Eine Frage der Kalkulation

10. Juli 2023, Marlon Rusch
Foto: Robin Kohler

Spital: Seit fünfzehn Jahren plant Schaffhausen einen Neubau. Es ist eine Irrfahrt. Jetzt sollen plötzlich erneut 70 Millionen Franken fehlen. Doch stimmt das überhaupt? Eine Analyse.

Es gibt besonnene Stimmen in der kantonsrätlichen Gesundheitskommission, die sagen, das Neubauprojekt des Kantonsspitals sei ein «Debakel». Vor einem Monat hat die AZ die unglaubliche Geschichte des 15-jährigen Projekts rekonstruiert – und hergeleitet, welche Chancen in dieser Zeit vertan wurden und welche Probleme daraus entstanden (nachzulesen in der Ausgabe vom 8. Juni, epaper.shaz.ch).

Damals wurde publik, dass gemäss Aussagen des Spitalratspräsidenten Alphons Schnyder 70 Millionen Franken für den geplanten 240 Millionen Franken teuren Neubau fehlen. Schnyder hatte hergeleitet, wie sich das wirtschaftliche Umfeld im Gesundheitsbereich in den vergangenen Jahren verschlechtert hatte, sodass die Spitäler einer düsteren Zukunft entgegensehen: Die Kosten steigen wegen Teuerung, Energiepreisen, Löhnen. Gleichzeitig stagniere der Ertrag, weil die Krankenkassen sich weigern, die Tarife für Behandlungen nach oben anzupassen.

Aus diesem Grund könnten auf dem Kapitalmarkt nur 150 bis 160 Millionen Franken aufgenommen werden. Rechne man eigene Mittel der Spitäler dazu (offenbar rechnete er mit rund 10 Millionen Franken), ergebe sich eine «Finanzierungslücke» von 70 Millionen Franken. Schnyder schlug vor, dass der Kanton einspringt und die Lücke schliesst.

Alphons Schnyders Aussage barg Zündstoff, bis anhin ging die Politik davon aus, dass das Spital den Neubau selber finanzieren könne. Und es war eine Aussage mit Auswirkungen: Wegen Schnyders Erklärung wurde die Spitalinitiative der SP für gültig erklärt, welche fordert, dass der Kanton die Spitäler mit 60 Millionen Franken unterstützt. Der Kantonsrat hat am 19. Juni ausserdem beschlossen, dass der Regierungsrat einen Gegenvorschlag zur Initiative ausarbeiten muss, wofür dieser eineinhalb Jahre lang Zeit bekommt. Das Neubauprojekt wird sich also erneut verzögern.

Eine zentrale Frage aber ist im finanzpolitischen Dickicht dieses riesigen Bauprojekts etwas untergegangen: Was hat Spitalratspräsident Schnyder dazu bewogen, diese schwerwiegende Aussage zu treffen?

Wie gut sind die Zahlen?
Eine kurze Rückblende: Am 26. November 2022 gab Alphons Schnyder den Schaffhauser Nachrichten ein Interview, in dem er gefragt wurde, ob ein Neubau für 240 Millionen Franken das Richtige für Schaffhausen sei. Schnyder antwortete: «Ich glaube an ein eigenständig finanziertes und betreibbares Spital in Schaffhausen, sonst hätte ich die Aufgabe als Spitalratspräsident nicht übernommen. […] Dass die Pläne sportlich sind, wissen wir, aber wir werden das neue Spital bauen können. […] Die Spitäler Schaffhausen wirtschaften noch immer deutlich besser als der Gesamtdurchschnitt der Schweizer Spitäler.»

Dieser Optimismus ist auch im Geschäftsbericht 2022 zu spüren, den der Spitalrat am 25. April 2023 veröffentlichte und der besagte, das Resultat sei «erfreulich». Im Finanzbericht schrieb der Spitalrat, der Bestand an flüssigen Mitteln habe sich auf 65,9 Millionen Franken erhöht, das Eigenkapital der Spitäler belaufe sich auf 152,2 Millionen Franken, die Eigenkapitalquote betrage 85,1 Prozent.

Das alles sind im interkantonalen Vergleich der Spitäler grundsolide Kennzahlen: Die durchschnittliche Eigenkapitalquote der Deutschschweizer Spitäler, also gewissermassen ihre finanzielle Reserve, betrug 2022 lediglich 36,6 Prozent, nicht einmal halb so viel wie die Spitäler Schaffhausen. Dies müsste eigentlich den Schluss zulassen, dass es um die Spitäler Schaffhausen sehr gut bestellt ist. So schrieb der Spitalratspräsident denn im Geschäftsbericht auch, es sei den Spitälern möglich, «grössere Investitionen selber zu tragen und kommende finanziell schwierige Jahre zu verkraften».

Am 11. Mai, keine drei Wochen nach Publikation des Geschäftsberichts, zeichnete Schnyder dann gegenüber der Gesundheitskommission des Kantonsrats ein düsteres Bild und sprach von einer «langfristigen Finanzierungslücke von knapp über 70 Millionen Franken».

Wie geht das zusammen?

Option 1: taktisches Kalkül
Schnyder hat nicht von sich aus von einer «Finanzierungslücke» gesprochen, seine Aussagen machte er im Rahmen einer Anfrage der Gesundheitskommission. Und dies geschah in einem besonderen Kontext: In Schaffhausen hatte sich ein Streit um die Spitalinitiative der SP entzündet, welche die Spitäler mit ­­60 Millionen Franken aus der Staatskasse unterstützen will. Der Regierungsrat wollte sie für ungültig erklären lassen, beide Seiten führten Gutachter ins Feld, und schliesslich wurde ein Obergutachter bestellt, um über die Gültigkeit der Initiative zu urteilen. Dieser Gutachter befand, dass die Initiative für gültig erklärt werden könne, wenn die besagten 60 Millionen Franken aus der Staatskasse nötig seien, um den Spitälern «aus regionalpolitischen Gründen eine gesicherte Zukunft» zu verschaffen.

Um herauszufinden, ob es die 60 Millionen Franken für die Zukunft der Spitäler braucht, wurde der Spitalratspräsident befragt. Und plötzlich sprach Alphons Schnyder von einer «Finanzierungslücke» von 70 Millionen Franken. Die Gesundheitskommission schrieb daraufhin: «Diese gesicherte finanzielle Zukunft wäre nach Auskunft von Dr. Alphons Schnyder, Präsident des Spitalrates, aber nicht gewährleistet, wenn das Kantonsspital die ganzen Investitionskosten von geschätzten ­240 Millionen Franken selber aufbringen bzw. aufgenommene Kredite aus eigenen Mitteln vollständig amortisieren müsste.»

Daraufhin wurde die Spitalinitiative für gültig erklärt.

Der Verdacht liegt also nah, dass Schnyder mit der Aussage, es gebe eine «Finanzierungslücke», die 60 Millionen Franken der Initiative für die Spitäler Schaffhausen sichern wollte. Schnyders Kollegin, die Spitalrätin Marie-Theres Caratsch, hatte am 4. März in einem SN-Interview im Zusammenhang mit dem geplanten Neubau gesagt: «Wir würden wohl jedes Geld nehmen, das wir bekommen. Ich kenne aber die Ausgangslage: Wir müssen die Finanzierung selber stemmen und können uns nicht beim Kanton ausheulen.»

Option 2: schlechte Kommunikation
Nachdem die SN und die AZ vor einem Monat über die «Finanzierungslücke» berichtet hatten, reagierte Schnyder. In einer Stellungnahme vom 12. Juni an alle Regierungsräte und Kantonsrätinnen, welche der AZ vorliegt, schrieb er: «Schaffhauser Medienunternehmen haben in den letzten zwei Wochen mehrere Beiträge zur Finanzierung der baulichen Erneuerung des Kantonsspitals publiziert. Diese enthalten verschiedene inhaltliche Mängel. Diverse Kommentare erachten wir als unsachlich und unfair, sie stellen eine Verunglimpfung des Spitalrats und der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Spitäler Schaffhausen dar und haben rufschädigenden Charakter. Der Komplexität des Vorhabens wurde nicht genügend Rechnung getragen und genutzte Informationsquellen wurden nicht oder nur ungenau bezeichnet.»

Weiter schrieb Schnyder: «Die Spitäler Schaffhausen sind weder in Not, noch können sie die 70 Millionen Franken nicht auftreiben.» Auf Anfrage der AZ präzisiert Schnyder, die positiven Prognosen aus dem Geschäftsbericht würden sich auf einen Zeithorizont von drei, vier Jahren beziehen, während sich die Finanzierungslücke auf einen weiteren Zeithorizont von rund fünf bis 20 Jahren beziehe, also auf die Zeit nach dem Neubau, wenn Zinszahlungen und Abschreibungen dazukämen.

«Die Spitäler sollten ein gewisses Risiko auch als Herausforderung betrachten.»

Ex-Spitaldirektor Hanspeter Meister

Im Parlament formulierte es FDP-Kantonsrat Christian Heydecker, der auch in der Gesundheitskommission sitzt, am 19. Juni griffiger: «Die Medien haben den Schluss gezogen, dass 70 Millionen Franken für den Neubau fehlen. Das ist natürlich falsch. Die Spitäler sind durchaus in der Lage, die Baukosten selber zu finanzieren. Das Problem ist, dass der Neubau dann Auswirkungen für die Erfolgsrechnung in den Folgejahren hat.»

Hat Spitalratspräsident Alphons Schnyder also einfach unglücklich kommuniziert? Hat die «langfristige Finanzierungslücke von knapp über 70 Millionen Franken» mit dem geplanten Neubau gar nichts zu tun?

Fakt ist: Mehrere Mitglieder der Gesundheitskommission zeigten sich von den Aussagen des Spitalrats irritiert: FDP-Mann Heydecker sagt gegenüber der AZ, die Voten, dass das Projekt aus eigener Kraft realisierbar sei, und die Stellungnahme gegenüber der Gesundheitskommission, wonach eine Finanzierungslücke bestehe, stünden «im Widerspruch» zueinander. Es werde dazu noch eine Aussprache zwischen Spitalrat, Gesundheitskommission und Geschäftsprüfungskommission geben. GLP-Mann Ueli Böhni sagt auf Anfrage, es sei «nicht nachvollziehbar», dass der Spitalrat ein Jahr lang erzähle, die Finanzierung sei kein Problem, und es dann plötzlich eine «Kehrtwende» gebe. Er erachte das als «extrem schwierig».

Doch was stimmt denn nun? Fehlt Geld für den Neubau oder nicht? Und wer entscheidet das überhaupt? Und vor allem: was?

Der Zahlenmann
EBITDA ist ein Begriff aus der Betriebsökonomie und steht für den Gewinn vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen und Amortisationen. Die Kennzahl zeigt in groben Zügen, wie es einem Unternehmen geht und beispielsweise auch, wie kreditwürdig es ist und wie gross die Investitionen sein dürfen, die es tätigt.

Im Jahr 2021 lag die durchschnittliche Marge der Schweizer Spitäler bei 5,1 Prozent. Die Spitäler Schaffhausen haben 2022 eine EBITDA-Marge von 7,8 Prozent erwirtschaftet, also fast so viel wie die Spitäler anpeilen (und auch die Eignerstrategie des Kantons Schaffhausen vorgibt): 8 Prozent. Schnyder sagte in seiner Stellungnahme gegenüber der Gesundheitskommission jedoch, die 8 Prozent seien «zunehmend unrealistischer». Die Prognose der Spitäler: Künftig ist wegen der schlechten Konjunktur nur noch mit einer Marge von ­5 Prozent zu rechnen.

Im Grunde ist es diese Prognose, welche die Finanzierungslücke von 70 Millionen Franken ergibt. Ob sich die Spitäler heute ein Spital leisten können, bestimmt also der prognostizierte Geschäftsgang der Zukunft.

Der Mann, der heute voraussehen soll, wie das Geschäft in Zukunft läuft, heisst Jürg Rahm. Rahm ist seit vielen Jahren Finanzchef der Spitäler Schaffhausen und kennt den Betrieb wie kein zweiter. Die AZ hätte sich gern mit Rahm unterhalten, und dieser war auch zu einem Treffen bereit, «um das ganze Thema normativ einzuordnen». Spitalratspräsident Schnyder erlaubte ein solches Treffen jedoch nicht. In Fachkreisen hat Jürg Rahm den Ruf, ein fachlich erstklassiger Spitalfinanzer zu sein, jedoch auch einer, der sich nicht nachsagen lassen wolle, er habe allzu optimistisch kalkuliert. Wenn am Horizont dunkle Wolken aufziehen, so hört man, wolle Rahm auf der sicheren Seite sein, er presche nicht vor mit mutigen unternehmerischen Entscheiden.

Rahms Prognose, dass die EBITDA-Marge der Spitäler Schaffhausen künftig nur noch ­ 5 Prozent betragen dürfte und sich deshalb eine «Finanzierungslücke» von 70 Millionen Franken aufgetan habe, ist auch vor diesem Hintergrund zu betrachten.

Einer, der diese Prognose nicht teilt, ist der ehemalige Spitaldirektor Hanspeter Meister. Meister sagt gegenüber der AZ, angesichts der ausgezeichneten Eigenkapitalisierung verstehe er nicht, warum die Spitäler sich nicht mit mehr eigenen Mitteln am Neubau beteiligen wollten. Man habe die Spitäler 2006 rechtlich verselbstständigt, damit sie agil sein und unternehmerisch handeln könnten, ohne von der schwerfälligen Politik gebremst zu werden. «Nun sollten sich die Spitäler bewegen und ein gewisses Risiko auch als Herausforderung betrachten.»

Die Rückkehr der Politik
Nun ist man vielleicht geneigt, den Einfluss von Spitalfinanzer Rahm etwas zu überschätzen. Die Zahlen, mit denen derzeit allseits gern jongliert wird, sind politisch. Man kann sich das vorstellen wie beim Staat. Bürgerliche Finanzdirektorinnen etwa budgetieren oft schlecht und stützen sich auf ihre schlechten Budgets, um Staatsausgaben zu drosseln. Wenn die Jahresergebnisse dann doch besser ausfallen als erwartet, wird das als Argument für Steuersenkungen gewertet.

So ähnlich wird auch die künftige EBITDA-Marge der Spitäler instrumentalisiert.

– Die Linken haben mit der Spitalinitiative eindrücklich gezeigt, dass sie voll und ganz hinter dem Kantonsspital stehen und Geld hineinpumpen wollen, um die Grundversorgung sicherzustellen. Ihrer Initiative gibt die budgetierte Marge von 5 Prozent Aufwind.

– Für die Spitäler selber gilt dasselbe: Wenn es ihnen auf dem Papier schlecht geht, haben sie die Chance, Geld von der öffentlichen Hand zu bekommen. Warum sollten sie das ablehnen?

– Die Bürgerlichen schauen traditionellerweise skeptisch auf das Kantonsspital und setzten sich gerne auch für privatwirtschaftliche Konkurrenz ein. Schlechte Spitalzahlen können dabei argumentativ helfen. Vergangenen Freitag etwa hat der ehemalige Schaffhauser FDP-Stadtpräsident Marcel Wenger in einer Kolumne in den SN geschrieben: «Die Illusion der umfassenden Spitalversorgung durch den Kleinkanton wird platzen.» Nun gelte es, Kooperationen zu prüfen.

– Ganz rechts lässt man sich von den schlechten Prognosen zumindest nicht erweichen und predigt weiterhin Sparsamkeit im Gesundheitsbereich: Mitte Juni sagte EDU-Kantonsrat Erwin Sutter im Parlament, der Kanton dürfe den Neubau nicht mitbezahlen, so habe man das bereits bei der Abgabe der Liegenschaften an die Spitäler Schaffhausen 2016 beschlossen: «Künftig sind Spitalbauten grundsätzlich über Tarifverträge zu finanzieren.» Das stark veränderte Marktumfeld seit 2016 lässt Sutter dabei nicht gelten. Und auch SVP-Kantonsrat Pentti Aellig wird nicht müde zu betonen, dass seine Partei einen «sorgsamen Umgang mit den Ressourcen» fordert. Der Gegenvorschlag zur Spitalinitiative, welche der Regierungsrat ausarbeiten muss, wird indessen massgeblich geprägt sein von SVP-­Finanzdirektorin Cornelia Stamm-Hurter. Man kann davon ausgehen, dass auch sie vorsichtig ist, wenn es darum geht, mit wieviel Geld der Kanton die Spitäler finanzieren kann.

Was hingegen bereits klar ist: Mit der Ausarbeitung eines Gegenvorschlags wird das unendliche Projekt Spitalneubau erneut bis zu eineinhalb Jahren verzögert. Ob sich Spitalratspräsident Alphons Schnyder dessen bewusst war, als er eine «Finanzierungslücke» von 70 Millionen Franken kommunizierte, bleibt vorerst sein Geheimnis.

Was auch klar ist: Die Zahlen, mit denen in der Sache Spitalneubau operiert wird, sind mit Vorsicht zu geniessen.