1900, Paris. Die westliche Welt hat sich, beschwipst von Fortschrittsglauben und ahnungslos, welche Katastrophen hinter der nächsten Ecke der Geschichte lauern, in Paris versammelt, um an der Weltausstellung in die Zukunft zu blicken. Ein rollender Gehsteig führt die Besucher rund um das Ausstellungsgelände, wo das neuste mit Wasserdampf betriebene Auto die Goldmedaille gewinnt. Es sei deutlich leistungsfähiger als die Benzinautos, so die Jury. Auch Künstlerinnen denken bereits darüber nach, was übermorgen kommen könnte. Auf Postkarten, die an der Weltausstellung verteilt werden, sind elektrische Rollschuhe, fliegende Taxis und autonome Haushaltsroboter abgebildet.
2023, Schaffhausen. Ein paar Dutzend Interessierte sitzen auf einer Betontreppe in der ehemaligen Stahlgiesserei und lauschen, wie Stadtpräsident Peter Neukom (SP) die Zukunft der Mobilität in Schaffhausen skizziert. Schaffhausen spiele seit Längerem eine Vorreiterrolle in der urbanen Mobilität, europaweit habe man als eine der ersten Städte die Busflotte elektrifiziert und mit der Buslinie 13 vor wenigen Wochen einen automatisierten Bus eingeweiht, der den neusten Stadtteil mit dem Bahnhof verbindet.
Jetzt wagt man sich an den nächsten Schritt in die Zukunft: gratis Mobility-Abos und einen elektrischen Kleintransporter, den man für Grosseinkäufe mieten kann. Nicht gerade goldmedaillenwürdig, aber durchaus sinnvoll: Jeder Kilometer, den Herr und Frau Schaffhauser ohne eigenes Auto zurücklegen, ist ein guter Kilometer.
Doch «Sharehausen», wie das Testprojekt eingängigerweise getauft wurde, sorgt seit Längerem wegen etwas anderem für kontroversen Gesprächsstoff: den E-Scootern der Firma «Tier». Rund 200 solcher minzgrüner Gefährte sind seit Montag in einem zeitlich befristeten Testbetrieb in Schaffhausen erhältlich.
Viele in Schaffhausen ahnen deshalb bereits, dass hier das gleiche Schicksal wie anderswo droht: Die E-Scooter werden die Gassen verstopfen, den Rhein verschmutzen und Fussgängerinnen drangsalieren. Immer am Puls des digital Volkszorns, fragten die SN bereits vor Wochen: «Droht jetzt die Trottinett-Hölle?»
Keine Lösung für nichts
Tatsächlich sind E-Scooters weder eine adäquate Lösung für das zentrale urbane Mobilitätsproblem – das Auto – noch für die Klimakrise. Eine Datenanalyse des Tages-Anzeigers für die Stadt Zürich, das in der Schweiz mit rund 4000 E-Scootern der Trottinett-Hölle am nächsten kommt, zeigte erst kürzlich, dass selbst zu Stosszeiten über 90 Prozent der E-Trottis still stehen.
Und wenn sie mal gebraucht werden, ersetzen sie kaum je eine Autofahrt: Gerade einmal 1,6 Kilometer beträgt die durchschnittliche Fahrt mit einem E-Scooter. In einem Interview mit der Zeit bestätigte der Verkehrsforscher Daniel Reck das, was die meisten wohl längst geahnt haben: Jede zweite Scooterfahrt ersetzt einen Fussweg, nur zwölf Prozent der Fahrten ersetzen Wege mit dem Auto. «Aktuell schaden geteilte E-Scooter unterm Strich dem Klima.»
E-Scooter nerven aber vor allem wegen einem: Sie sind der Inbegriff der einzigen Innovation, die das 21. Jahrhundert scheinbar hervorzubringen vermag – die «shared economy». Die Idee ist simpel: Nimm einen Markt, den es schon gab, biete ihn neu auf einer App an, schneid dir als Mittelsmann eine dicke Rendite ab, schere dich nicht um staatliche Regulierungen und nenn es «disruption». Sei es Airbnb (Ferienwohnungen, but online), Uber (Taxis, but online) oder eben E-Scooter (Trottinett, but online, and faster) – die nächste Weltausstellung findet im Appstore statt.
Das Problem: das Auto
Doch der Fortschrittspessimismus, in den man unweigerlich abzudriften droht, wenn man über die zweirädrigen Gefährte spricht, hat auch etwas Trügerisches – wer nicht aufpasst, landet auf den selben Seiten der Geschichtsbücher wie jene, die bei der Erfindung der ersten Lokomotive einen Kollaps von Raum und Zeit befürchteten.
Und wenn man sich die Ängste, die mit der Einführung der E-Scooter geäussert werden, genau anschaut, sind sie vor allem Ausdruck davon, wie eng die Städte für all jene geworden sind, die kein Auto besitzen. Im Kanton Schaffhausen kommen auf zwei Einwohner ein Auto, die selten auf Strassen fahren und meistens ungenutzt auf Parkplätzen stehen. Velofahrerinnen, Fussgänger, Rollstuhlfahrerinnen und ja, auch E-Scooter-Fahrer müssen um den übrigen Platz kämpfen. Dass die Stadt also für die bisher rund
30 E-Scooter-Parkplätze sechs Autoparkplätze geopfert hat, setzt an der Wurzel des Problems an; dass die E-Scooter nur in markierten Zonen abgestellt werden können und in der Altstadt auf Schritttempo gedrosselt sind, ist sinnvoll. Die Stadt hat das leidige Silicon Valley-Motto auf den Kopf gestellt: «Go slow and don’t break things».
Gleichzeitig sind die E-Scooter, welche die Stadt als Mobilität der Zukunft verkauft, längst eine Technologie der Vergangenheit. Im April hat Paris, die Stadt, in der das 20. Jahrhundert eingeläutet wurde, E-Scooter in einer Volksabstimmung bereits wieder verboten.