Zwei-Klassen-Justiz

22. Juni 2023, Marlon Rusch
Symbolbild: Robin Kohler

Ein stadtbekannter Unternehmer soll einen Mann mit einer Pistole bedroht haben. Dann öffnete er seine Brieftasche – und die Ermittlungen wurden eingestellt. Welche Rolle spielte der Staatsanwalt? 

An einem Donnerstagabend Anfang November 2018 kam es in der Schaffhauser Altstadt zu einer kurzen Begegnung, die die Justiz noch jahrelang beschäftigen sollte. 

Kurz vor 23 Uhr bog ein 50-jähriger, stadtbekannter Unternehmer mit seinem leistungsstarken Wagen, vermutlich einer Audi-Limousine, in einen Hinterhof ein, wo er ein Haus besitzt, in dem er sein Büro hat und auch wohnt. 

Polizistinnen und Staatsanwälte werden später auf Aufnahmen einer Überwachungskamera sehen, wie das Auto einbog  und wie der Unternehmer kurz darauf neben seinem Wagen stand. Doch sie werden nicht hören können, worüber er mit den drei jungen Männern um die 30 Jahre redete, die gerade vom Sporttraining gekommen waren und vor dem Heimweg noch zusammen im Hinterhof standen.

Klar scheint, dass der Unternehmer im Verlauf des kurzen Wortwechsels bemerkenswert schnell die Fassung verlor. Einer der drei Männer, nennen wir ihn C., erzählte der Polizei wenig später in verängstigtem Ton folgende Geschichte.

Weil seine Wohnung in denselben Hinterhof führe wie das Haus des Unternehmers, habe er diesen schon wiederholt mit seinem Auto in die enge Einfahrt fahren sehen. Und zwar zu schnell und ziemlich ruppig. Als der Unternehmer nun an diesem Donnerstagabend erneut in den Hinterhof gebraust sei, habe er ihn angesprochen. 

C. sagte zur Polizei, er habe den Unternehmer gemahnt, dass hier nur Schritttempo erlaubt sei. Daraufhin habe der Unternehmer zu schreien begonnen und die drei Männer gefragt, ob sie überhaupt wüssten, wer vor ihnen stehe. Er habe zu ihnen gesagt, sie sollen bloss hier warten, er komme gleich wieder. Und dann könnten sie etwas erleben.

Gemäss Aussagen von C. wussten die drei Freunde nicht so recht, was sie vom Auftritt des Unternehmers halten sollten. Kurz darauf sei einer von ihnen nach Hause gegangen, C. selber sei hoch in seine Wohnung, und der dritte Mann – er soll hier O. heissen – habe sich auch gerade auf den Weg gemacht, als der Unternehmer zurückgekommen sei und ihn abgefangen habe. Nun habe er eine Pistole in der Hand gehabt.

Symbolbild: Robin Kohler

Der Unternehmer habe O. angebrüllt und ihn mit der Pistole zwingen wollen zu verraten, wo sich sein vorlauter Freund C. befinde, der den Unternehmer kurz zuvor wegen dessen Fahrstils zur Rede gestellt hatte. 

Der Unternehmer in Handschellen

Was danach genau passierte, lässt sich schwer nachvollziehen. C. sagt, sein Freund O. habe es irgendwie geschafft, sich aus der Situation zu befreien und habe ihn angerufen. Daraufhin habe C. aus dem Fenster seiner Wohnung geschaut und den Unternehmer gesehen, wie er mit einem Gegenstand in der Hand durch den Hinterhof gestapft sei. C. sagt, er habe sich vom Fenster weggeduckt und in seiner Wohnung versteckt. 

Klar wiederum ist: Beide Freunde kontaktierten umgehend und unabhängig voneinander die Polizei. Daraufhin wurde C. von Polizeibeamten zu Hause abgeholt und zu seiner Sicherheit auf den Polizeiposten mitgenommen. Dort machten die beiden Männer Zeugenaussagen, von denen ein Beamter später notieren wird, sie seien «gänzlich übereinstimmend» und «derart deckungsgleich», dass es «unwahrscheinlich» sei, dass sie sich innert kürzester Zeit hätten absprechen können.

Heute, viereinhalb Jahre später, hat sich C. bereiterklärt, seine Geschichte auch der Schaffhauser AZ zu erzählen. Er sagt, auf der Polizeistation habe er den völlig verängstigten O. getroffen, der zu ihm gesagt habe, der Unternehmer habe ihm den Lauf der Pistole an den Bauch gehalten.  Nach der Einvernahme wurde C. von einem Beamten nach Hause gebracht. Er sagt, dort habe er beobachten können, wie mitten in der Nacht eine schwer bewaffnete und gepanzerte Sondereinheit der Polizei mit einem Kastenwagen vorgefahren sei, das Haus des Unternehmers gestürmt und diesen in Gewahrsam genommen habe. Einem Gerichtsurteil ist zu entnehmen, dass der Unternehmer die Nacht in Untersuchungshaft verbringen musste. C. sagt, als er am nächsten Tag für eine erneute Einvernahme aufgeboten worden sei, diesmal durch die Staatsanwaltschaft, habe er den Unternehmer dort in Handschellen gesehen.

Der Unternehmer – kein Unbekannter

Die AZ hat bereits vor mehreren Jahren begonnen, in diesem Fall zu recherchieren. Am Anfang war da nur ein Gerücht, welches nachts in den Schaffhauser Gassen zirkulierte. Doch je länger wir recherchierten, desto mehr Konturen nahm der Vorfall an. Schliesslich konnten wir Urteile des Schaffhauser Obergerichts und des Bundesgerichts einsehen, die den Vorfall thematisieren und die auf Polizeirapporte, Protokolle von Telefongesprächen, Aufnahmen von Überwachungskameras und ein Foto von C. verweisen, das O. und den Unternehmer zusammen im Hinterhof zeigt. Wir konnten nicht nur mit C. sprechen, der uns seine Geschichte erzählte, sondern auch mit Staatsanwalt Martin Bürgisser, der die Ermittlungen in dem Fall geleitet hatte. Der Unternehmer selber antwortete nicht auf eine Medienanfrage, durch offizielle Gesuche und Rekurse der AZ an die Adresse der Staatsanwaltschaft und des Regierungsrats wurde der Anwalt des Unternehmers aber gewissermassen angehalten, eine Art Stellungnahme abzugeben, die der AZ vorliegt. Schliesslich liessen wir den Fall von mehreren unabhängigen Strafrechtsexperten beurteilen. 

Dass wir einen derartigen Aufwand betrieben haben, diesen Fall zu recherchieren, hat zwei Gründe. 

Erstens ist besagter Unternehmer in Schaffhausen kein Unbekannter. Die AZ hat wiederholt über seine unzimperlichen Geschäftspraktiken berichtet. Und über seinen mitunter rabiaten Umgang mit anderen Menschen. Die AZ weiss auch aus einer sicheren Quelle, dass dem Unternehmer schon vor Jahren die Bewilligung entzogen wurde, in seinem Betrieb Lernende auszubilden. 

Gemäss Kenntnisstand der AZ ist der Unternehmer nicht vorbestraft. Und nach dem mutmasslich bewaffneten Ausraster im November 2018 setzte er einige Hebel in Bewegung, um dafür zu sorgen, dass das auch so bleibt. Und dass die Öffentlichkeit nichts von dem Vorfall erfährt. 

So hat er sich etwa – vergeblich – bis vor Bundesgericht dagegen gewehrt, dass eine DNA-Probe, die man nach seiner Verhaftung von ihm genommen hat, ausgewertet wird. (Aus diesem Verfahren stammen die Gerichtsurteile, welche die AZ einsehen konnte.) Ausserdem weiss die AZ vom Hörensagen, dass der Unternehmer seinem Opfer O. im Rahmen eines aussergerichtlichen Vergleichs eine stattliche Geldsumme geboten hat, damit dieser die Sache auf sich beruhen lässt. Nach einigem Zögern soll O., der nach dem Vorfall gemäss den Aussagen von Bekannten psychische Probleme hatte und daraufhin abtauchte, das Geld angenommen haben. Die AZ weiss zwar, um wen es sich bei O. handelt, hatte aber zu keinem Zeitpunkt direkten oder indirekten Kontakt zu ihm und weiss auch nicht, wo sich O. aufhält.

Wir recherchierten also intensiv zu dem Fall, weil wir uns erhofften, dass er uns einen Einblick geben kann, mit welchen Methoden der berüchtigte Unternehmer vorgeht, um sich vor Strafverfolgung zu schützen. 

Symbolbild: Robin Kohler

Das leitet über zum zweiten Grund für diese Recherche – zur Rolle, welche die Schaffhauser Staatsanwaltschaft in dem Fall spielte.

Die Kehrtwende des Staatsanwalts

Dass sich Konfliktparteien in rechtlichen Auseinandersetzungen aussergerichtlich einigen, ist gerade bei Kleinigkeiten eine gängige Praxis. Im besten Fall profitieren alle Seiten von einem sogenannten Vergleich: Das Opfer wird finanziell entschädigt, der Täter muss nicht vor Gericht und wird nicht verurteilt, die chronisch überlasteten Gerichte und Staatsanwaltschaften werden entlastet. 

Gleichzeitig sollte es nicht möglich sein, dass Menschen, die ernsthafte Verbrechen begangenen haben, sich von der Strafverfolgung freikaufen können. Bei Offizialdelikten, also Straftaten einer gewissen Schwere, bei denen Polizei und Staatsanwaltschaft verpflichtet sind zu ermitteln und zu ahnden, sobald sie davon Kenntnis haben, sind aussergerichtliche Vergleiche eigentlich nicht vorgesehen. Ein Vergleich darf keine Strafverfolgung verhindern.

Im vorliegenden Fall ist aber genau das geschehen. 

Nachdem der Unternehmer von der Sondereinheit der Polizei festgenommen worden war, nahm die Schaffhauser Staatsanwaltschaft zwar Ermittlungen gegen ihn auf. Es bestand der Verdacht auf versuchte Nötigung, Widerhandlung gegen das Waffengesetz und Übertretung des Waffengesetzes. Sie liess eine DNA-Probe nehmen, um den Unternehmer damit allem Anschein nach zweifelsfrei einer oder mehreren Schusswaffen zuzuordnen. Als sich dieser im Jahr 2019 dagegen gerichtlich wehrte, schrieb die Staatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme, es lägen «konkrete Anhaltspunkte» vor, dass sich alles so ereignet habe, wie C. es geschildert hatte. Diese Anhaltspunkte hätten vom Unternehmer «nicht entkräftet» werden können. Es liege ein «hinreichender Tatverdacht» vor.

Nach der angeblichen Geldzahlung des Unternehmers an sein Opfer O. aber hat die Staatsanwalt plötzlich eine Kehrtwende vollzogen – und die Ermittlungen eingestellt. 

Ein Mann bedroht also mutmasslich auf offener Strasse einen anderen Mann mit einer Pistole und versucht damit, eine Information von ihm zu erpressen. Doch die Staatsanwaltschaft legt den Fall ad acta. 

Wie ist das möglich im Rechtsstaat Schweiz?

Die Medien sind ausgeschlossen

Nachdem die AZ erfuhr, dass die Ermittlungen zum Fall eingestellt wurden, haben wir um Einsicht in die entsprechende Einstellungsverfügung gebeten. In diesem Dokument, so haben wir gehofft, würden sich die Argumente der Staatsanwaltschaft nachvollziehen lassen. 

Doch der Unternehmer wehrte sich gegen unser Gesuch. In einer Stellungnahme schrieb sein Anwalt unter anderem, in der Schaffhauser AZ solle offenbar «ein weiterer Artikel im Rahmen eines Boulevardjournalismus mit falschen Angaben» erscheinen «mit dem einzigen Ansinnen, die Person [meines Mandanten] zu thematisieren und in ein falsches Licht zu rücken». 

Staatsanwalt Bürgisser entschied schliesslich im Sinne des Unternehmers und verweigerte der AZ die Einsicht in die Einstellungsverfügung. Bürgisser schrieb zusammenfassend von einem «privaten Geheimhaltungsinteresse der beschuldigten Person, welches das öffentliche Informationsinteresse vorliegend deutlich überwiegt». Die Argumente der AZ, dass wir auch ohne die Einstellungsverfügung Kenntnis über den Fall und die beteiligten Personen haben, und es beim Einsichtsgesuch vor allem auch darum geht, zu kontrollieren, ob die Staatsanwaltschaft die Gesetze richtig anwendet, wurden nicht gehört.

Die AZ kann nicht nachvollziehen, weshalb sich die Staatsanwaltschaft gegen Transparenz wehrte – vorausgesetzt, sie hat nichts zu verbergen. Darum haben wir gegen den Beschluss der Staatsanwaltschaft beim Regierungsrat Rekurs eingelegt. 

Das Verfahren ist derzeit hängig. Doch wie Staatsanwalt Bürgisser bei der Einstellung des Verfahrens gegen den Unternehmer seinen juristischen Interpretationsspielraum arg strapaziert und an einem Punkt wohl auch überschritten hat, lässt sich dennoch aufzeigen. 

Wenn ein Mann einen anderen Mann bedroht und ihn zwingen will, Informationen herauszugeben, sprechen Juristinnen von einer «versuchten Nötigung», und eine solche ist ein Offizialdelikt und muss unabhängig von einem Strafantrag ermittelt werden. Staatsanwalt Bürgisser schreibt auf Anfrage der AZ jedoch, es gebe verschiedene Konstellationen, bei welchen «gegebenenfalls auch ein Strafverfahren wegen Offizialdelikten entweder nicht eröffnet oder ein eröffnetes Strafverfahren eingestellt werden kann». Dafür kommen vor allem zwei Gesetzesartikel in Frage. 

Gemäss Art. 52 StGB kann ein Verfahren eingestellt werden, wenn Schuld und Tatfolgen «geringfügig» sind. Wenn ein Mann einen anderen Mann jedoch mit einer Schusswaffe bedroht, zeugt das durchaus von krimineller Energie. Es wäre kaum statthaft, eine solche Tat als «geringfügig» zu bezeichnen. 

Gemäss Art. 53 StGB kann ein Verfahren ausserdem nach einer «Wiedergutmachung» eingestellt werden. Dafür müssen aber drei Bedingungen erfüllt sein: Die mögliche Strafe darf maximal ein Jahr Haft betragen, das Interesse des Opfers und der Öffentlichkeit an der Strafverfolgung müssen gering sein, und der Täter muss den Sachverhalt eingestanden haben.

Diese Voraussetzungen dürften im Fall des Schaffhauser Unternehmers ebenfalls nicht gegeben sein. Dennoch erscheint es am wahrscheinlichsten, dass sich Staatsanwalt Bürgisser auf diese beiden Artikel bezogen hat, um die Ermittlungen wegen versuchter Nötigung einzustellen.

Bei der Einstellung des zweiten Vorwurfs hat sich der Staatsanwalt in noch eklatantere Widersprüche verstrickt.

Die Waffe ist plötzlich nicht mehr da

Der zweite Anfangsverdacht gegen den Unternehmer lautete auf Widerhandlung gegen das Waffengesetz. Wenn bei einer Straftat eine Pistole im Spiel ist, geht es nicht nur um das Wohlbefinden des Opfers, es geht auch um die allgemeine Sicherheit. Das Waffengesetz soll die Öffentlichkeit schützen. Mit einer Genugtuung an sein Opfer kann ein bewaffneter Täter den Vorwurf also nicht einfach wegwischen.

Wie also konnte der Verdacht auf eine Widerhandlung gegen das Waffengesetz nach den umfangreichen Voruntersuchungen des Schaffhauser  Staatsanwalts und den klaren Indizien plötzlich verschwinden?

Auf schriftliche Anfrage der AZ gibt sich Bürgisser wortkarg und schreibt: «Der Verdacht auf eine Widerhandlung gegen das Waffengesetz hatte sich in der Untersuchung nicht erhärtet.» In einer Stellungnahme, die er kürzlich gegenüber dem Regierungsrat abgeben musste, um auf den Rekurs der AZ zu reagieren, wurde der Staatsanwalt dann aber konkreter und schrieb, «die beim untersuchten Nötigungsversuch verwendete Waffe oder Waffenattrappe» hätte nicht identifiziert und sichergestellt werden können. «Es blieb am Ende offen, ob es sich bei der Waffe tatsächlich um eine echte Waffe oder um eine der Waffengesetzgebung unterstehende Waffenattrappe handelte, weshalb der diesbezügliche Anfangsverdacht im Vorverfahren nicht erhärtet werden konnte.»

Es ist eine Argumentation, die mehr Fragen aufwirft, als dass sie Antworten liefert: 

Die Polizei hat beim Polizeieinsatz offensichtlich mindestens einen waffenähnlichen Gegenstand sichergestellt, sonst hätte sie schliesslich keine DNA-Probe nehmen und bis vor Bundesgericht eine Auswertung durchsetzen müssen. Nun soll es sich dabei aber angeblich gar nicht um denselben waffenähnlichen Gegenstand handeln, der beim Nötigungsversuch verwendet wurde. Gibt es also mehrere Gegenstände, die zumindest wie eine Waffe aussehen? Was ist in der Voruntersuchung beweistechnisch passiert? 

Gemäss dem Grundsatz in dubio pro ­duriore ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, beim leisesten Zweifel Anklage zu erheben, damit sich ein ordentliches Gericht ein unabhängiges Urteil bilden kann. Wie kann sich Staatsanwalt Bürgisser plötzlich derart sicher sein, dass es keine Waffe gab, dass alle Zweifel verdampft sind?

Bei Widerhandlungen gegen das Waffengesetz kennt die Schweizer Justiz im Übrigen wenig Pardon. Selbst auf den Erwerb von Attrappen stehen empfindliche Strafen. Wieso nicht im Fall des Schaffhauser Unternehmers?

Da die Staatsanwaltschaft in ihren Antworten auf die Fragen der AZ derart vage bleibt und Transparenz verhindert, setzt sie sich dem Verdacht aus, die Ermittlungen vor allem eingestellt zu haben, um die leidige Angelegenheit vom Tisch zu haben. 

Trifft das zu, wäre es auch ein Indiz für eine Zwei-Klassen-Justiz, in der man reichen und einflussreichen Menschen am Ende des Tages mehr durchgehen lässt als anderen.

Dieser Text entstand mit finanzieller ­Unterstützung des AZ-Recherche­fonds. Der Fonds fördert kritischen, unabhängigen Journalismus in der Region Schaffhausen. Spenden an den Recherchefonds:
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