Wie ein Türke aus Schaffhausen zum Propagandisten und Terrorhelfer des IS wurde. Wie er in den Heiligen Krieg ziehen wollte. Und welche Rolle die arabische Moschee im Cardinal dabei spielte. Eindrücke vom Bundesstrafgericht.
Das 35-seitige Dokument der Bundesanwaltschaft ist in der nüchternen Sprache der Juristen verfasst. Dennoch hat die Anklageschrift gegen einen 26-jährigen Türken durchaus das Zeug, einem gehörig auf den Magen zu schlagen.
Der junge Mann, der in Schaffhausen geboren und aufgewachsen ist, soll sich im Jahr 2019 der dschihadistischen Miliz Islamischer Staat angeschlossen und die Terrororganisation Al- Qaida unterstützt haben. Er soll geplant haben, in Syrien mit dem Maschinengewehr in der Hand in den Heiligen Krieg zu ziehen. Und er soll als Medienverantwortlicher der Winterthurer IS-Zelle Propagandamaterial hergestellt haben. Doch nicht nur das. Auf seinem Handy und seinem Computer haben die Ermittlerin- nen auch Videos gefunden, aus denen schon das Grauen spricht, wenn man bloss ihre sachliche Beschreibung liest.
(Triggerwarnung:) Eine der Szenen zeige einen Schlachthof, in dem dutzenden gefesselten Gefangenen in orangen Overalls nacheinander die Kehle durchgeschnitten werde, worauf sie, teilweise noch lebend, an den Füssen an einen Haken gehängt und ausgeblutet würden. Gefilmt worden seien die Exekutionen in Zeitlupe. In anderen Szenen würden Gefangene von drei- oder vierjährigen Kindern erschossen, von Panzern überrollt, mit Schwertern enthauptet, gekreuzigt, verbrannt oder in die Luft gesprengt.
Liest man die Anklageschrift der Bundesanwaltschaft, entsteht vor dem inneren Auge das Bild eines diabolischen Gotteskriegers, eines Mannes, vollends entrückt von der Welt und frei von jeglicher Empathie. Ist der höfliche Jüngling im weissen Hemd, der sich am vergangenen Dienstag in den Verhandlungspausen lautlos durch die Räume des Bundesstrafgerichts in Bellinzona bewegt wie ein pflichtbewusster Praktikant, tatsächlich derselbe Mann? Ist dieser Cem, wie ihn der Sonntagsblick genannt hat, ein Terrorhelfer des Islamischen Staats?
Die Verhandlung wird zeigen: An den Vorwürfen der Bundesanwaltschaft gibt es wenig zu rütteln, zu erdrückend ist die Beweislast. Cem wurde am 29. Oktober 2019 im Rahmen der bisher grössten Antiterrorrazzia der Schweizer Geschichte festgenommen. Österreichische und Schweizer Strafverfolgungsbehörden haben diverse Zeugen einvernommen, Datenträger ausgewertet, forensische Analysen erstellt, Gespräche abgehört. Die Akte Cem füllt acht Bundesordner. Und an diesem Dienstag in Bellinzona gibt der Beschuldigte die allermeisten Vergehen, die ihm vorgeworfen werden, auch zu. Er hat gegen das Bundesgesetz über das Verbot von Al-Qaida und IS verstossen und er hat Gewaltdarstellungen hergestellt und zugänglich gemacht. Dafür droht ihm nicht nur eine jahrelange Gefängnisstrafe, sondern auch die Ausschaffung in die Türkei.
Es geht in Bellinzona also nicht nur um die Vergangenheit, sondern auch um die Zukunft, es geht um die Frage, ob der Schaffhauser noch immer eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt. Ist aus Cem seit seiner Verhaftung eine «geläuterte, in jeglicher Hinsicht rechtschaffene Person» geworden, wie sein Verteidiger Beat Luginbühl im Plädoyer behauptet? Oder ist er nach wie vor ein «ideologischer Überzeugungstäter», wie Bundesanwalt Daniel Spycher warnt? Es ist keine einfache Frage, über die das Bundesstrafgericht um den Vorsitzenden Martin Stupf befinden muss. Zumindest aber gibt der Prozess einen eindrücklichen Einblick in die schleichende Radikalisierung eines aufgeweckten jungen Mannes.
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Das Bild, das Cem in der Befragung des Gerichts von sich selber zeichnet, ist das Bild eines mustergültigen Bürgers: Er hat eine Freundin, lebt noch zu Hause in Schaffhausen bei der Familie, hat keine Vorstrafen, wollte mal Polizist werden, hat zwei Lehrabschlüsse gemacht, arbeitet als Informatiker, bildet sich privat weiter, hat keine Schulden, spielt in der Freizeit mit seinen Freunden Fussball, spendet dem Roten Kreuz Geld, berät ehrenamtlich ältere Menschen im Umgang mit dem Smartphone, will die Mutter finanziell unterstützen. «Ich bin ein hilfsbereiter Mensch», sagt Cem in einer demütigen Art, die kaum gespielt ist.
Als dann seine Mutter als Zeugin den Raum betritt, ist das Bild perfekt: Wie ein Model schreitet die jugendlich wirkende Frau in den Gerichtssaal, sie ist stark geschminkt, die hohen Hacken klacken. Der Auftritt wirkt wie eine vom Anwalt perfekt inszenierte Scharade, die jegliche Islamisten-Klischees zerschlagen soll. Doch die Mutter ist echt, sie betreibt seit Jahren ein Kosmetikstudio. In gebrochenem Deutsch und mithilfe eines Dolmetschers erzählt sie dem Gericht, wie ihr Sohn ohne Vaterfigur aufgewachsen ist. Sie schildert einen introvertierten, suchenden jungen Mann, der nicht über seine Probleme gesprochen habe und dann an die falschen Leute geraten sei.
Damals, 2019, sei Cem in der arabischen Moschee im Cardinal an der Schaffhauser Bahnhofstrasse verkehrt und habe dort junge Menschen kennengelernt, die ihr nicht geheuer gewesen seien. Plötzlich habe er angefangen, andere Kleider zu tragen, habe im Auto zu ihr gesagt, sie solle die Musik ausschalten, Musik sei Sünde. «Da fand offenbar eine Gehirnwäsche statt», sagt die Mutter, doch sie habe es nicht geschafft, ihren Sohn, der «noch nicht sehr reif» gewesen sei, davon loszubekommen.
Cem sagt, in jener Moschee habe er gemerkt, dass man weder Autos noch viel Geld brauche im Leben: «Die Leute dort haben mir das Gefühl gegeben, dass ich willkommen bin.» Es handelt sich um dieselbe Moschee, in der auch der Terrorhelfer Osamah M. aktiv gewesen sei und seine Geistesaustreibungen durchgeführt haben soll. Die Schaffhauser pflegten Kontakte zur Winterthurer Salafisten-Szene, wo sich Cem innert kurzer Zeit einen Namen machen sollte.
Der junge Schaffhauser freundete sich mit dem Leiter der Gruppe an, einem «Emir des Dschihad», der beim IS in Syrien gewesen sein soll und ihn in seinen Bann gezogen habe. «Er konnte arabische Texte zitieren und sie auf Deutsch übersetzen. Er machte den Eindruck, ein Wissender zu sein», sagt Cem vor Gericht. Die jungen Männer trafen sich im Keller eines Gewerbegebäudes bei der Autobahnausfahrt Winterthur Töss, diskutierten über radikale Prediger, schauten zusammen Propagandavideos an und schmiedeten Pläne vom Heiligen Krieg.
Ihre Gedankenspiele, die die Ermittlungsbehörden nachvollziehen konnten, indem sie Chatverläufe ausgewertet und den Raum verwanzt hatten, wirken martialisch: Die Männer studierten Anleitungen zur Herstellung von Sprengstoffgürteln, wobei Cem gegenüber einem Freund in Deutschland zwar andeutete, er spiele mit dem Gedanken, ein Selbstmordattentat auf ein westliches Ziel zu verüben, gleichzeitig aber auch schrieb, er sehe sich eher in der Rolle eines Kämpfers mit einem AK-47-Gewehr in der Hand. In der Schweiz, so schrieb er, würde man ihn deswegen auch «Abu Radikal» nennen.
Doch meinten es die Winterthurer Salafisten auch ernst mit ihren Plänen oder schaukelten sich da ein paar postpubertäre Jungs gegenseitig hoch, um voreinander die Fassade der Coolness zu wahren? Eine Frage durchzieht den ganzen Prozess: Was wäre passiert, wenn Cem am 29. Oktober 2019 nicht verhaftet worden wäre? Wäre er tatsächlich zu einem Terroristen geworden?

Es ist eine Gerichtsverhandlung voller Konjunktive. Denn was Cem tatsächlich zur Last gelegt wird, wiegt im Grunde nicht allzu schwer. Er hat nie jemanden verletzt. Als er einmal Spenden sammelte, um in Syrien inhaftierten IS-Kämpfern zur Flucht aus dem Gefängnis zu verhelfen, kamen lediglich 151 Euro zusammen. Er hat niemanden mit dem Gedankengut des Islamischen Staates infiziert, der nicht selber bereits ideologisch gefestigt war. Sein Anwalt bezeichnet Cems ganzes Tun als einen «untauglichen Versuch», andere von seiner Ideologie zu überzeugen.
Wie schmal der Grat jedoch war, auf dem sich Cem und seine Freunde bewegten, zeigt etwa eine Beziehung, von der kürzlich der Sonntagsblick berichtete: Einer der jungen Männer aus Winterthur reiste 2020 nach Wien und traf dort einen Mann, der wenige Monate später bei einem Attentat in der österreichischen Hauptstadt vier Menschen erschoss und 23 verletzte. Cem selber entwickelte sich derweil mehr zum Cyber-Salafisten.
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Der Schaffhauser gründete eine Art Ein-Mann-Medienagentur und begann, Propagandavideos des IS zu bearbeiten und zu verbreiten, wobei er gemäss Anklageschrift «seinem Selbstverständnis als moderner IS-Soldat entsprechend, seine überdurchschnittlichen sprachlichen und technischen Fähigkeiten einsetzte, um fremdsprachliche Inhalte mit IS- und Al-Qaida-Propagandamaterial in die deutsche Sprache zu übersetzen». Bundesanwalt Spycher sagt, Cem habe sich zu einem «prominenten Aktivisten» mit einem «bedeutsamen Einfluss» entwickelt.
Dieser bestreitet nicht, täglich mehrere Stunden in seine kleine Medienagentur investiert zu haben, betont jedoch, dass er nur Videos mit religiösen Botschaften veröffentlicht habe. Die Hinrichtungsvideos, die man bei ihm gefunden habe, habe er lediglich mit Bekannten getauscht, um in der Winterthurer Salafisten-Szene gut dazustehen: «Ich fand es nicht toll, mir anzusehen, wie der Kopf wegfliegt. Diese Videos sind grausam. Und ich bin kein Terrorist», sagt Cem emotionslos. Ganz allgemein habe er zu jener Zeit «widersprüchliche Sachen» gemacht und zu vielen Themen keine fixe Meinung gehabt. Er habe ja gleichzeitig auch mit Christen und Juden verkehrt.
Das Bild des introvertierten jungen Mannes, der in einer schwierigen Coming-of-Age-Phase mit IS-Propaganda nach neuen Freunden suchte, erhält an diesem Verhandlungstag in Bellinzona aber dennoch immer neue Risse. Cems Radikalisierung begann schon bedeutend früher. Bereits 2015 hatte er sich an der umstrittenen Koran-Verteilaktion «Lies!» beteiligt, später wurde er zum Emir der Verteilaktion «Street Dawa» im Raum Schaffhausen ernannt. Laut der Bundesanwaltschaft gab er in einer Einvernahme zu, er sei damals in die Türkei gereist, worauf seine Mutter die türkische Polizei informiert habe, weil sie sich Sorgen gemacht habe, er könnte sich dem Islamischen Staat anschliessen. In Bellinzona bestreitet das die Mutter. Doch der Bundesanwalt hat noch einen weiteren Zeugen, der gehört haben will, wie die Mutter ihren Sohn bereits vor Jahren als «Daesh» bezeichnet habe, also als Mitglied des Islamischen Staats.
Cem hatte offenbar schon länger den Drang, sich im Heiligen Krieg zu engagieren. Und die Episode, die schliesslich zu seiner Verhaftung führte, zeigt, dass er wohl nicht vorhatte, das nur über den Bildschirm zu tun.
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Es waren österreichische Strafverfolgungsbehörden, die der Schweizerischen Bundeskriminalpolizei im Oktober 2019 den entscheidenden Tipp gaben. Eine minderjährige Frau in Österreich hatte ihrer Familie einen Abschiedsbrief mit dem Signet des IS hinterlassen, wenige Wochen nachdem sie im Internet einen jungen Schweizer kennengelernt hatte, der grosse Pläne schmiedete. In tausenden Chatnachrichten versuchte Cem, die junge Frau davon zu überzeugen, ihn nach islamischem Recht zu heiraten und mit ihm ins Herrschaftsgebiet des IS in Syrien auszureisen. Und offenbar rannte er bei der jungen Salafistin damit offene Türen ein.
Die Nachrichten, aus denen die ¨Bundesanwaltschaft in ihrer Anklageschrift zitiert, wirken bisweilen, wie wenn zwei Kinder ein verbotenes Abenteuer planten. Sie geben aber auch Einblick in Cems Weltbild: Er teilte der Frau etwa mit, dass er als Gotteskrieger das Recht habe, mehrere Frauen zu heiraten und sie das irgendwann auch akzeptieren werde. Ihm schien weniger an der jungen Frau gelegen zu haben als daran, dem IS eine weitere Kämpferin zu bringen.
Die geplante Ausreise nach Syrien ist der einzige Anklagepunkt, den Cem in Bellinzona bestreitet. Er sagt, er habe nie ausreisen wollen und das Spiel nur mitgespielt, weil er der Frau gegenüber nicht als «Angsthase» habe gelten wollen. Ausserdem habe er gehofft, dass er ihre Einstellung zum Heiligen Krieg dann schon ändern könne, wenn sie erst in einer Beziehung leben würden. Doch es fällt schwer zu glauben, dass Cem die durchgeplante Ausreise über Hamburg in letzter Sekunde gestoppt hätte, nachdem die Frau bereits ihren Reisepass im Spind der Schule deponiert und einen Abschiedsbrief verfasst hatte.
Nachdem am 29. Oktober 2019 die Handschellen klickten, gab sich Cem in den ersten Einvernahmen der Bundesanwaltschaft trotzig und wich kein bisschen von seinen radikalen Ansichten ab. Der junge Mann, der jetzt, dreieinhalb Jahre später, in Bellinzona auf der Anklagebank sitzt, gibt sich hingegen vollständig rehabilitiert und resozialisiert. «Heute ist der Dschihad für mich Geschichte», sagt er. Während der U-Haft sei er zur Besinnung gekommen.
Ob das stimmt? Bundesrichter Stupf fragt skeptisch, wieso Cem denn nicht an einem Deradikalisierungsprogramm teilgenommen habe und dieser antwortet einsilbig: «Ich fand, das brauche ich nicht.» Dann erzählt Bundesanwalt Spycher noch von einem Termin, bei dem sich Cem offenbar gleich in die nächste Bredouille manövrierte. Zu einer offiziellen Einvernahme sei er in einer Jacke mit dem Logo der Grauen Wölfe erschienen, einer rechtsextremistischen türkischen Terrororganisation. Bereits 2019 sagte Cem in einer Audionachricht, die die Bundesanwaltschaft ausgewertet hat, er sei früher Mitglied bei den Grauen Wölfen gewesen, es handle sich dabei um «türkische Nazis».
«Wo bleibt der erhoffte Lerneffekt?», fragt Bundesanwalt Daniel Spycher in seinem Plädoyer. Seine Anschauung, dass bei Cem «konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung der inneren und äusseren Sicherheit» vorliegen, würde im Übrigen auch das Bundesamt für Polizei teilen. Spycher beantragt eine Freiheitsstrafe von 48 Monaten und einen Landesverweis für zehn Jahre.
Verteidiger Beat Luginbühl hingegen sieht für seinen Mandanten eine «äusserst günstige» Prognose. Cem habe sich in einem Tunnel befunden, den er mittlerweile verlassen habe. Luginbühl beantragt eine bedingte Freiheitsstrafe von 30 Monaten ohne Landesverweis.
Das Urteil wird am 30. Mai bekanntgegeben.