht im Rat für mich selber, sondern um etwas Sinnvolles zu bewirken. Diesen Anspruch stelle ich an alles, was ich tue.

Ihr Steckenpferd war stets die Bildung. Da sind die Diskussionen auch langwierig. Als Sie im Jahr 2007 für den Stadtschulrat kandidierten, hiess es bereits, Schulleitungen würden eingeführt und der Stadtschulrat obsolet. Das Begehren kam erst dieses Jahr durch. Ist die Bildungspolitik Ihrer Ansicht nach auch festgefahren?
Nein. In der Bildungspolitik ist das Wichtigste, dass man auf das Wohl der Kinder und auf die einzelnen Lehrpersonen schaut. Nehmen wir das Beispiel der Inklusion von Sonderschulkindern in die Regelschule. Der Grundgedanke, Menschen mit speziellen Bedürfnissen nicht als Exoten aussen vor zu lassen, ist gut. Aber das durchzubocken, ohne das Schicksal des einzelnen Kindes zu sehen, ist ein Fehler. Das Kind kommt zuerst, dann der Idealismus.

Die zweite Eigenschaft Nathalie Zumsteins, die zum Tragen kommt, hängt mit ihrem Hintergrund zusammen: Die Frau stammt aus gutem Haus, entsprechende Vorstellungen von Bildung und Lehre hat sie. Beispielsweise in Sachen Koedukation, der gemeinsamen Beschulung der Geschlechter: Studien gemäss seien separiert beschulte Mädchen besser in Chemie und separiert beschulte Buben besser in Sprachen – aber geschlechtergetrennter Unterricht ist nicht en vogue, dessen ist sich ­Zumstein bewusst. Genauso wenig wie die Sprache Latein, die sie am liebsten als erste Fremdsprache in der Schule einführen würde.

Woher kommt Ihr starker Fokus auf Bildung?
Der begann mit den eigenen Kindern. In Basel habe ich mich als Elternvertreterin für eine dringend nötige Schulreform eingesetzt. Als ich dann aber ein Amt hätte bekleiden können, sind wir nach England umgezogen. Im Vergleich mit dem britischen, aber auch beispielsweise dem amerikanischen Schulsystem ist das unsrige einfach hervorragend. Mit diesem Hintergrund habe ich mich in Schaffhausen für den Stadtschulrat gemeldet.

Sie sind 2007 der CVP beigetreten mit der Begründung, dass diese sich die Bildung auf die Fahne geschrieben habe. Rückblickend: War das die richtige Wahl?
Ja, aber nicht wegen der Bildung, sondern weil es eine Partei war, die mir keine Vorschriften darüber machte, was ich denken und wie ich politisieren sollte. In der SVP hätte ich Stimmzwang gehabt, und in der SP wird man schief angeschaut, wenn man mal mit der FDP stimmt. In der Mitte-Fraktion habe ich mich sehr wohl gefühlt, die Diskussionen mit der GLP, den Grünen und der EVP waren immer respektvoll.

In den vergangenen Jahren wurden Bildungsfragen aber vor allem von links gestellt.
Bei der SP geht es zu stark um Chancengleichheit. Sie will gleiche Chancen für alle, aber das schafft man nicht, weil in Klassen mit 22 Kindern manche Kinder einfach zu kurz kommen. Ich bin der Meinung, dass wir auch die Talente fördern müssen.

National hat Die Mitte rund 14 Prozent Wahlanteil. In Schaffhausen gelang ihr die Wiederauferstehung aus dem Dasein als Kleinstpartei nicht – obwohl Sie vorhatten, die Partei umzukrempeln, als Sie Präsidentin der CVP Schaffhausen wurden. Was ging schief?
Erstens ist Schaffhausen ein reformierter Kanton, sogar ein Reformkanton. Mein Schwiegervater sagte einst, die Schaffhauser seien Katholikenfresser (schmunzelt). Zweitens ist es mit den Parteien wie bei Magneten: Ein grosser Magnet hat ein stärkeres Anziehungsfeld als ein kleiner. Dazu kommt, dass die GLP der Mitte sehr viele Wählerinnen und Wähler abgenommen hat. Ich habe versucht, Die Mitte auf einen grünen Zweig zu bringen, aber in einem gewissem Alter kann man eben keine jungen Leute mehr anziehen.

Die Mitte hätte angesichts der Polarisierung, die Sie kritisieren, eine Kernrolle inne.
Völlig. Mit der Namensänderung von der CVP zu Die Mitte wäre das auch manifest geworden. Der Imagewandel kommt, aber sehr, sehr langsam. Im Grunde müsste man den Menschen zeigen, wie sie wieder in andere Blasen hineinkommen, um alldem entgegenzuwirken. Das mache ich selber übrigens aktiv.

Ich habe versucht, Die Mitte auf einen grünen Zweig zu bringen, aber in einem gewissem Alter kann man eben keine jungen Leute mehr anziehen.

Wie denn?
Einer meiner Brüder ist während der Pandemie in verschwörungstheoretische Kreise gerutscht. Ich habe ihn sehr lieb, aber wir haben uns einfach nicht mehr gefunden. Dann hat er mir Artikel geschickt von irgendwelchen indischen Gurus, die komplett falsch argumentiert haben und einfach nicht wussten, wovon sie sprachen. Darauf habe ich meinem Bruder wissenschaftliche Artikel über Impfungen geschickt und mit ihm lange diskutiert. Wir mussten uns beide Mühe geben, schlussendlich hat es geklappt. Solche Auseinandersetzungen brauchen viel Kraft – und sind offenbar in der Politik zu schwierig.

Ich habe eine letzte Frage. Sie galten als eine Politikerin ohne ideologische Brille, die ihre Ohren auf alle Seiten offen hat. Nur in einigen Dingen waren Sie echt stur.
Ja?

Warum ist Ihnen Anstand so wichtig, Frau Zumstein?
Ach, die Anstandsfrage habe ich doch wirklich nur bei dieser Causa Appenzeller gestellt! An meiner eigenen Ratsfeier hatte ich alle Drinks selber bezahlt. Beim Ratsausflug war ich aber der Ansicht, dass ich mit dem Geld der Steuerzahlenden nicht so freizügig umgehen kann. Darum verlangte ich, dass die Drinks auf die eigene Rechnung gehen sollen. Zwei, drei – Entschuldigung – «alte weisse Männer» sagten dann, ich habe gar nichts zu sagen. Tags darauf informierte mich der Wirt, dass die Schnäpse doch auf die allgemeine Rechnung gelangten. Wären die Kommentare davor nicht gewesen, hätte ich vielleicht nichts gesagt.

Auch vor dem «Appenzeller-Gate» galten Sie als eine, die viel Wert auf Sittlichkeit legt.
Schaffhausen hat vielleicht eine etwas andere Vorstellung von Respekt als ich. Das Credo «noblesse oblige» wurde mir von klein auf eingeimpft, ich komme aus einer Familie, in der Anstand eine ganz grosse Rolle spielte. Respekt nicht vor der Obrigkeit, sondern vor dem Gegenüber war mir immer sehr wichtig – darum haben mir Herablassungen gegenüber Frauen oder gegenüber Ausländern immer wehgetan.

Nehmen wir darauf noch einen Appenzeller?
Nehmen wir noch einen (lacht)!