Frauen sind in Zeitungen weniger sichtbar, auch in der AZ. Eine Selbstreflexion.
von Nora Leutert und Sharon Saameli
Die Medien berichten gerne über Sexismusvorfälle und MeToo. Gerade in den vergangenen Monaten und Jahren zeigte sich aber, wie anfällig auch die Redaktionen selbst für ungleiche, ja missbräuchliche Machtverhältnisse sind. Strukturell sexistische Missstände beim deutschen Springer Verlag, beim Magazin des Tagesanzeigers und beim ganzen Verlag Tamedia kamen an die Öffentlichkeit. Diese Missstände erhielten mit MediaToo einen Namen.
Wie es in den Redaktionen aussieht, hängt stark mit der Berichterstattung zusammen. Journalisten und Journalistinnen beeinflussen, was wichtig und interessant ist. Sie bestimmen mit, wie beliebt und erfolgreich Politikerinnen, Künstler oder Unternehmerinnen werden. Und wie viel Raum Frauen einnehmen.
Auch bei der AZ diskutieren wir wöchentlich darüber, wie Frauen in der Zeitung vertreten sind. Am kommenden Mittwoch steht der feministische Streik an. Zeit also, sich den Fakten zu stellen. Wir werfen einen Blick auf die Zeitungsausgaben von letztem Jahr – und in unsere Redaktion selbst.
Die Zahlen
Die AZ reflektiert ihren Frauenanteil nicht zum ersten Mal. Schon 2018 analysierten wir sämtliche Artikel aus dem Vorjahr und fragten, wie gut – oder schlecht – die Geschlechter vertreten sind. Damals kam die Autorin zum Schluss: Frauen schaffen es kaum über die 30-Prozent-Marke. Um herauszufinden, ob sich das inzwischen geändert hat, zählten wir erneut 52 Zeitungen aus, und zwar alle Ausgaben von 2022. Dies im Bewusstsein, dass Diversität viel mehr beinhaltet als den Frauenanteil.
Eins vorab: Wir haben uns verbessert, aber nur leicht. Über alle Sparten und Textsorten hinweg kommen wir auf einen Frauenanteil von 30,85 Prozent. Am besten vertreten sind Frauen in den Bereichen Kultur (33,1 Prozent) und Gesellschaft (31,6 Prozent). In der Politik liegt die Quote nur bei 23,9 Prozent, in der Wirtschaft bei 18,6 Prozent, im Bereich Sport bei 17,7 Prozent und im Bereich Wissen bei gerade einmal 13,3 Prozent.
Betreffend Textsorte haben wir uns gegenüber 2017 immerhin bei Porträts verbessert: Damals lag der Frauenanteil bei 30,5 Prozent, heute bei 34,4 Prozent. Dafür sind Frauen jetzt in Interviews weniger präsent: Sie machen heute 32,6 Prozent aller Interviews aus, 2017 waren es 40,7 Prozent.
In sämtlichen Texten wurden Männer 873 Mal zitiert, Frauen 300 Mal. Menschen jenseits der Geschlechterbinarität haben wir gemäss unseres Wissensstands nur zwei Mal zitiert.
Als Zeitung stehen wir in der Verantwortung, eine gleichberechtigte Teilhabe am öffentlichen Diskurs zu ermöglichen, also: Menschen aller Geschlechter ausgeglichen und vielfältig darzustellen und zu zitieren. Fazit unserer Analyse ist aber: Das gelingt uns trotz grosser Bemühungen noch nicht.
Woran liegt das? Und was hat das mit der AZ-Redaktion selbst zu tun?
Die Redaktion
Sharon Werfen wir erst einmal einen Blick zurück, um zu verstehen, wie es heute ist: Nora, wie lief es auf der Redaktion, als du 2018 dazukamst?
Nora Anders als heute. Die Redaktion war damals männlich dominiert, zeitweise war ich die einzige Frau. Ich kam damals relativ frisch ab Studium und hatte keinen Vergleichswert. Ich nahm das Klima als rauh wahr. Die Jungs waren etwas eigenbrötlerisch, werkelten an ihren Arbeitsplätzen vor sich hin und kommunizierten wenig. Wenn du niesen musstest, sagte niemand «Gesundheit». Ein Kollege pflegte entschuldigend, aber auch etwas stolz, zu sagen, er sei sich bewusst, dass das keine Wohlfühloase sei. Ich war sehr lange extrem eingeschüchtert und traute mich an den Sitzungen nichts zu sagen. Gleichzeitig waren meine Kollegen meine Mentoren. Ich bin quasi in einem Wolfsrudel journalistisch sozialisiert worden. Meine ehemalige Kollegin, die vor mir da war, musste viele Kämpfe austragen. Und sie war oft die, welche daran erinnern musste, wie man in gewissen Situationen zwischenmenschlich handeln sollte.
Sharon Hat sich denn 2019, mit dem feministischen Streik, etwas verändert?
Nora Der Zeitgeist hat sich schon bemerkbar gemacht. Aber vor allem dadurch, dass er durch neue Redaktionsmitglieder zu uns hineingetragen wurde. Besonders auch durch dich. Wie war das für dich, als du 2021 zu uns gestossen bist?
Sharon Ich hatte ja bereits Redaktionserfahrung, als ich bei der AZ anfing. Ich war lange bei einer Regionalzeitung der Tamedia. Im männerdominierten Team galt ich als Kampfemanze – und erhielt auch ab und zu entsprechende Reaktionen. Redaktionsintern habe ich teilweise Sexismus wahrgenommen.
Nora Inwiefern?
Sharon Dass Mitarbeiterinnen herabgesetzt wurden, zum Beispiel. Manches grenzte an Mobbing – aber niemand intervenierte. Ich selber war selten direkt von diesen Strukturen betroffen, aber es erschreckte mich, zu sehen, wie es anderen Frauen erging. Ich erfuhr auch, dass ich 500 Franken weniger Lohn hatte als einer meiner Kollegen – und das, obwohl ich besser ausgebildet war. Ich war dann auch eine der 78 Unterzeichnerinnen des offenen Briefes im Frühling 2021, in dem Sexismus bei Tamedia angeprangert wurde.
Nora Und bei der AZ war es besser?
Sharon Beeindruckt hat mich schon mal, dass alle denselben Lohn haben und die Co-Chefredaktion von einer Frau und einem Mann besetzt ist. Auch inhaltlich habe ich mich in der AZ wiedergefunden. Und trotzdem war ich in den ersten Monaten wahnsinnig verunsichert. Besonders bei ruppig formulierter Kritik hatte ich schnell das Gefühl: Shit, hier ist es gar nicht so anders. Dann hatten du und ich ein langes Gespräch über diese Kämpfe, und ich habe gemerkt: Ich habe in dir eine Verbündete.
Nora Es hat mich sehr bestärkt, als du ins Team kamst. Die AZ ist über ein Jahrhundert in ihren ganz eigenen, knorrigen Strukturen gewachsen. Deine Aussenperspektive hat mir geholfen. Man steht ja die ganze Zeit vor Fragen: Habe ich nun überreagiert und zu fest auf meinem Standpunkt beharrt, um mich als Frau zu behaupten?
Sharon Oder: War ich nun zu empfindlich oder war das tatsächlich sexistisch?
Nora Ich finde krass, wie kurz meine Zündschnur geworden ist, wenn ich mich sexistisch behandelt sehe. Wohl, weil ich das als junge Journalistin öfter erlebte.
Sharon Ja. Wenn Interviewpartner zum Beispiel konsequent nicht mit mir gesprochen haben, sondern immer den männlichen Fotografen adressierten.
Nora Das hat mich auch immer total hässig gemacht. Wir müssen uns ständig doppelt anstrengen, um ernst genommen zu werden. Und für mehrfach marginalisierte Frauen ist es nochmal ungleich schwieriger.
Sharon Wie erlebst du die Redaktionssitzungen heute? Die sind ja eine sehr wichtige Schnittstelle bei uns.
Nora Männer haben immer noch viel mehr Redezeit, und die Diskussion wird allgemein eher als nervig abgestempelt, wenn Frauen sprechen.
Sharon Eine Zeit lang hatte ich den Eindruck, dass meine Ideen systematisch Männern zugesprochen werden.
Nora Du sagst etwas, und ein Mann sagt dasselbe nochmal ein bisschen prägnanter, und schon ist die Idee gekauft.
Sharon Einer unserer Kollegen hält dem inzwischen enorm entgegen, und zwar bewusst. Er stellt die Referenz her zu der Person, welche die Idee eigentlich hatte. Das sensibilisiert.
Nora Ja, das macht sehr viel aus.
Wie Journalistinnen und Journalisten sich an Redaktionssitzungen verhalten, macht deshalb so viel aus, weil hier entschieden wird, was in die Zeitung kommt und was nicht. Das Blatt spiegelt auch die Realität der Redaktionsmitglieder wider. Deshalb kommt es darauf an, wer diese sind. Bei der AZ sind alle weiss, akademisiert, mit wenig Migrationsgeschichte, kinderlos und zwischen Mitte 20 und Mitte 30. Fünf sind Männer, drei sind Frauen. Hinzu kommt die Kulturredaktorin im kleineren Pensum. Sie alle bestimmen, wie die AZ aussieht.
Sharon Als wir den Frauenanteil der AZ vom vergangenen Jahr auszählten, spürte ich wieder die Ernüchterung. Einer der gefühlt häufigsten Sätze an den Redaktionssitzungen ist: «Wir brauchen ein Interview mit einer Frau.» Und trotzdem schaffen wir es einfach nicht über 30 Prozent Frauenanteil.
Nora 2022 waren es doppelt so viele Männerinterviews und -porträts wie solche von Frauen. Woran liegt das?
Sharon Ein Teil davon ist gesellschaftliche Abbildung. Es gibt weniger Frauen in Führungspositionen, in der Wirtschaft, der Politik. Der zweite Teil ist dieser blöde Begriff der «Medienlogik». Wir geben jedem Brüllaffen eine Plattform, wenn er igendeinen Seich rauslässt. Wir geben auch Brülläffinnen eine Plattform. Nur sind die viel seltener.
Nora Es ist schon krass, dann rufst du im Zuge einer Recherche irgendeinen Alt-Gmaandpräsi an, der gerade bei sich zu Hause im Garten sitzt und kurz die Welt erklärt. Und schon hast du von ihm ein ganz eindeutiges Profil, siehst ihn gleich als Original.
Sharon Dazu kommen die Männerzirkel: Wenn ich einen Politik-Artikel schreibe, habe ich auf Anhieb sechs Männer zusammen, die dazu etwas Gescheites sagen können und sich gegenseitig empfehlen oder kritisieren.
Nora Ein grosser Punkt ist, wie personenbezogen wir berichten. Anstatt einer Sache nachzugehen, spüren wir dann zum x-ten Mal dem Geheimnis eines starken Mannes nach. Und in meiner Erfahrung porträtieren Männer oft lieber Männer. Genauso wie mich Frauen tiefer interessieren.
Ein gewichtiger Teil einer Zeitung sind Meinungsstücke. In der AZ finden sie auf Seite 2 statt. Im Jahr 2022 wurde der Kommentar zu 73,1 Prozent von männlichen Redaktionsmitgliedern geschrieben (57,7 Prozent sogar von nur zwei Kollegen zusammen). Nur 14 Prozent aller Kommentare stammten von Frauen. Hätten die Frauen verhältnismässig gleich oft kommentiert wie ihre männlichen Kollegen, hätten sie 41,7 Prozent aller Kommentare schreiben müssen.
Kolumne Kommentar
Nora Sharon, wieso kommentierst du weniger als deine Kollegen?
Sharon Ein Teil ist Erfahrung. Die Redaktionskollegen brettern schneller einen Kommentar herunter als ich. Aber dafür braucht es halt Übung. Ich muss mir zudem extrem gut überlegen, wie ich einen Kommentar vorschlage. Ich habe oft den Eindruck, dass ich nicht die richtigen Worte finde, damit meine Idee auch die Kollegen überzeugt. Und gleichzeitig will ich nicht eine Männerlogik übernehmen müssen, um gehört und verstanden zu werden. Es ist vertrackt.
Nora Das hängt auch daran, wie man gefördert und aufgebaut wird. Ich weiss noch, als ich früher als Studentin Teilzeit für den Kulturteil der AZ gejobbt habe: Ein ehemaliger Kollege stieg neu als vollwertiges Redaktionsmitglied ein, und es machte mir Eindruck, wie der damalige Chefredaktor zu ihm sagte, er müsse jetzt kommentieren, damit die Leute ihn kennenlernen, man müsse ihn jetzt als Autor positionieren. Es ist immer die Frage, wie sehr man ermutigt wird. Das finde ich wichtig.
Sharon Und du, warum schreibst du weniger Kommentare als die Männer?
Nora Ich habe das Gefühl, es liegt mir nicht besonders. Überdies zeigt sich an Kommentaren, wer seinem Thema und seiner Meinung besonderes Gewicht beimisst – und in der Regel sind das Männer. Natürlich ist es auch Bequemlichkeit von mir, die Aufgabe den geübteren Kollegen zu überlassen. Es liegt ja genauso an uns wie an den Männern.
Sharon Genau, dass Männer mehr an sich und an ihre Themen glauben und wir weniger an unsere, macht ja nicht sie zu den Bösen. Das hat die gleichen Wurzeln im Patriarchat.
Wie weiter?
Nicht nur in der AZ sind Frauen unterrepräsentiert. Die hier ermittelten Zahlen decken sich mit einer Studie, die 2021 im «Jahrbuch Qualität der Medien» der Universität Zürich erschienen ist: Die Autorinnen halten darin fest, dass der Frauenanteil schweizweit je nach Medium zwischen 19 und 29 Prozent liegt. Am höchsten ist er in der WOZ, am tiefsten in der NZZ. National zeichnet sich zwar eine Verbesserung gegenüber 2008 ab, wo eine Analyse zeigte, dass der Frauenanteil in den Berichten von Deutschschweizer Tageszeitungen bei nur 17 Prozent lag. In den vergangenen Jahren wurden Frauen in der Öffentlichkeit – und somit in den Medien – sichtbarer. Dennoch stellen die Studienautorinnen Handlungsbedarf fest.
Was kann die AZ tun, um ihren Frauenanteil zu verbessern? Dahinter stehen immer Entscheidungen. Bei unserer Kolumne haben wir uns aktiv für mehr Frauen entschieden: 36 von 52 Kolumnen im Jahr 2022 stammen aus Frauenhand, also insgesamt 69,2 Prozent. Doch nach Frauen in Führungspositionen, Expertinnen und Interviewpartnerinnen zu suchen, erweist sich oft als schwierig. Die Suche benötigt Zeit und Ressourcen. Weil aber aktuell weniger Frauen politische Ämter und Leitungsfunktionen besetzen, müssen wir andere Geschichten schreiben: solche, die weniger nach Personen und mehr nach Strukturen fragen. Das bedeutet Aufwand. Auch Kommentare, die von Frauen geschrieben werden, benötigen mehr Zeit – gerade wenn die Redaktorinnen darin weniger geübt sind als ihre Kollegen.
Die Geschlechter angemessen zu repräsentieren, das ist auf einer Redaktion im ersten Moment also teilweise ein Entscheid gegen Effizienz – und gegen die Medienlogik.