Brüste an Häusern, in Sternform oder zusammengebunden: Wer steckt hinter den bizarren Skulpturen, die derzeit im Museum zu Allerheiligen stehen? Begegnung mit Andrea Ehrat.
Das Atelier ist leergeräumt. Am Eingang stehen noch die vom Gips verkrusteten Schuhe, und an eine Wand ist ein Stück Seil genagelt, die Umrisse eines Frauenkörpers zeichnend. Die Skulpturen, die hier sonst Präsenz markieren, haben den Raum in der einstigen Bierbrauerei im Zürcher Kreis 4 verlassen. Hier arbeitet Andrea Ehrat sei über 20 Jahren; es kommt inzwischen aber öfter vor, dass sie ihren Plastiken folgen will, raus aus der Stadt und weg von der Gentrifizierung.
Seit vergangenem Freitag stellt Andrea Ehrat im Schaffhauser Museum zu Allerheiligen aus. Es ist nicht ihre Premiere in der Munotstadt: Schon vier Mal, zuletzt im Jahr 2022, hat Ehrat an der Ernte-Ausstellung teilgenommen. 2016 kaufte der Kunstverein ein Werk von ihr. Und nun hat sie ihre eigene Doppelausstellung – das erste Mal überhaupt, dass sie in einem Museum so viel Aufmerksamkeit generiert. Diese Herzlichkeit der Region, das Geschätztwerden, das fehle ihr in Zürich, erzählt Ehrat, die das schaffhausische Dorf Lohn zum Heimatort hat. Ja, hätte sie das Geld, würde sie wohl mehr in die Nähe ziehen – oder dann weiter weg, ins Welschland zum Beispiel.
Wer ist diese Frau, die in Schaffhausen offensichtlich gefeiert wird, der aber weder lokale noch nationale Medien trotz 30-jährigem Kunstschaffen und schon frühen Erfolgen je grössere Aufmerksamkeit geschenkt haben?
Von der Super 8 zur Skulptur
Auf der Dachterrasse gurren Tauben in die Vormittagshitze. Andrea Ehrat stellt eine blubbernde Bialetti, Tassen und Gläser auf ein Tischchen. Während des darauffolgenden Gesprächs wird sie immer wieder lange Pausen einlegen, die richtigen Worte abwägend und sich mit dem Fächer Luft zuwedelnd, nur um dann in ein vulkanartiges Lachen auszubrechen: Manchmal sind da einfach nicht die richtigen Worte, mit denen sie ihre Arbeit beschreiben könnte, das Sichausdrücken fällt ihr schwer. «Ich bin verbal nicht super», sagt sie nicht entschuldigend. «Aber ich sehe vor meinem inneren Auge Bilder. Und die setze ich um.»
Worte waren bisher tatsächlich nur ausnahmsweise Ehrats künstlerische Methode. Als Teenager experimentierte sie mit einer Super-8-Kamera und zeichnete, später begann sie mit Experimentalfilmen und mit der Bildhauerei. Eigentlich habe sie schon damals, direkt nach der Sekundarschule, eine Ausbildung zur Bühnenbildnerin machen wollen, doch eine solche gab es nur in Deutschland. Und sie sei konservativ aufgewachsen, in einer Familie, «in der alle sich dem widmen konnten, was sie wollten», wie sie es heute vorsichtig ausdrückt. Was sie damit sagen will: Es war kein Umfeld, aus dem naturgemäss eine Künstlerin entspringen würde. «Die Kunst war damals viel elitärer, als sie es heute ist», erzählt Ehrat. Sie habe aber immerhin das Glück gehabt, «leidenschaftliche Eltern und freigeistige Lehrer» gehabt zu haben. Darum machte sie schliesslich die Lehre als Dekorateurin (und fand es grauenhaft). Als ihre Eltern nach Amerika auswanderten, war sie gerade 19-jährig; sie blieb hier, lebte sich fortan von Wohngemeinschaft zu Wohngemeinschaft in Zürich, manche davon in der Besetzerszene der 1990er-Jahre.
Umgeben von Freigeistern, zog Andrea Ehrat tiefer in die Kunst ein. 1993 schaffte die 22-Jährige die Aufnahmeprüfung an die damalige Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich (heute: ZHDK) und studierte bis 1998 im Departement Film/Video. Mit den Experimentalfilmen «Rub through» aus ihrem ersten Studienjahr und «Kirschenmund» aus ihrem letzten gelangen ihr gleich zwei Coups: Sie wurde an verschiedene Festivals im In- und im Ausland eingeladen, nicht nur in Europa, sondern auch nach New York. Und «Rub through» wurde 1999 gar für die besten Experimentalfilme und Kunstvideos der 1990er-Jahre in der Schweiz ausgewählt.
Die Filme – beide noch heute im Internet zugänglich – verdeutlichen die widerspenstige Art, mit der Ehrat damals Kunst machte. Die Augenlider und Lippen sind verzerrt, der Kontrast hoch, das Gesicht immer wieder entstellt. «Kirschenmund» eignet sich die widersprüchlichen Ansprüche an die Frau an: Mal wird sie als schwangerer Bauch inmitten von Puppenkörperteilen gezeigt, mal nur als fleischig schimmernde Haut, mal schminkt sie sich Lippen, aus denen roter Saft blutet. «Ich bin die süsseste Versuchung», sagt eine Stimme aus dem Off. «Science Fiction.»
Fluide Bezüge
Weitere Videoinstallationen, die Andrea Ehrat nach ihrem Abschluss erarbeitet hat, zeigte sie dagegen keiner breiten Öffentlichkeit mehr. Dem Film blieb sie zwar noch eine Weile treu: Bei kleineren Produktionen führte sie Regie oder den Schnitt, manchmal assistierte sie auch auf grossen Filmen, und zwischen 2001 und 2007 war sie als wissenschaftliche Assistentin an der ETH Zürich tätig. Aber es wurde ihr zu viel. «Eigentlich will ich höchstens ein, zwei Tage pro Woche arbeiten und ansonsten im Atelier für mich sein», sagt sie. Aktuell arbeitet sie noch im Schweizer Tanzarchiv in der Videokonservierung. Künstlerisch habe sie aber bald festgestellt, dass die Dreidimensionalität ihr fehlte. «Die Fotografie war mir zu stressig, und das dunkle Labor lag mir auch nicht. Beim Film hatte ich immerhin den Ton, aber eben auch das Computerlastige …» Das Haptische, die Kurven und Wölbungen blieben vermisst.
Den Fokus auf den Körper und insbesondere auf die Brust legt Ehrat indes auch in ihren neueren Skulpturen. Doch die Körperteile sind nicht natürlich miteinander verbunden, sondern ihren Kontexten fast vollständig entrissen und fluider aufeinander bezogen. Einmal sind die Blüten einer Blume oder die Spitzen eines Sterns zitronenförmige Brüste. Einmal ist die Brust verzerrt, in die Länge gezogen, «malträtiert», wie Ehrat dies nennt, und am oberen Ende mit Stricken zusammengebunden. Ihre Arbeit habe viel mit Gewalt zu tun, sagt die Künstlerin. Nicht mit ihrem eigenen Gewalterleben, «das überhaupt nicht, solche Erfahrungen hatte ich nie. Ich will vielmehr Zerbrechlichkeit, Zerrissenheit und Ambivalenz transportieren. Die Turbulenzen, die ich vielleicht sensibler erlebe.» Letztlich geht es also um eine Zerbrechlichkeit nicht der Gliedmassen, sondern des Innenlebens. Um Emotionen, die Ehrat auszudrücken, eine Form für sie zu finden versucht, weil ihr die Worte fehlen.
Dennoch liefert die Künstlerin auch sprachliche Hinweise: Die drei zusammengebundenen Brüste beispielsweise tragen den Titel «Le Grand Feu» und erinnern nicht nur an ein Höhenfeuer vor dem Entzünden, sondern auch an die Geschichte der Hexenverbrennungen. «Étoile», der aus Brüsten bestehende Stern, lässt sich geradeso als Explosion sehen wie als kreuzförmige Barrikade. Und eine Skulptur namens «Torso» ist derart kantig, dass sie kaum mehr an einen Oberkörper erinnert, sondern an ein Haus – nur eben eines mit sanft angedeuteten Brüsten. «Das Haus ist kunstgeschichtlich immer mit dem Gefühl des Zuhauseseins verbunden», erklärt Ehrat. Doch es zeigt bei Ehrat auch eine Unheimeligkeit; in einem Leben ohne Rückzugsmöglichkeit fühle sie sich wie ein getriebenes Tier, sagt sie. Eine ihrer neusten Plastiken wiederum, «Encore un acte d’equilibre», balanciert ein gewölbtes Haus auf einer Kugel. Die Zerbrechlichkeit von Heimat. Die Unbehaglichkeit, ja Brutalität zweier Busen, die vom Restkörper getrennt an einem Strick in die Luft gehängt werden.
Zeichnung “Untitled” aus dem Jahr 2020, Chinatinte auf Stoff. “Untitled”, 2021, Stickgarn auf Stoff.
Wider das Verpolitisieren
Das Fragmentieren des Körpers ist also Ehrats Methode. Wird sie aber auf die explizite Weiblichkeit in ihrer Kunst angesprochen, wiegelt sie ab. «Ich bin vor allem ein Mensch. Ich bin im Körper einer Frau und ich habe entsprechende Formen – Formen, die ich ästhetischer finde als andere Körperteile. Darum ist es für mich naheliegend, damit zu arbeiten. Aber mein Partner hat ja auch Brüste und einen Bauch. Und ich habe auch viel Maskulines in mir. Das meine ich mit den Ambivalenzen. Darum ist die Geschlechterfrage keine, die ich mir stelle.» Eine Kunst also, die weibliche Körper entstellt und neu zusammenträgt, die sich aber nicht am Frausein abarbeitet – «in einem moralisierenden Sinn interessiert mich das einfach nicht.» Sie beschäftige sich allgemeinder mit dem Menschsein. «Mit dem Menschsein und dem Bedürfnis, mit sich selbst Ruhe zu finden. Ich sehe ja, wie wir immer alle strampeln. Manchmal bin ich selbst im Strudel. Darum suche ich Ruhe und Akzeptanz in meiner Arbeit: ein Sein, das ich bin und in dem ich ruhend trotzdem Emotion ausdrücken kann.»
Andrea Ehrat hat sich zwar in frühen Arbeiten explizit mit dem Frausein beschäftigt. Inzwischen will sie ihre Kunst nicht mehr in diesem politischen Sinne verstanden wissen. Man könnte das nun einfach trotzdem tun: im Sinne einer Körperpolitik zum Beispiel, die genauso die Verletzlichkeit des Lebens thematisiert wie Ehrat in ihrem Werk, diese Verletzlichkeit aber in sozialen und politischen Dynamiken einbettet. Oder in dem Sinn, dass die Künstlerin Ehrat nicht nur den Körper als mitunter gewaltvollen Lebensraum interpretiert, sondern umgekehrt auch den Lebensraum – das fragile Haus – als Körper sieht.
Aber womöglich widerspräche dies dem Bedürfnis der Künstlerin. Denn es würde die Unruhe bewahren.
Andrea Ehrat stellt zusammen mit dem Künstler Dorian Sari seit Freitag und noch bis zum 17. September im Museum zu Allerheiligen aus. Am Donnerstagabend, 31. August, ist ausserdem ein Gespräch mit den beiden Kunstschaffenden geplant.