Für einmal stand ein Schaffhauser Staatsanwalt selbst vor Gericht. Der Prozess wegen Urkundenfälschung und Amtsmissbrauch zeigt, wie schwierig es für die Justiz sein kann, gegen eigene Leute vorzugehen.
Der Fall Kümmertshausen war der grösste Prozess, den der Thurgau je gesehen hat. Er füllte 500 Bundesordner, 14 Angeklagte standen vor Gericht. Doch der gewaltsame Tod eines 53-jährigen Mannes in seinem Haus in Kümmertshausen vor über zwölf Jahren wird wohl für immer ungeklärt bleiben. Haufenweise Ermittlungsakten sind unverwertbar,
es kam zu Verzögerungen, Beschuldigte sassen zu lange in Untersuchungshaft.
Eine entscheidende Rolle spielten dabei die beiden Thurgauer Staatsanwälte, die im Fall ermittelten. Sie verrannten sich gehörig, handelten eigenmächtig, setzten auf falsche Spuren. Schliesslich flog ihnen der Fall um die Ohren: 2015 wurden sie vom Bundesgericht scharf gerügt. Das höchste Gericht der Schweiz stellte «zahlreiche» und «teilweise krasse» Verfahrensfehler fest und schickte die beiden in den Ausstand. Zudem drohte den beiden Ermittlern nun selbst Strafanklage.
An dieser Stelle führt die Geschichte auch nach Schaffhausen. Denn wenig später kündete das Duo seinen Job und wechselte zur Schaffhauser Strafverfolgungsbehörde. Wie die AZ damals aufdeckte, war die Justizkommission des hiesigen Kantonsrats darüber schlecht informiert und wenig bekümmert (siehe Kasten unten). Offenkundig rechnete auch der Kantonsrat nicht damit, dass die beiden Neuen tatsächlich angeklagt werden würden.
Doch genau das passierte. Vergangene Woche mussten sich der leitende Schaffhauser Staatsanwalt Andreas Zuber und seine ehemalige Kollegin B. vor dem Frauenfelder Bezirksgericht verantworten. (Weil Letztere zwischenzeitig nicht mehr Staatsanwältin ist, wird ihr Name hier nicht genannt). Der Vorwurf an Zuber und B.: Urkundenfälschung und mehrfacher Amtsmissbrauch.

Dass ein Staatsanwalt selber auf der Anklagebank sitzt, kommt äusserst selten vor. Umso grösser war die Dimension, die in diesem Prozess mitverhandelt wurde. Es ging nicht nur darum, ob es sich bei den Pannen um Straftaten handelte – sondern auch darum, ob Staatsanwälte, die auch nur Menschen sind, unfehlbar sein müssen.
Darüber befinden mussten der Frauenfelder Gerichtspräsident René Hunziker und sein Team. Und das in einem Saal voller interessierter Juristen.
Der ausserordentliche, aus St. Gallen beigezogene Anklagevertreter forderte zwar lediglich eine bedingte Geldstrafe. Doch an jenem Dienstag im Frauenfelder Gerichtssaal geht es um viel mehr als das: nämlich um das Selbstverständnis eines Berufsstandes.
Am Anfang aber steht die Frage: Wie hatte es soweit kommen können, dass sich Staatsanwalt Andreas Zuber und seine Kollegin derart verrannt hatten?
Kuraths Kampf
Am Verhandlungstag erscheint am Frauenfelder Gericht ein Mann mit Herrenhut. Schlau und neugierig schaut er sich vor dem Betreten des Gerichtssaals um, die Notizen, die er anschliessend auspackt, sind in altmodischer Schrift mit Füllfeder geschrieben.
Othmar Kurath war der erste, welcher den staatsanwaltlichen Verfehlungen auf die Schliche kam. Er war der Pflichtverteidiger eines der Hauptangeklagten im Fall Kümmertshausen, merkte aber bald, dass etwas an den Ermittlungen faul war und beschwerte sich bei verschiedenen Instanzen.
Für Staatsanwalt Andreas Zuber und Staatsanwältin B. wurde Kurath zunehmend unbequem. Sie taten etwas, das vom Bundesgericht später als «rechtsfehlerhaft» und «ungewöhnlich» taxiert wurde: Sie entliessen Kurath und setzten einen anderen Pflichtverteidiger ein. Laut Bundesgericht entliessen sie den Anwalt offensichtlich wegen seiner «engagierten Mandatsführung». Die Entlassung wurde gerichtlich widerrufen. Doch noch bevor Othmar Kurath auf seinen Posten als Verteidiger zurückkehren konnte, taten Staatsanwalt Zuber und seine Kollegin das, wofür sie nun angeklagt sind.
Die Verfehlungen
Die Anklageschrift versetzt einen in einen Tag im November 2013, als Othmar Kuraths Mandant, Herr D., von den beiden Staatsanwälten einvernommen wurde. Während der Einvernahme sagte D., Kurath habe ihm geraten, keine Aussage zu machen. Staatsanwältin B. quittierte dies mit der Bemerkung: «Wir werden noch darüber sprechen, ob das sinnvoll ist». Es war ein Satz, der eine Drohung sein könnte. Staatsanwalt Andreas Zuber nahm den Satz nicht ins Protokoll auf – deshalb nun die Anklage wegen Urkundenfälschung.
Für Verteidiger Othmar Kurath ist klar: Der Satz war gedacht, um das Vertrauensverhältnis zwischen seinem Mandanten und ihm zu vergiften. Doch das ist nicht alles: Mitten in der Einvernahme erhielten die beiden Staatsanwälte eine telefonische Weisung vom Thurgauer Obergericht: Sie sollen die Befragung, die ohne Kurath stattfand, abbrechen. Doch das Duo machte weiter. Damit handelte es sich die Amtsmissbrauchs-Anklage ein.
Und auch der dritte und schwerwiegendste Anklagepunkt kam wegen Othmar Kurath ans Licht: Staatsanwalt Zuber und seine Kollegin hatten Herrn D. per Telefon zwei bis drei Tage länger abgehört, als sie durften. Dabei hatten sie auch eine seiner Töchter und seine Ehefrau belauscht. Die Daten, die sie so gesammelt hatten, wollten sie zu Ungunsten von D. verwenden.

Der Fall Kümmertshausen wurde erst kürzlich, im März 2023, abgeschlossen. Der damals beschuldigte Herr D. hat nur eine bedingte Haftstrafe von 20,5 Monaten wegen Gehilfenschaft zum Raub und wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz erhalten – sowie eine Entschädigung dafür, dass er fast vier Jahre in Untersuchungshaft sass. Im Prozess nun gegen Zuber und B. ist er Privatkläger. Sein Verteidiger weiterhin: Othmar Kurath.
Während des gesamten Verhandlungstages ist es, als kämpfe hier ein Anwalt gegen alle andern. Er würde heute lieber nicht hier stehen, sagt Kurath, der sein Plädoyer frei hält. Er werde damit in weiten Teilen zum «Staatsfeind». Die Strafanzeige habe ursprünglich einzig bezweckt, die Verwertung der unrechtmässigen Akten zu bekämpfen, mit denen die Staatsanwaltschaft den psychisch angeschlagenen D. zum Täter machen wollte.
Auch die Tochter von Herrn D. ist an diesem Dienstag als Privatklägerin zum Gerichtsprozess erschienen. Sie hält eine kurze Rede: Der Ruf ihrer Familie habe stark unter dem Verfahren gelitten. Ebenso ihr Vertrauen in den Staat. Herr D. weint, während die Tochter spricht. Sie sagt, Herr Zuber und Frau B., die «haben sich bei uns nie entschuldigt. Wir haben nie gehört oder gelesen, dass sie etwas bereuen.»
Die Beschuldigten
Auf der anderen Seite des Gerichtssaals sitzt vergangene Woche Staatsanwalt Andreas Zuber, der den Eindruck erwecken will, dass er und Kollegin B. persönlich schon genug gebüsst haben – und zwar zu Unrecht. B. ist gar nicht erst zum Gerichtstermin erschienen. Sie wurde wegen ihrer persönlichen Verhältnisse dispensiert. Ihr Verteidiger wird später eine Erklärung verlesen, wie sehr ihr dieses Strafverfahren über die vergangenen Jahre psychisch zugesetzt habe: «Ich erkenne mich nicht mehr, ich bin ein anderer Mensch geworden».
Andreas Zuber, der zwar zum Prozess gekommen ist, verweigert die Aussage. Nicht einmal zu seinen Personalien möchte er vor Publikum Auskunft geben. Das Gericht habe alles in den Akten und wisse, wer er sei, sagt er mit dem Selbstverständnis eines Staatsanwaltes. Das Verfahren habe in den vergangenen Jahren enorme Auswirkungen auf ihn und seine Familie gehabt und er möchte weitere Öffentlichkeit verhindern. Mag hinzukommen, dass er als Staatsanwalt natürlich weiss, wie demütigend eine solche Befragung sein kann, bei der etwa auch nach der Höhe des aktuellen Einkommens gefragt wird.
Auch zur Anklage sagt Zuber nichts. «Nicht, weil ich etwas verbergen will, sondern weil wir diese Vorwürfe nicht verstehen». Richter Hunziker, der mit dem Angeklagten Zuber per Du ist, ihn nun aber siezt, reagiert verständnisvoll und behutsam und verfällt zwischenzeitlich ins Schweizerdeutsch, wenn er mit dem Angeklagten spricht. Im Raum herrscht betretenes Schweigen, während der Richter seine Fragen echolos in den Raum stellt.
Das Schicksal der beiden Berufskollegen, besonders jenes von Frau B., scheint bei den anwesenden Juristen enorme Betroffenheit zu hinterlassen. Sogar beim anklagenden ausserordentlichen Staatsanwalt, wie sich zeigen wird.

Ankläger und Verteidiger
Anklage erhoben hat der St. Galler Staatsanwalt Beat Fehr. Er wurde 2015 vom Thurgauer Regierungsrat eingesetzt, um die Vorfälle in der Strafbehörde zu untersuchen. Zuerst wollte er den Fall gar nicht erst behandeln, eine erste Anzeige des Privatklägers quittierte er mit einer Nichtanhandnahmeverfügung. Doch das Thurgauer Obergericht war damit nicht einverstanden und wies ihn an, eine Strafuntersuchung zu eröffnen und durchzuführen.
Auch an diesem Prozesstag setzt sich Beat Fehr nicht gerade mit glühendem Eifer für die Anklage ein. «Ich habe keine Beisshemmungen gegen Berufskollegen und Polizei, und ich habe auch keinen emotionalen Bezug», erklärt Fehr. Doch was er sich erlauben könne, sei, sich in die Situation der Beschuldigten zu versetzen. In seinen abschliessenden Worten sagt er, wie sehr ihn die Stellungnahme der abwesenden Staatsanwältin B. berührten: Man habe eindrücklich von ihr gehört, was das Strafverfahren bei ihr auslöste, das müsse man auch berücksichtigen.
Die Verteidiger der Beschuldigten nehmen die verständnisvollen Aussagen des Anklagevertreters dankbar auf. Andreas Zubers Verteidiger dankt Beat Fehr für seine offenen Worte. Schliesslich poltern und empören sich er und der andere Verteidiger, und entfachen allerlei formaljuristisches Feuerwerk, um die Anklage abzuwenden. Das Anklageprinzip sei verletzt, die Beschuldigten hätten nicht vorsätzlich gehandelt – wenn denn die Dinge überhaupt so stattgefunden hätten. Es handle sich vielmehr um Stimmungsmache und Polemik von Herrn D. und seinem Anwalt. Aber sowieso: Die Anklage sei Haarspalterei.
Die beiden Verteidiger suggerieren, die Fehler von Andreas Zuber und seiner Kollegin hätten jedem Juristen passieren können. Die beiden hätten alles richtig machen wollen, seien aber vor unalltäglich schweren Bedingungen gestanden: vor einem Fall mit einer Vielzahl Beschuldigter, mit ungenügender Infrastruktur bei der Thurgauer Justiz und mit Einvernahmen, die ad hoc in anderen Räumlichkeiten durchgeführt werden mussten. Man sei für solche Verfahren nicht eingerichtet gewesen, die beiden Staatsanwälte hätten ihre Arbeit zudem vor dem Hintergrund der neu eingeführten Strafprozessordnung leisten müssen.
Kurz: Die Staatsanwälte seien unter enormem Druck gestanden und so sei es allenfalls zu Unaufmerksamkeiten gekommen.
Das Urteil
Am Ende des Prozesstages bleibt vor allem das Bild zweier überforderter damaliger Thurgauer Staatsanwälte, denen der Fall Kümmertshausen über den Kopf gewachsen war. Ob die Fehler unabsichtlich geschahen, oder ob hingegen vielleicht auch übersteigerter Ehrgeiz mitgespielt hat: Das bleibt offen.
Privatkläger D. jedenfalls wird auch jetzt, während des Prozesses, keine Entschuldigung oder ein Zeichen der Reue zuteil. Andreas Zubers Anwalt sagt zur Tochter von D., die zu lange Überwachung sei zwar unschön gewesen, aber daraus dürfe man «nicht so ein Drama» machen.
Das Urteil, das vorgestern Mittwoch mündlich eröffnet wird: Freispruch. Das Gericht betrachtet zwar grösstenteils als erwiesen, dass die Handlungen sich so ereigneten wie von der Anklage beschrieben, doch sie werden als Verfahrensfehler eingeordnet – nicht als Urkundenfälschung und Amtsmissbrauch. Das Gericht hält fest, dass bei der Einvernahme, welche die Staatsanwälte selbst organisieren mussten, offensichtlich Chaos
herrschte.
Die beiden Beschuldigten erhalten je eine Genugtuung von 5000 Franken. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Privatkläger wissen noch nicht, ob sie es weiterziehen werden. Der Schaffhauser Staatsanwalt Zuber und seine ehemalige Kollegin können vorerst einmal aufatmen.
Auch wenn sich nachvollziehen lässt, wie das Gericht entschieden hat: Es war spürbar, wie die Macht verteilt ist.
Wahl nach Schaffhausen
Andreas Zuber wurde im Dezember 2017, seine Kollegin im darauffolgenden Januar vom Schaffhauser Kantonsrat in die Staatsanwaltschaft gewählt. Beide wurden von der Justizkommission als Einervorschlag zur Wahl empfohlen. Bei Zuber kam es gar zum vereinfachten Verfahren. Die AZ forderte Einsicht in die Komissions-Protokolle, diese kamen viel zu stark geschwärzt an. Demnach hätte die Öffentlichkeit nie erfahren, wie die Vorgeschichte der beiden Kandidaten gewertet wurde. Die AZ gelangte dennoch an die fraglichen Passagen (die Kommission hatte nicht richtig geschwärzt) und konnte so aufzeigen, dass die Kommission schlecht informiert war, die Vorgeschichte kaum anschnitt und dass sich zudem die beiden Kandidaten gegenseitig für das Amt empfohlen hatten (siehe AZ vom 8. Februar 2018 und vom 1. März 2018).