«Keep eating. We’ll make more.»

5. Mai 2023, Simon Muster
Victor von Bruns-Strasse 19 in Neuhausen: bis 2014 eine Niederlassung des Pharmakonzerns Mallinckrodt. Robin Kohler
Victor von Bruns-Strasse 19 in Neuhausen: bis 2014 eine Niederlassung des Pharmakonzerns Mallinckrodt. Robin Kohler

Schmerzmittel wie Süssigkeiten vertickt und ein Medikament für Neugeborene masslos verteuert: Die Geschichte der ruchlosen Geschäfte der Firma ­Mallinckrodt – und ihres Sitzes in Neuhausen.

Der Schweiz steht ein heisser Abstimmungssommer bevor – und ein weiteres Mal stellt die internationale Gemeinschaft die Gretchenfrage: Schweiz, wie hast du’s mit dem Steuerwettbewerb? 

Der Geduldfaden ist bei der OECD inzwischen arg strapaziert. Weil Steuerparadiese wie Irland, der US-Bundesstaat Delaware oder die Schweiz seit Jahrzehnten mit ihren tiefen Unternehmenssteuern Konzerne aus anderen Ländern weglocken, hat die OECD eine Steuerreform beschlossen. Sie verlangt für Unternehmen mit einem Umsatz ab 750 Millionen Franken eine Mindeststeuer von 15 Prozent auf ihre Gewinne. Am 18. Juni stimmt die Schweizer Stimmbevölkerung über die Umsetzung der Reform ab.

Die Abstimmung steht auch hoch auf der Prioritätenliste der Schaffhauser Regierung: Zwar ist Schaffhausen nicht auf dem Niveau von Zug, aber auch hier liegt die Steuerbelastung bei 13,9 Prozent, also unter der neuen Mindeststeuer (AZ vom 26. Juni 2022). Dieser Standortvorteil fällt mit der Umsetzung der Reform weg – und bedeutet somit das vorläufige Ende einer Strategie, die sich für den Kanton Schaffhausen ausgezahlt hat. Über die letzten Jahrzehnte sind grosse Konzerne dem Lockruf der tiefen Steuern gefolgt – die Kassen von Kanton und Stadt sprudeln ungebremst. 

Doch neben den erfolgreichen Ansiedlungen – innovative Unternehmen mit vielen Arbeitsplätzen –, welche die kantonale Wirtschaftsförderung stolz auf ihrer Homepage präsentiert, ziehen tiefe Unternehmenssteuern auch schwarze Schafe an. Skandalumwitterte Konzerne, die sich für dicke Gewinne gerne auch mal am Rande der Legalität bewegen. Die AZ berichtete im Februar beispielsweise über die Schaffhauser Briefkastenfirma des kolumbianischen Ölkonzerns Ecopetrol, die bis heute Geld am grössten Korruptionsfall des Landes verdient (AZ vom 27. Februar 2023). 

Ab 2007 waltet an der Victor von Bruns-Strasse 19 in Neuhausen, ohne dass die Öffentlichkeit viel davon erfährt, ein milliardenschwerer Pharmakonzern – Mallinckrodt Pharmaceuticals. Hier versteckte er mutmasslich fast ein Jahrzehnt lang seine Gewinne und optimierte so seine Steuern, während er in den Vereinigten Staaten den Preis für ein Medikament für Neugeborene um über 90 000 Prozent in die Höhe trieb und Ärzte dafür einspannte, starke Schmerzmittel wie Süssigkeiten zu verteilen. 

Es ist die Geschichte eines ruchlosen Konzerns, aber auch eines Marktes, in dem Quartalszahlen wichtiger sind als Menschenleben. Und eines Steuerwettbewerbs, der das alles begünstigt.

Verschachtelt

Am besten erzählt man die Geschichte entlang der Preisentwicklung von Acthar, einem Medikament, das bei sogenannten Infantilen Spasmen – schwere epilepsieartige Muskelzuckungen bei Neugeborenen – helfen soll. 1952 wird das durchsichtige Gel, das in Fünf-Milliliter-Ampullen verkauft wird, zum ersten Mal in den Vereinigten Staaten zugelassen. Und schnell pendelt sich ein Preis ein: Über Jahrzehnte geht das Medikament für unter 40 US-Dollar über die Ladentheke. 

Auch noch 1998, als der Grundstein für eine Ansiedlung gelegt wird, die bis heute als  eine der wichtigsten in der Geschichte der Schaffhauser Wirtschaftsförderung gilt. Dann nämlich eröffnet der Brandschutz- und Sicherheitskonzern Tyco International in Schaffhausen eine erste Niederlassung in Schaffhausen, quasi als Vorbote: Elf Jahre später wird der Konzern seinen Hauptsitz zuerst nach Schaffhausen und dann Neuhausen verlegen. Noch heute hat Tyco einige Unternehmensteile in Neuhausen – der Hauptsitz ist aber den noch tieferen Steuern nach Irland gefolgt.

Tyco war in den 90er-Jahren mit dem Kauf von über 1000 Unternehmen zu einem riesigen Konglomerat angewachsen – und braucht 1998 eine Bank, mit der sie das Geld zwischen den einzelnen Unternehmensteilen herumschieben kann. Eine Firma, die sich Tyco in seinem Einkaufsrausch einverleibte: das amerikanische Chemie- und Pharmaunternehmen Mallinckrodt.

Auf der anderen Seite des Atlantiks findet auch eine Übernahme statt: Die kalifornische Firma Questcor kauft für 100 000 US-Dollar die Patente für das Medikament Acthar. Der Preis ist zu diesem Zeitpunkt auf 100 Dollar angestiegen. 

Tyco zügelt immer weitere Konzernteile nach Schaffhausen, wo die Unternehmenssteuern immer weiter purzeln. 2006 gründet das Tyco-Tochterunternehmen Mallinckrodt im Kanton Schaffhausen auch eine eigene Tochterfirma, die gemäss ihrem Zweck als eine unternehmensinterne Bank funktionieren soll. Steuervermeidung nach dem Prinzip russische Nestpuppe. 

Für solche komplizierte Konstrukte kennt der Kanton Schaffhausen zu dieser Zeit dank eines Steuerprivilegs mit dem klingenden Namen «Swiss Finance Branch» praktisch eine Nullbesteuerung. Die Idee dahinter ist simpel: Der Konzern schiebt seine Gewinne in die Schweiz zur Swiss Finance Branch. Diese vergibt Darlehen an den Mutterkonzern oder seine Teilfirmen, vor allem im Ausland. So wird aus Eigenkapital günstigeres Fremdkapital. In der Schweiz fallen dann nur noch Steuern auf die Zinsen der Darlehen an.

Und es wird noch ein wenig verschachtelter. Die Gesundheitssparte von Tyco – die Tyco ­Healthcare – spaltet sich 2007 unter dem Namen Covidien ab und mit ihm das Pharmaunternehmen Mallinckrodt, das sich in dieser Zeit vermehrt auf Schmerzmittel spezialisiert. Die neue Firma zieht von Basel an die Victor von Bruns-Strasse in Neuhausen. Eine Fünf-Milliliter-Ampulle Acthar kostet zu diesem Zeitpunkt bereits rund 1000 Dollar.

«Kingpin eines Drogenkartells»

Ab 2007 hat Covidien also eine Neuhauser Niederlassung – und mit ihr auch sein Tochterunternehmen Mallinckrodt. Diese zügelt die hauseigene Bank im selben Jahr von Schaffhausen ebenfalls an die Victor von Bruns-Strasse 19 in Neuhausen.

Es lohnt sich, die Neuhauser Jahre ein wenig genauer unter die Lupe zu nehmen. Auf der einen Seite ist es eine Ansiedlung aus dem Bilderbuch: 2009 hat das Unternehmen 42 000 Angestellte in über 60 Ländern und rund 11 Milliarden US-Dollar Umsatz, an der Victor von Bruns-Strasse arbeiten damals rund 70 Angestellte. Und man hat grosse Pläne: «Wir wollen einer der weltweit führenden Anbieter im Gesundheitsmarkt werden», sagt der damalige Leiter der Neuhauser Niederlassung Paul McDowell zu den Schaffhauser Nachrichten

In dieser Zeit entwickelt sich die Convidien-Tochterfirma Mallinckrodt zu dem ruchlosen Unternehmen, das die us-amerikanische Anti-Drogenbehörde 2010 als Spitze eines Drogenkartells aus Pharmaunternehmen bezeichnen wird, «das die Opioid-Epidemie befeuert hat». Und Mallinckrodt wird das Unternehmen sein, das den Preis von Acthar auf rund 40 000 Dollar hochtreiben wird. 

Aber der Reihe nach. Die Opidoid-Epidemie in den Vereinigten Staaten hat zwischen 2000 und 2022 über 270 000 Menschen dahingerafft. Die US-Gesundheitsbehörde beschreibt auf ihrer Webseite drei Phasen der Epidemie, die bis heute jährlich tausende Todesopfer fordert. Die erste Phase begann, als Ärztinnen in den 90er-Jahren immer mehr opioidhaltige Schmerzmittel verschrieben; Phase zwei, als viele, die wegen dieser Schmerzmittel zu Suchtkranken wurden, ihre Schmerzmittel mit dem stärkeren Opioid Heroin ersetzten und Phase drei, als auch Heroin zu schwach wurde und durch das synthetische Opioid Fentanyl ersetzt wurde. 

Es ist in ersten Phase, in der Mallinckrodt aggressiv Ärztinnen und Ärzte angeht und sie dazu bringt, zu viele opioide Schmerzmittel zu verschreiben. Zwischen 2006 – dem Jahr, in dem Mallinckrodt seine hauseigene Bank im Kanton Schaffhausen eröffnet – und 2014 entfielen, gemessen an der Potenz der Schmerztabletten, 27 Prozent des gesamten Opioidmarktes auf Mallinckrodt. Zum Vergleich: Auf den Pharmakonzern Perdue Pharma, der als Hauptschuldiger für die Epidemie gilt, entfielen in der selben Zeit 18 Prozent des Marktes. Das zeigt eine Analyse der Washington Post von 2022, die über 1,4 Millionen interne Dokumente von Mallinckrodt, E-Mails, Videoaufnahmen und Befragungen untersucht hat.

Mallinckrodt soll seine Vertriebsteams dazu gedrängt haben, Ärzte zu finden, die eine grosse Anzahl von Rezepten ausstellten. Der Konzern soll die Topperformer mit Prämien und ausschweifenden Ferien belohnt und jenen, die die vierteljährlichen Quartalszahlen nicht erreichten, gekündigt haben. Ärztinnen, die viel Schmerzmittel verschrieben, sollen tausende Dollar für Vorträge erhalten haben. Ein nationaler Verkaufsleiter schrieb 2009 in einem E-Mail an einen Lieferanten, Mallinckrodts Schmerztabletten seien wie Kartoffelchips: «Keep eating. We’ll make more.»

Mallinckrodt verwendete aber auch unkonventionellere Mittel, um seine Vertriebsmitarbeiterinnen zu agressiveren Verkaufstaktiken zu motivieren – der Konzern schreibt einen Reggea-Song: 

You can start at the middle, 
you can start at the top. 
You can start with very little 
but that’s not where you should stop.
Your patient needs relief, mon, 
so please do what you should.

Die aggressive Verkaufspraxis hatte ihren Preis: Gemäss der Generalstaatsanwaltschaft vom Bundesstaat Massachusetts erhielten 9673 Personen, die in den letzten zwölf Jahren an einer Überdosis im Bundesstaat starben, Mallinckrodt-Schmerztabletten. 2020 erkämpften über ein Dutzend Bundesstaaten, in denen die Opioide-Epidemie am stärksten wütete, einen gerichtlichen Vergleich: Mallinckrodt muss für seine Rolle über 1,725 Milliarden US-Dollar zahlen und Konkurs anmelden. Kurz bevor der Konzern dies bekannt gab, verkündete Mallinckrodt, dass die fünf Topführungskräfte einen Bonus von 5 Millionen Dollar erhielten. 

Goldgräberstimmung

Aber die Neuhauser Jahre von Mallinckrodt, die von 2007 bis zum Wegzug nach Schaffhausen 2014 dauerten, waren nicht nur von der Rolle des Konzerns in der Opioid-Krise geprägt.

2013 spaltet sich Mallinckrodt von Convidien ab und ist wieder selbstständig. Und wie einst Tyco beginnt auch Mallinckrodt zu expandieren, dank einem weiteren Steuertrick: der irischen Steuerumkehr. Im Fall von Mallinckrodt lief das so: Die Firma kauft ein verhältnismässig kleines irisches Pharmaunternehmen. Um die vergleichsweise hohen Unternehmenssteuern in den Vereinigten Staaten zu umgehen, gründet die neue, grössere Firma im Tiefsteuerland Irland neue Tochterfirmen. Das Geld, das die Mallinckrodt-Aktionäre so sparen, wird frei, um weitere Firmen zu kaufen. 

So holt sich Mallinckrodt 2014 Questcor, jene Firma also, die um den Jahrtausendwechsel die Acthar-Patente für 100 000 US-Dollar gekauft hatte. Über all die Jahre hatte Questcor den Preis der Fünf-Milliliter-Ampulle von 40 Dollar auf über 32 000 Dollar angehoben – ein Preisanstieg um 80 000 Prozent. Und Mallinckrodt wollte mitverdienen. Alleine in den ersten sechs Wochen nach dem Kauf von Questcor spülte das Medikament für Neugeborene Mallinckrodt 123 Millionen US-Dollar in die Kasse. 

In der Teppichetage herrschte plötzlich Goldgräberstimmung. Interne Kommunikation, die im Rahmen einer Untersuchung der Demokraten im US-Kongress öffentlich wurden, verdeutlichen dies. Eine Führungskraft kommentierte die eine Diskussion über den Preis von Acthar folgendermassen: «Unter dem Strich hat jede Preiserhöhung eine positive Auswirkung für uns. Es kommt einzig darauf an, mit welchem Preis wir uns in der Öffentlichkeit wohlfühlen. Ich persönlich würde ihn hoch ansetzen. Innerhalb der Preisspanne, in der wir uns bewegen, werden die Medien so oder so gleich reagieren.»

Und genau das passierte: Trotz öffentlicher Kritik von Patientinnen, Ärzten und Versicherungen hob Mallinckrodt den Preis um mehr als 8000 Dollar weiter an. Und weil die Boni der Führungsetage zu einem grossen Teil an die Gewinne des Konzerns gebunden waren, gab es auch keinen Grund, damit aufzuhören. Wie bei den opioiden Schmerzmitteln konnte Mallinckrodt dabei auf ein Netzwerk an Ärztinnen zählen, die Acthar für eine Vielzahl an Beschwerden verschrieben, die auch mit deutlich günstigeren Medikamenten hätten behandelt werden können. Das führte zur absurden Situation, dass Medicare, das US-amerikanische Sozialwerk für über 65-Jährige, zwischen 2015 und 2018 über 2,5 Milliarden Dollar für ein Medikament für Neugeborene ausgab. 

Als Novartis an einem günstigeren Konkurrenzprodukt tüftelte, kaufte Mallinckrodt die Rechte 2014 kurzerhand auf – und legte die günstige Alternative auf Eis. Bekannt wurde der Deal nur dank der Aussage von Martin Shkreli, einem US-Hedgefondmanager, der es zu internationaler zweifelhafter Berühmtheit gebracht hatte, indem er selber den Preis eines Medikaments gegen Toxoplasmose um über 5000 Prozent in die Höhe getrieben hatte. 

Der Trick, die günstige Konkurrenz zu kaufen und so zu eliminieren, war mutmasslich illegal: 2017 stimmte Mallinckrodt einem gerichtlichen Vergleich in der Höhe von 100 Millionen Dollar zu, um einer Verurteilung wegen Verstosses gegen das Kartellrecht zu entgehen. 

Immer noch hier

Im Februar 2022 beendete ein Richter das 16-monatige Konkursverfahren gegen Mallinckrodt und stimmte einem Reorganisationsplan zu, der es dem Konzern unter anderem erlaubt, 1,3 Milliarden Dollar an Schulden abzuschreiben. 

In all diesen Jahren blieb der Konzern, der einst als Teil von Tyco International in den Kanton Schaffhausen und nach Neuhausen kam, der Region treu. Heute besitzt Mallinckrodt noch eine Zweigniederlassung und zwei Holdinggesellschaften in der Stadt Schaffhausen. 

Die hauseigene Bank, mit der alles begann und die mutmasslich dafür gebraucht wurde, Gewinne aus dem US-Geschäft in Neuhausen zu bunkern, wurde im Mai 2019 aufgelöst; fast genau ein Jahr, nachdem der Bundesrat angekündigt hatte, dass das passende Steuerprivileg «Swiss Finance Branche» bald auslaufen werde.